Eilandfluch

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Im Grunde genommen, kannte niemand Thorsten in seiner Gesamtheit. Mona war mit dem kultivierten Lebemann zusammen. Seine Mitarbeiter kannten ihn als gnadenlosen Pedant und Workaholic, sein Vater sah in ihm mittlerweile eine bedrohliche Konkurrenz. Er war nicht mehr der einzige in der Familie, der es zu etwas gebracht hatte. Sein Königsthron wackelte, und das schmeckte ihm gar nicht. Für seine oberflächliche Mutter war Thorsten noch immer das semmelblonde Bübchen, das sie einst zur Welt gebracht hatte. Geschwister gab es keine.

Und heute saß er mit Menschen am Konferenztisch in der neapolitanischen Liegenschaftsbehörde der Regione Campania, die ihn von seiner härtesten Seite kennenlernen sollten – derjenigen als Verhandlungspartner und Geschäftsmann.

»Ja, Sie haben richtig gehört. Ich beabsichtige, La Gaiola samt Immobilie zu erwerben. Wobei es sich bei letzterer eher um eine Ruine handelt. Ich biete Ihnen somit die Chance, den verfluchten Klotz am Bein loszuwerden – aber im Kaufpreis müssen Sie mir weit entgegenkommen, schließlich ist die Insel derzeit nicht bewohnbar«, startete Sasse die Verhandlungsrunde.

Battaglia saß entspannt neben ihm, die Finger über dem fetten Wanst verschränkt. Mit dem eloquenten Verhandlungsgeschick des Deutschen hatte er selbst schon unliebsame Bekanntschaft gemacht, als es um die Prozente der Geschäftsanteile für sein Investment gegangen war. Ein unglaublich harter Brocken, dieser Thorsten. Dass er sich bereits im Kampfmodus befand, konnte man am hellwachen Adlerblick erkennen.

»Gibt es dort drüben Stromund Wasserversorgung?«, fragte er gerade.

»Sicher, seit den 1920-er Jahren liegt ein Stromkabel auf dem Meeresgrund, das die beiden Inselhälften mit dem Energienetz des Festlandes verbindet. Ein Wasserrohr führt ebenfalls hinüber, allerdings führt es keinen allzu hohen Druck«, nickte einer der italienischen Beamten.

Innerhalb der folgenden zweieinhalb Stunden erfuhr Thorsten alles Wissenswerte über die Liegenschaft, die er zu erwerben im Begriff stand. Einiges davon verwendete er als Argument, um den Kaufpreis zu drücken. Am Ende stand eine stolze Summe im Raum: eineinhalb Millionen Euro. Die Neapolitaner hatten eigentlich zwei gewollt. Und er hatte die Behörde dazu gebracht, die Notarkosten vollständig zu übernehmen.

Beim Hinausgehen wischte sich Enzo Battaglia den Schweiß von der Stirn. Ihm war bei den Verhandlungen heiß geworden, obwohl in Neapel jetzt, Ende Oktober, sehr angenehme Temperaturen herrschten.

»Und nun verrate mir endlich, was dich dazu bewogen hat, eine verfluchte Insel im Ausland zu kaufen. Da hast du dir eine Menge Arbeit und Kosten ans Bein gebunden, mein Junge! La Gaiola ist derzeit nur per Boot erreichbar, was bedeutet, dass man keine Baumaschinen dorthin schaffen kann.«

Thorsten grinste überheblich, reichte seinem Geschäftspartner ein frisches Papiertaschentuch.

»Nur die Ruhe, mein Lieber. Denkst du, das wüsste ich nicht? Ich sehe diese Insel bereits vor meinem geistigen Auge, so wie sie nach den aufwändigen Renovierungsarbeiten aussehen wird. Klar, ich muss sicher nochmals eine Million hineinstecken, oder sogar etwas mehr.

Aber was besitze ich danach? Meine eigene Insel in Europa, darauf eine feudale, historische Villa – und das auch noch mitten in einem Tauchparadies, in direkter Nachbarschaft antiker Kulturstätten. Wer kann sowas schon von sich sagen, wer kann sonst eine solchermaßen faszinierende Residenz sein eigen nennen? Inklusive einer äußerst bewegten Vorgeschichte?

Zudem ist mir die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher, denn jeder wird begierig darauf warten, dass der Fluch wieder zuschlägt. Was er aber nicht tun wird, da bin ich sicher. Ich bin nicht einfältig genug, jede Kleinigkeit in diese Richtung zu interpretieren. Diese kleine Insel wird innerhalb der nächsten Monate zu einem steinernen Schmuckstück, und wenn das neue Portal nur halbwegs läuft, habe ich gewonnen. Basta.

Das Tolle daran ist, dass ich dort endlich meine Ruhe haben werde. Niemand kann die Insel betreten, ohne dass ich es weiß und möchte. Sie ist wie eine Burg, verstehst du? Da nehme ich ein paar Unbequemlichkeiten gerne in Kauf.

Falls ich Villa und Insel im Alter wieder veräußern will, wird der Fluch bis dahin längst vergessen und die Liegenschaft mindestens das Dreifache wert sein. Und da fragst du noch allen Ernstes, wieso ich zugeschlagen habe?«

*

Andrea Frantini kippte den Inhalt seiner Schubkarre auf eine für Bauschutt vorgesehene Halde, die am Rande des Plateaus langsam aber stetig emporwuchs. Der Job auf dieser winzigen Insel bedeutete pure Knochenarbeit, da man keine Kräne oder Lastwagen einsetzen konnte. Sein Polier bei der Baufirma hatte diese Tatsache am vergangenen Montag mit den Worten: Ist doch eine schöne Abwechslung. So seht ihr mal, wie die Leute früher schuften mussten und lernt die gute, alte Handarbeit vielleicht sogar schätzen quittiert.

Mit einem süffisanten Lächeln um die Mundwinkel war er pfeifend davon geschlendert. Andrea hätte diesem arroganten Großmaul am liebsten eine reingehauen. Leider brauchte er den Arbeitsplatz, um seine Frau und vier Kinder durchzufüttern.

Seit dreieinhalb Tagen beschäftigte sich der Fünfundvierzigjährige nun mit dieser sogenannten guten, alten Handarbeit, die er selbst allerdings eher als unterbezahlte Sklavenmaloche bezeichnet hätte. Seine Laune war inzwischen nicht besser geworden, ganz im Gegenteil. Der kühlfeuchte Westwind, der im Spätherbst unablässig welkes Laub über das Eiland fegte, ließ einen trotz körperlicher Arbeit bis auf die Knochen frieren.

Zum Glück hatte der neue Eigentümer der stark verfallenen Villa bislang nur eine Grundrenovierung in Auftrag gegeben, die es erlauben sollte, das Inselgelände samt Gebäude ohne Gefahr für Leib und Leben zu betreten. Zudem musste selbstverständlich der herumliegende Schutt entsorgt werden, genau wie das meterhoch wuchernde Unkraut. Er tröstete sich einstweilen mit der Aussicht, dass diese Aufträge voraussichtlich innerhalb weniger Monate erledigt sein dürften.

»Mann … dass mich der Alte ausgerechnet auf diese Baustelle schicken musste! Ich hätte viel lieber an der Renovierung in der Via Arpino mitgearbeitet. Dort in der Nähe gibt es eine klasse Imbissbude, und ich hätte nicht weit nach Hause gehabt. Aber hier? Keine Straße, keine Brücke. Man braucht ein verdammtes Boot, um zum Festland zu gelangen. Wetten, dass wir am Ende den Schutt in unzähligen Eimern mit dem Flaschenzug runterschaffen und verladen dürfen?

Ganz schön blöd und vor allem schade für uns, dass so ein stinkreicher Fatzke aus bella Germania die Insel gekauft hat und im nächsten Sommer mit Sack und Pack in diese Einöde ziehen will. Der weiß ja wahrscheinlich nicht einmal, worauf er sich da einlässt!«, moserte Andrea, temperamentvoll mit Händen und Füßen gestikulierend.

»Was meinst du denn damit?«, hakte der um drei Jahre ältere Bertoldo Cattabiani nach, der ebenfalls gerade eine Fuhre ablud. Der aufsteigende Baustaub ließ beide Männer husten und fluchen. Ein jäher Windstoß aus westlichen Richtungen fegte die weißliche Staubwolke im Nullkommanichts davon.

»Dieser Typ soll mehrere Millionen im Internet gemacht haben. Der wird sich hier draußen wohl kaum einsam fühlen, sondern ständig mit der Nase am Bildschirm kleben. Man munkelt, dass er eventuell wieder eine Seilbahn bauen lassen will, wie sie hier schon früher einer der Vorbesitzer installieren hatte lassen. Vielleicht besitzt er sogar einen Hubschrauber. Bei solchen Typen spielt Geld doch keine Rolle.«

»Ach was! Es ist mir doch vollkommen egal, ob dieser tedesco hier glücklich wird oder eines Tages womöglich dem berüchtigten Inselfluch zum Opfer fällt. Aber was mich angeht – ich will so schnell wie möglich wieder weg sein«, knurrte Andrea übellaunig. Er verschränkte seine Arme vor der breiten Brust.

Berto hielt in seiner Bewegung inne, grinste breit.

»Ha ha, daher weht also der Wind! Du hegst Schiss wegen der lächerlichen Ammenmärchen über la isola maledetta, wenn ich nicht irre. Für so abergläubisch hätte ich dich als gläubigen Katholiken gar nicht gehalten«, frotzelte Cattabiani kopfschüttelnd.

»Ich und Angst – vergiss das so schnell, wie es dir eingefallen ist!«, behauptete Andrea großspurig. Er richtete seinen Oberkörper gerade auf und drückte die Knie durch, um trotz seiner bescheidenen Eins zweiundsiebzig größer zu wirken.

»Aber es gibt trotzdem mysteriöse Dinge zwischen Himmel und Erde, die niemand erklären kann. Ich bin einfach nur vorsichtig, schließlich habe ich Familie«, fügte er hinzu.

»Die habe ich ebenfalls, wie du weißt. Meines Erachtens sind die alten Geschichten nichts als dummes Gerede, über Generationen weitergetratscht von unbedarften Weibern. Ach, komm schon, konzentrieren wir uns lieber wieder auf den Job. Je früher wir hier fertig werden desto schneller bist du von der Insel des Grauens runter.«

»Rindvieh, respektloses!«

Das Augenzwinkern verriet Berto, dass sein Freund und Kollege letzteres nicht gar so ernst gemeint hatte. Er knuffte ihn mit seinem rindsledernen Arbeitshandschuh kumpelhaft in die Seite, bevor er seine Schubkarre aufs Neue in Richtung des alten Gemäuers schob. Zum x-ten Male an diesem Tag.

Kurz vor Feierabend erzählte Andrea ihm eine der haarsträubenden Geschichten, die ›man‹ über die Zwillingsinsel so hörte.

1831

Am Rande der Gesellschaft

»La Gaiola ist schon bewohnt gewesen, noch bevor diese Villa erbaut wurde. Während später hauptsächlich feine Pinkel die Insel besaßen, hatte sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein bettelarmer Einsiedler auf der Insel eingenistet. Er hauste dort ohne Strom und Wasser, das muss man sich mal vorstellen. Der gute Mann konnte sich am Festland nicht mehr blicken lassen, weil die Leute ihn fürchteten.

 

Man nannte ihn den Hexenmeister, seit er mit seinem Wissen über Kräuter und Tinkturen ein paar Leuten drüben in Posillipo das Leben gerettet hatte. Man begegnete ihm zuerst mit Dankbarkeit, später mit Vorbehalten.

Undank ist der Welt Lohn, wie du weißt. Kaum waren die Kranken gesundet, wurde hinter vorgehaltener Hand Negatives über den Quacksalber getuschelt. Von düsteren Ritualen war die Rede und davon, dass er mit dem Teufel im Bunde stehe. Wahrscheinlich waren aber einfach die ortsansässigen Mediziner sauer, dass ein ungebildeter Handwerker vollbracht hatte, wozu sie nicht fähig waren. Diese Neider müssen es auch gewesen sein, die jene garstigen Gerüchte in Umlauf gebracht haben, welche ihn schließlich vertrieben.

Ein Übriges tat offenbar das Aussehen des ehemaligen Tischlers. Meistens zauselig und ungewaschen, passte er einfach nicht in das Bild eines ehrbaren Bürgers. Er wurde auf offener Straße angespuckt und verspottet, niemand nahm mehr seine Heilkünste in Anspruch oder gab ihm sonstige Arbeit.

Als er nach einem tätlichen Angriff auch noch um sein Leben fürchten musste, schwamm er die paar Meter nach La Gaiola hinüber und lebte fortan dort, allerdings mehr schlecht als recht. Eine kleine Hütte diente ihm als Unterschlupf. Er hatte sie sich aus Treibgut und Müll zusammengeschustert.

Bevor er ging, stieß er vor der am Strand versammelten Bürgerschaft noch eine Drohung aus. Er habe dieser Gesellschaft so viel Gutes getan, und nun müsse sie ihm etwas zurückgeben, wenn sie ihn schon aus ihrer Mitte verstoße. Jeden Tag solle man ihm von nun an Fisch, Brot und Wasser liefern, sodass er auf dem kargen Eiland überleben könne. Falls nicht, werde er von seinen besonderen Kräften Gebrauch machen und schreckliche Rache üben.

Von diesem Tag an brachten ihm die Fischer abwechselnd das Gewünschte, stellten die Almosen schnell auf der kleinen ebenen Fläche vor der Grotte ab – und verschwanden schleunigst wieder. Bald schon kursierten jedoch neue Gerüchte über den Hexenmeister. Von eigenartigen Ritualen am Lagerfeuer war die Rede, von Gemurmel und schauerlichem Geheul. Was immer zu dieser Zeit am benachbarten Festland an Unglücken geschah, wurde automatisch den Verwünschungen dieses Mannes zugeschrieben.

Das ging über vier Jahre lang so, bis eines stürmischen Wintertages Fisch, Brot und Wasser nicht mehr vom Fuße der Insel abgeholt wurden. Man wartete eine Woche ab, dann wagte sich ein Trupp bewaffneter Männer auf das Eiland, zusammen mit einem Pfaffen. Sie fanden den Einsiedler tot in seiner Hütte. Es hieß, der Teufel persönlich habe die Seele seines Vasallen heim geholt.«

Berto Cattabiani fuhr sich nachdenklich durch sein schütteres, straff zurückgekämmtes Haar.

»Also, wenn du mich fragst … ich persönlich glaube eher, dass der geächtete Einsiedler auf diesem zugigen Felsbrocken schlicht und einfach erfroren oder krank geworden, womöglich an einer Grippe gestorben ist. Diese abergläubische Bagage vom Festland hat ja alles drangesetzt, um ihm den Garaus zu machen. Dass der Kerl einen wirksamen Fluch ausgesprochen hat, halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Er spielte nur mit den Ängsten der Leute, was ich an seiner Stelle wahrscheinlich genauso gemacht hätte. Oder er führte vor lauter Frust Selbstgespräche, die von den einfachen Gemütern fehlgedeutet wurden«, winkte er ab.

»Magst ja vielleicht Recht haben«, räumte Andrea ein. »Aber es gab schon weit vor der Sache mit dem Einsiedler Vorkommnisse. Damals hat die Insel noch nicht einmal La Gaiola geheißen.«

»Und die wären?«

»Im Jahre 1379 soll dort eine Galeere im Sturm Schiffbruch erlitten haben, regelrecht an der Insel zerschellt sein. Die angeketteten Sklaven ertranken wohl hilflos an den Rudern. Und von einem U-Boot, das 1916 dort in der Nähe gesunken sein soll, habe ich auch gehört. So viele arme Seelen … «

Berto grinste schelmisch.

»Aha, sehr interessant. La Gaiola als Schiffsfriedhof. Und wie soll die havarierte Galeere mit einem Fluch zusammenpassen, der nach deiner Geschichte erst Jahrhunderte später von diesem Einsiedler ausgesprochen wurde?«

»Ach, keine Ahnung! Ich meine ja nur ganz im Allgemeinen, dass wir vorsichtig sein sollten.«

Andrea wurde ärgerlich, setzte seine staubige Kappe auf und wollte mit verkniffener Miene davongehen. Doch Bertos rechte Hand schnellte vor und hielt ihn am Ärmel fest.

»Da stimme ich zu. Komm, sei mir nicht böse. Jetzt ist hier sowieso Feierabend für heute. Gehen wir ein Bier trinken. Sonst heißt es später noch, der Inselfluch hätte es fertiggebracht, zwischen uns beiden Hübschen Zwietracht zu stiften.«

*

Ende April 2015 war es soweit. Der Bautrupp aus Neapel zog ab, und Thorsten Sasse konnte mit dem Polier sein Reich begutachten. Am neu angelegten Badeund Bootssteg, der sich nahtlos dem abgeflachten Felsvorsprung an der Basis des bebauten Inselteils anschloss, stieg der Jungmillionär aus dem Motorboot. Neben stabilen Metalltoren und einem Alarmsystem neuester Generation war seitlich der steilen Treppe, die nach oben zum Plateau führte, ein Handlauf angebracht worden. Außerdem war der gesamte Weg hinauf zur Villa jetzt mit indirekter Beleuchtung ausgestattet. Solarzellen speisten unzählige LED-Lampen mit Energie. Von weitem sah es aus, als würden Glühwürmchen eine Kette bilden.

»Sie müssen Ihr Personal anweisen, die Lichter regelmäßig zu putzen. Salzige Seeluft und feiner Sand bilden hier draußen binnen weniger Tage eine milchige Schicht, und dadurch nimmt die Helligkeit stetig ab«, riet der stämmige Italiener.

Der obere, erheblich breitere Teil der Treppe endete in einem kleinen rechteckigen Gebäude am äußersten Eck dieser Inselhälfte, dessen dicke Außenmauern direkt mit der steilen Felswand abschlossen. In früheren Zeiten hatte es unterschiedliche Funktionen inne gehabt, mal als Unterkunft für Hausangestellte gedient, mal als Empfangspforte und gelegentlich auch als profaner Geräteschuppen.

Letzteres führte auch der neue Eigentümer im Sinn. Im Augenblick jedoch stand das Häuschen leer, beherbergte lediglich ein paar übriggebliebene Zementsäcke. Die würden die Arbeiter später wieder brauchen können.

Durch eine bislang noch türlose Maueröffnung gelangte man auf ein mit roten Steinen gepflastertes Rondell, das einen wunderbaren Ausblick zur gegenüberliegenden Steilküste bot. Über einen schnurgeraden, mit Mäuerchen gesäumten Pfad konnte man in Richtung des Hauptgebäudes gehen, außerdem gelangte man von hier aus zu einem schmalen Steg, der die beiden Inselhälften miteinander verband. Dieser war bereits renoviert und mit Geländern versehen worden.

In diesem Bereich würde in Zukunft ein gepflegter Garten mit Springbrunnen entstehen, aber noch wucherten dort Wildpflanzen und verkrüppelte Pinienbäume. Im Laufe dieses Sommers sollte das mit den Außenarbeiten beauftragte Gartenbauunternehmen anrücken, ein automatisches Bewässerungssystem installieren und die Grünanlage streng nach Feng-Shui-Kriterien gestalten. Das hatte sich Mona gewünscht.

Hinter der Villa gab es geräumige Terrassen. Eine von beiden, nämlich die untere, halbrunde würde dem Swimmingpool weichen müssen, nahm Thorsten sich vor. Rechts neben dem Gebäude befand sich eine weitere kleine Terrasse, und die sollte später Platz für ein luxuriöses Barbecue bieten.

Sasse musste kurz innehalten, ihm war ein wenig schwindelig geworden. Schwer atmend, setzte er sich auf ein Mäuerchen.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«

»Es geht schon wieder, danke der Nachfrage. Ich habe heute vor lauter Stress wahrscheinlich zu wenig getrunken, und jetzt das Treppensteigen … «, winkte der Bauherr ab. Schwäche zu zeigen, lag ihm nicht.

»Na dann. Einer meiner Leute litt hier oben auch gelegentlich an leichten Schwindelanfällen. Wahrscheinlich hing das nur mit seiner Höhenangst zusammen. An manchen Stellen geht es hier sehr steil nach unten. Nicht jedem gefällt das.«

»Kann sein. Gehen wir weiter, es ist schon wieder vorüber.«

Sasse und der Verantwortliche der Baufirma betraten die Villa durch den Hintereingang.

»Wir haben sämtliche Innenmauern entfernt, die keine tragende Funktion hatten, so wie Sie es wollten. Sie können die Raumaufteilung somit völlig neu gestalten. Kritische Bereiche sind mit mobilen Stahlträgern abgestützt, die Zimmerdecken zum Schutz vor herabfallendem Material alle mit engmaschigen Netzen gesichert. Das Dach haben wir nur ausgebessert, aber die Unterkonstruktion ist noch recht brauchbar. Später wollen Sie alles mit diesen neuartigen Solarziegeln verkleiden lassen, wie ich hörte?«

»So ist es. Man wäre ja hierzulande blöd, die kostenlose Sonnenenergie nicht zu nutzen«, bestätigte Sasse.

Corrado Lombardo überging die arrogante Bemerkung zähneknirschend. Sonst hätte er nämlich erwidern müssen, dass sich eben leider nicht jeder Mensch solche teuren Spielereien leisten könne. Also weiter im Text.

»Die Treppen zum ersten Stock sind zum Schutz vor Unfällen erst einmal komplett abgesperrt. Wir haben aber an den fünf Fenstern, die zum Vorplatz hinausgehen, provisorisch Fensterläden angebracht. Der alte Putz an der Fassade wurde mitsamt den scheußlichen Graffiti entfernt, sodass momentan der Naturstein wieder zu sehen ist. Sie können später entscheiden, ob das künftig so bleiben soll«, erklärte der Polier geduldig.

»Aha, sehr gut. Das gesamte Areal muss ja für die Präsentation eine halbwegs ansehnliche Kulisse hergeben, nicht wahr? Super gelöst! Und was ist mit den beiden vorgelagerten Villenflügeln links und rechts? Sind die begehbar?«

»Kommen Sie bitte mit, ich zeige es Ihnen gerne. Einen davon dürfen Sie als Lagerraum für Getränke und ähnliches verwenden, aber den anderen konnten wir in der Kürze der Zeit nicht mehr herrichten.«

Auf Sasses hoher Stirn bildete sich eine steile Falte. Was erdreistete der Mann sich eigentlich? Er durfte den Raum verwenden? Ihm lag eine gesalzene Retourkutsche auf der Zunge, doch in allerletzter Sekunde besann er sich noch eines Besseren und schluckte sie hinunter. Er benötigte die Dienste dieses unverschämten Kerls weiterhin, und außerdem leistete er mit seiner Truppe hervorragende Arbeit. Er sollte die heruntergekommenen Inselchen wieder in ein modernisiertes Gesamtkunstwerk, ein wertvolles Kleinod verwandeln.

Niemals wichtige Geschäftspartner oder fähige Untergebene vergraulen, solange man sie noch braucht, rief er sich ins Gedächtnis zurück.

»Na schön, damit sollten wir einstweilen klarkommen. Und die drei runden Arkadenbögen werden meinen Gästen ungehinderten Einlass ins Innere bieten, sehr schön.«

»So ist es. Den großen Baum auf der rechteckigen Grünfläche haben wir einstweilen stehen lassen, er bietet erstens Schatten und zweitens hätte der Stumpf sonst die Optik gestört.«

»Das macht momentan Sinn. Später möchte ich dort aber eine Palme haben, und aus der hässlichen eckigen muss eine runde, etwas kleinere Fläche werden«, verfügte der Hausherr selbstbewusst. Der Polier machte sich Notizen auf seinem Smartphone.

»Und die Vertiefung in dem Rondell vorne am Felsvorsprung, was sehen Sie dafür vor?«

Thorstens Blick glitt schwärmerisch an die beschriebene Stelle, die quasi den Bug der Insel bildete. Er hatte den künftigen Anblick bereits deutlich vor seinem geistigen Auge stehen.

»Das Eck schreit geradezu nach einem Whirlpool mit kleiner Bar, finden Sie nicht?«

»Aber sicher, ausgezeichnete Idee«, meinte sein Begleiter höflich und notierte auch dieses Detail. Insgeheim hegte er jedoch negative Gedanken, die mit Dekadenz und einem eingebildeten, verwöhnten Affen zu tun hatten.

»Und die zweite Inselhälfte?«

»Darüber mache ich mir erst konkrete Gedanken, wenn diese perfekt ist. Ein Schritt nach dem anderen, lieber Signore Lombardo. Ihr Boss wird schon genug an mir verdienen, keine Sorge. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, da drüben ein Geschäftsgebäude hinzustellen, auch an eine kleine Seilbahnstation hätte ich gedacht. Das ist aber alles noch Zukunftsmusik.«

Während Sasse und Lombardo die isola maledetta kreuz und quer abschritten, arbeiteten drei versierte Programmierer nahezu Tag und Nacht am neuen Internetportal. Der Tag der Präsentation rückte näher, und es stand noch eine ganze Reihe von Tests aus. Der Projektleiter wusste: Ein kleiner Fehler, und Thorsten Sasse würde ihm gnadenlos den Hintern aufreißen.

 

*

Cremeweiße Sonnensegel flatterten in der lauen Meeresbrise. Links und rechts des zentralen Eingangsportals zur Villa hatte der neue Hausherr fünf Meter lange Banner mit dem blau-rot-gelben Firmenlogo auf Aluminiumgestelle schnüren und an der Mauer befestigen lassen. Das bis auf die tragenden Wände entkernte Hauptgebäude erinnerte derzeit eher an eine Ruine denn an eine Wohnstatt. Wegen der fehlenden Fenster mussten manche Betrachter unwillkürlich an ein Gewirr von Arkadengängen aus Naturstein denken.

Genau das war für den heutigen Verwendungszweck geradezu ideal. Die illustren Gäste konnten nach Herzenslust mit ihren Drinks im Schatten der Bedachung herumspazieren und staunend über den späteren Ausbau des Gebäudes spekulieren. Alte Gemäuer wie dieses brachten selbst noch in der heutigen Zeit viele Menschen zum Träumen und Gruseln.

Wo lag einst der geräumige Salon, und in welchem dieser Räume mag sich einer der früheren Hauseigentümer das Leben genommen haben, bevor man seine Leiche in einen wertvollen Seidenteppich wickelte und bei Nacht und Nebel von der Insel schaffte?

Solche Fragen beschäftigten die Anwesenden, ob sie nun zum Personal oder den Gästen gehörten. Jeder schien ein paar Details der alten Geschichten zu kennen, doch niemand konnte das große Ganze überreißen.

Überall auf dem Festgelände standen runde Stehtische verteilt, über die passgenaue Hussen drapiert waren. Am unteren Drittel des jeweiligen Standfußes war der schneeweiße, dezent schimmernde Damast mit riesigen Schleifen dekorativ zusammengerafft. Darunter glänzte polierter Chrom.

Zwei Fernsehteams, ein deutsches und ein italienisches, hatten in einer der hinteren Ecken des Anwesens ihr Equipment für die Übertragung abgestellt. Hier befand sich auch die provisorische Schaltzentrale für die Veranstaltungstechnik, wo die elektrischen Kabel sämtlicher Installationen in einem Strang zusammenliefen. Die Soundanlage wurde soeben aufgebaut.

Im Raum daneben stellten flinke Helfer das zehn Meter lange Buffet auf, schoben dazu mehrere Tische in Reihe. Sie dekorierten die so entstehende Tafel mit den gleichen schneeweißen Damast-Tischdecken, wie sie auch über den Stehtischen steckten. Daneben stand eine Reihe silbrig glänzender Champagnerkübel bereit, die auf ihre Eisfüllung warteten. Es gab noch viel zu tun, die Zeit drängte.

Zurzeit gab es auf der Insel noch keinerlei sanitären Anlagen. Allein mit Muskelkraft waren daher sechs italienische Pendants zu den guten alten Dixie-Klos auf den Felsen geschleppt worden, eines nach dem anderen. Die hässlichen hellgrauen Plastikhäuschen standen jetzt, abgelegen auf einer der hinteren Terrassen, in Reih und Glied. Teilweise wurden sie von herabhängenden Jasminzweigen verdeckt. Die Pflanze wucherte flächig über eine der wuchtigen Mauern, die zum Meer hin bündig mit dem Felsplateau abschlossen und das Areal abstützten.

»Das sorgt dann gleich für gute Luft, wenn die Blüten nachts ihren Duft verströmen«, hatte einer der Arbeiter beim Aufstellen gewitzelt.

Am oberen Teil der Frontfassade der Villa hatte man ein großes weißes Tuch aufgespannt. Es würde nach Sonnenuntergang als Projektionsfläche für die Präsentation dienen. Rund um die beiden Inselhälften steckten im Abstand von wenigen Metern Partyfackeln im Boden, die das feierliche Szenario bei Nacht stimmungsvoll erleuchten, für ein mystisches Ambiente sorgen sollten. Leider hatte Thorsten nirgends Feuerschalen auftreiben können. Die hätten sicher wesentlich mehr hergemacht.

Momentan war noch helllichter Tag. Möwen kreischten, erste Badegäste der neuen Saison tummelten sich am Fuße der Inseln. Ab und zu cruiste ein überdachtes Motorboot mit der Aufschrift Aquavision an den Mini-Inseln vorüber. Touristen gafften. Vermutlich war dies eines der modernen Dinger mit Glasboden, die es den Leuten ermöglichten, trockenen Körpers die Unterwasserwelt mitsamt ihren versunkenen römischen Ruinen zu bestaunen.

Stolz wie Oskar stand Gastgeber Thorsten Sasse inmitten des Tumults aus jungen Servicekräften, Presseleuten, ersten Gästen und den Lieferanten vom Edel-Cateringdienst, welche Platten mit auserlesenem Fingerfood anlieferten. Drei gemietete Motorboote warteten am gegenüberliegenden Strand darauf, Gäste zur Insel zu befördern.

Ab und zu brüllte er Anweisungen oder legte selbst Hand an, um das aufwändige Event exakt nach seinem Willen geraten zu lassen. Zog hier ein Fältchen glatt, polierte dort einen Fingerabdruck vom Sektkelch. Jede Kleinigkeit musste perfekt sein, darauf legte er allergrößten Wert. Eine logistische Meisterleistung, diese Präsentation. Hoffentlich pokerte er nicht zu hoch.

Zwischendurch streifte sein Blick wohlwollend über das spiegelglatte, im Sonnenschein glitzernde Meer und die leuchtend violettfarbenen Bougainvilleas, die einige der Bruchsteinmauern aus verwittertem Sandstein dekorativ überwucherten. Mannshohe Fächerpalmen, in semitransparenten Kunststoffkübeln von einem Meter Durchmesser, sorgten für mediterranes Flair. Letztere konnte man von der Innenseite her per Knopfdruck auf einer Fernbedienung in sieben verschiedenen Farben beleuchten. Heute Abend würden sie in feurigem Rot und geheimnisvollem Royalblau erstrahlen, nahm Thorsten sich vor.

Zweifellos die perfekte Kulisse für diese Art Veranstaltung. Selbst das Wetter spielt heute mit. Alles richtig gemacht, Thorsten. Der Teufel soll dich holen, wenn der Abend kein voller Erfolg wird, dachte der erfolgsverwöhnte Yuppie selbstbewusst.

Mona, seine Freundin und baldige Lebensgefährtin, stolzierte auf schwindelerregend hohen Plateausandalen herbei. Sie balancierte elegant ein verschnörkeltes Silbertablett mit zwei Gläsern Rotwein vor ihrem sehenswerten Busen.

»Bevor du nachher zu sehr belagert wirst, wollte ich unbedingt auf gutes Gelingen und die nächste Million mit dir anstoßen«, gurrte die bildschöne Sechsundzwanzigjährige kokett.

Wenn du wüsstest, mein rassiges Zuckerschnittchen, dachte Thorsten amüsiert und betrachtete seine Holde von oben bis unten. Das schwarzhaarige, fast einen Meter achtzig große Model war eine Augenweide, ein wandelnder Blickmagnet. Wo immer die langbeinige Schönheit auftauchte, verstummten augenblicklich die Gespräche, waren alle Augenpaare auf sie gerichtet. Gebräunte, nahezu kupferfarbene Haut, eine makellose Figur, dazu schmale, perfekt manikürte Hände und Füße … ihr gesamtes Erscheinungsbild erinnerte ein bisschen an Walt Disneys Indianerprinzessin Pocahontas, einschließlich des wilden, stolzen Blicks aus – in ihrem Fall – leuchtend grünen, leicht schräg gestellten Katzenaugen.

Er würde zweifellos der meistbeneidete Mann dieses Abends sein, so wie immer und überall.

Mona sollte mit ihrer Einschätzung über den weiteren Verlauf dieses wegweisenden Abends Recht behalten. Schon kurze Zeit später war Thorsten von Menschentrauben umgeben. Man fragte ihm schier Löcher in den Bauch, wenn auch zu seinem Ärger weniger über die bevorstehende Präsentation als vielmehr über den albernen Inselfluch. Eine hypernervöse ältere Dame wollte gar wissen, ob er hinreichend für Sicherheit gesorgt habe.

Sicherheit, ha! … Gegen Geister etwa?

Am liebsten hätte er diese schmallippige Fregatte mit eigenen Händen von der Klippe geworfen. Es wurde alles andere als einfach, die hagere Nervensäge wieder loszuwerden. Sie verbiss sich in das Thema wie ein Dackel in die nackte Wade.

»Wieso ist eigentlich der Steg zur anderen Inselhälfte mit einer Kette abgesperrt? Es sind doch bereits zu beiden Seiten Geländer angebracht worden. Befürchten Sie etwa doch Unfälle übernatürlicher Ursache?«, fragte sie ungerührt. Inzwischen standen fünf weitere Gäste da, lauschten interessiert der Unterhaltung.