HUNDE JA-HR-BUCH EINS

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Geschichten von Hunden und ihren Menschen


So kam der Hund zu den Menschen

Vor vielen, vielen Jahren lebten Menschen und Tiere noch friedlich zusammen. Doch eines Tages, als sich der große Graben – der Grand Canyon – bildete, sammelten sich die Menschen auf der einen Seite des Grabens und alle Tiere auf der anderen. Der Riss in der Erde wurde immer breiter und tiefer. Da, im allerletzten Augenblick bevor der Graben zu einem tiefen, breiten Canyon wurde, nahm der Hund einen großen Anlauf und sprang hinüber zu den Menschen.

„Ich gehöre doch zu euch!“, rief er ihnen fröhlich zu. Seit dieser Zeit leben Hund und Mensch zusammen.

Eine Sage der Navajos, nacherzählt von Heinz Penndorf

Inhalt

Cover

Titel

So kam der Hund zu den Menschen

Auch Träume haben ihren Preis

Helga Franziska Noack

A wie Adressbuch

Shirley Michaela Seul

Borek

Stania Jepsen

Der Geburtstagsteddy

Heinz Penndorf

Huskys sind keine Wölfe und Geißlein gibt es nicht im Chinese Take-Away ... Oder doch?

Andrea Feder

Frisörtermin

Elke Parker

Die Lachs-Tortellini

Hans-Jürgen Mülln

Mitfresser und andere Plagen

Petra Braig

Ein Hund gefällig?

Judith Schmidt

Do you speak „Kätzisch“?

Hannelore Nics

Liebeserklärung an einen Mischling

Martina Belzer

Kamerad

Stania Jepsen

Der Jahrestag

Shirley Michaela Seul

Emma – harte Schale, weicher Kern

Hans-Jürgen Mülln

Ernie

Karin Oehl

Ein Hund der Sprachlosigkeit

Andrea Feder

Magische Momente

Elke Parker

Bruder Leichtfuß

Karin Hutter

Die Autorinnen und Autoren

Die Reihe HUNDE JAHRBUCH (Anthologie)

Impressum

Auch Träume haben ihren Preis
Helga Franziska Noack

Es war wie ein wunderschöner Traum: Urlaub in einem Haus direkt am Meer. Wildromantisch, mit eigenem Garten hoch oben auf den Klippen. Außer einer Finca in der Ferne kein anderes Haus weit und breit. Das war es. Ich lag im Liegestuhl und las mich durch die zahlreich mitgebrachten Bücher. Fantastisch! Die Uhr wurde abgelegt und das Handy ausgeschaltet. Ich existierte nur noch für mich und genoss die zeitlose Zeit.

Nun war ich schon fünf Tage in das Urlaubsglück abgetaucht. Ich fühlte mich leicht und lebendig wie das Windspiel zu Hause am Küchenfenster. Meine morgendlichen Spaziergänge am nahe gelegenen Meer waren Erholung pur. Jetzt war der Strand menschenleer und der richtige Ort zum Bewegen und Nachdenken. Ist es nicht wunderbar, diese Wochen an solch einem idyllischen Fleckchen Erde zu verbringen?, dachte ich und freute mich, dass der Zeitvorrat groß genug war. Immerhin lagen noch mehr als drei Viertel meines Urlaubs vor mir.

Ein Rascheln in den Mastixsträuchern oberhalb des Strandes riss mich aus meinen Gedanken. Doch es war nichts zu sehen und ich spazierte weiter. Aber dann war es wieder da, dieses Geräusch – näher, ich blieb abrupt stehen. Nein! Wie ein Schauspieler auf die Bühne sprang er aus dem Gebüsch, blieb stehen, sein schwarzer Rücken duckte sich kurz, dann setzte er sich auf, observierte mich mit einem Pokerface und einem Ausdruck, der verriet: Alles Weitere ist offen.

Mit einem Mal schnellte er los und flog geradlinig wie ein Pfeil auf sein Ziel los. Und das war ich. Der Hund, jung und mittelgroß, begrüßte mich so überschwänglich, als würde er mich schon seit ewigen Zeiten kennen. Ich wollte ihm diese Illusion nicht nehmen, streichelte und kraulte ihn und spielte eine Weile mit ihm. Dazu holte ich vom Ufer ein angeschwemmtes Wurzelstück, das er fangen und zurückbringen sollte. Ich weiß nicht, wie lange das ausgelassene Spiel dauerte. Als ich mich von ihm verabschiedete, ermahnte ich ihn wie ein kleines Kind: „Jetzt lauf aber ganz schnell nach Hause.“ Ich setzte voraus, dass der Vierbeiner meine Muttersprache auch verstand. Er tat auf alle Fälle wie befohlen und verschwand wieder in den Sträuchern.

Bei meinem Spaziergang am nächsten Tag war ich wiederum ganz allein mit der Stille. Nur in der Ferne gurgelte ab und zu der Motor einer Llaut. So heißen die Boote der wenigen Fischer, die es hier noch gibt. Dann war es wieder still, kein Geräusch, kein Ton in der herbstlich sanften Morgenwelt.

Bald war ich wieder an dem Platz, an dem wir uns am Vortag getroffen hatten. Ein angenagter Wurzelstock erinnerte an unser Spiel. Die Spuren im Sand waren vom Wind und von den Wellen glatt gebügelt. Weit und breit waren kein Mensch und auch kein Tier zu sehen. „Na, gut! Sie hat wieder heimgefunden“, sagte ich zu mir – ich wusste ja inzwischen, dass der Hund eine Hündin war. Und tatsächlich war es so! Als ich nach zwei Stunden Wanderung zu meiner Bleibe kam, war sie schon da, saß am Gartentor, als hätte ich sie bestellt: Sie, die schwarze Mischlingshündin, mit ihrem undurchdringlichen Fell und ihrem bis zur Seele durchdringenden Blick. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was meine ersten Gedanken bei dieser zweiten Begegnung waren. War es Überraschung oder Erleichterung? Wie hatte sie hierher gefunden? Hat sie jemand hier ausgesetzt? Zufällig, so wie man einen Euro findet, fand sie mich? Nein! Sie sah mich und sprang mir mit einem Satz in die Arme – und in mein Herz. Und das öffnete sich wie eine Gazanie in der Mittagssonne. Ohne mich zu fragen, begleitete sie mich bis zur Haustür. Hier blieb sie für einen Moment stehen. Dann setzte sie sich, wartete ganz höflich, aber das Schlüsselloch fixierend: „Sperr endlich auf!“

Von da an gingen wir unsere Wege gemeinsam: Lili und ich. Am selben Nachmittag fragte ich vorsichtig in der Dorfwirtschaft, ob jemand einen Hund vermisse. „Ach, was“, meinte der Wirt, ein bärtiger, alter Knochen, „wird wohl einem der Landarbeiter gehört haben, die zur Mandelernte über die Insel ziehen. Die vergessen schon mal einen Hund, wenn auf der Rückreise das Auto zu voll wird.“ Sonst fehle seines Wissens niemandem hier ein Vierbeiner.

Am Tag darauf war ich bei der Polizei und fragte halbherzig nach, ob diese „perra“ vermisst werde. Verächtlich schaute der Polizist auf Lili hinunter. Lili wendete den Blick zur Seite. Das tun wir Menschen auch, wenn uns jemand zu penetrant fixiert. „Este perro?“, vergewisserte er sich. „No, no!“

Dann lachte er laut. Was ich etwa so interpretierte: Der Hund? Wem soll der schon fehlen! Obwohl ich über seine Auskunft sehr erleichtert war, empfand ich sie als Beleidigung, für Lili und auch für mich.

Ich bin nicht sicher, welche Rassen sich in Lilis Genen getroffen haben. Vielleicht ein Labrador und ein Pastor Mallorquin. Auf alle Fälle ist sie lieb, anschmiegsam, intelligent, ein bisschen gefräßig – und für mich der schönste Hund überhaupt. Ja, Lili wedelte sich mit ihrem ganzen Charme über meine Träume, meine Pläne und direkt in mein Leben. Aber man ist schließlich flexibel! Und wie heißt es doch gleich wieder: Es gibt keine Zufälle, nur Fügungen? Also fügte ich mich und das auch noch ziemlich bereitwillig.

Die erste Nacht sollte meine Gefährtin auf der Terrasse schlafen, damit sie über die Gartenmauer wieder zurück in ihr gewohntes Leben gekonnt hätte. Als sie jedoch zu jammern begann, ließ ich sie ins Haus. Ich quartierte sie in den vorhandenen Holzkorb ein und ging zurück ins Bett. Kaum eine halbe Stunde später – ich war gerade eingeschlafen – stupste mich eine kalte Hundenase wieder wach. Fräulein Hund verspürte unendlichen Hunger nach Zuwendung. Ich wartete auf meinen Zornesausbruch, doch ich setzte mich auf den Boden und tat, was sie verlangte.

 

Von nun an war ich der gute Mensch und befolgte alles, was sie wollte. Die neue Urlaubswirklichkeit war da. Und sie wurde von Lili wie ein Gummiband einmal hierhin, dann wieder dorthin gezogen.

Jetzt gehörten die meisten meiner Urlaubsstunden ihr. Ihr gehörten auch die Henkel meiner Tasche und die Bänder meiner Schuhe. Nur ihr neues, teures Körbchen gehörte ihr nicht. Sie mied es wie ein Nomade das Reihenhaus und schlief im engen Holzkorb neben meinem Bett.

Mein Handy hatte ich wieder eingeschaltet: Um einen Impftermin beim Tierarzt zu vereinbaren, bei der Fluggesellschaft einen Rückflug mit Hund reservieren zu lassen, mein Zuhause auf den neuen Alltag mit Lili vorzubereiten und um sie bei der Haftpflichtversicherung anzumelden. Denn vom Mietliegestuhl hatte meine Kleine bereits die Beine angeknabbert, während ich mich für ein paar Augenblicke in ein Buch vertiefte. Aber sie war ja erst so kurze Zeit bei mir und konnte das alles noch nicht wissen!

„Wenn wir erst zu Hause sind, musst du natürlich erzogen werden, du süßer Tyrann! Dann werde ich mich über dich stellen und Gesetze und Normen für dich einführen“, sagte ich zu ihr.

„Oder vielleicht weiß ich dann selbst, was für mich richtig ist?“ Sie schaute mich mit ihren Bernsteinaugen an und ihr Blick war unergründlich und tief wie ein alter Brunnen auf einer mallorquinischen Finca.

Alles hatte sich damals geändert. Nur meine Uhr lag noch wie am ersten Urlaubstag im Badezimmer. Lili zeigte mir ohnehin, wann welche Stunde geschlagen hatte: Die Zeit zum Spielen, die Zeit zum Fressen, die Zeit zum Gassigehen … Aber wenn sie neben mir saß, während ich aufschrieb, was ich alles für sie zu erledigen hatte, war ich glücklich.

Und so ist es geblieben. Wenn ich sie streichle, ist es immer noch, als streichle ich meine Seele. War das nicht Grund genug, ein Stück der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit aufzugeben? Urlaubszeit inbegriffen?

Ja, auch Träume haben ihren Preis. Und selbst wenn sie mit vier schwarzen Pfoten daherkommen, können sie dem Leben ganz schön viel Farbe geben.

A wie Adressbuch
Shirley Michaela Seul

Mona hörte es vom Bett aus. Sie wusste nicht, seit wann das Geräusch andauerte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment liegen. Und hoffte. Vielleicht war es ja nur die Zeitung. Die Zeitung, die neben den Schuhen lag. Zum Schuheausstopfen hatte sie die gebraucht. Das ganze Wochenende war ein Wetter, bei dem nicht mal Hunde raus wollten. Bis auf eine Ausnahme: Luna.

Seufzend, aber schwungvoll stand Mona auf. Genauso schnell tappte die Labradorin die Treppen hoch und erwartete Mona am Aufgang zur Galerie. Vor Freude außer sich. Bloß weil Mona aufstand. Über Nacht war Luna wieder ein paar Zentimeter gewachsen. Mona versuchte, am Gebaren der Hündin etwas abzulesen. Doch Luna benahm sich wie immer. Sprang hoch, jaulte und wedelte mit dem Schwanz, als müsste sie die ganze Stadt mit Strom versorgen.

Mona hielt das Morgenritual kurz, ging die Treppe runter und um die Ecke – und dann sah sie es. Sie hatte recht behalten. Neben dem Kamin stand ihre Aktenmappe. Wie befürchtet. Sie hatte vergessen, sie wegzuräumen. Und sie war offen. Auch das hatte Mona befürchtet. Eine Katastrophe schien allerdings nicht passiert zu sein: Die Präsentation war unversehrt. Keine Spur von Fetzen ihrer Wochenendarbeit. Mit einem schnellen Griff kontrollierte Mona den Inhalt der Aktenmappe, besonders die Klarsichtfolie mit den Notizen, die Max heute Vormittag abtippen und bis zwölf Uhr fertig haben sollte. Aber – das Adressbuch! Auf den ersten Blick konnte man sich täuschen, doch es lag seltsam verdreht und in sich zusammengesunken obenauf. Mona nahm es zur Hand. Es war fast dreieckig. Dreieckig gestutzt. Gebissen. Mona schlug es auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus einem Winkel. Luna hatte ordentliche Arbeit geleistet. Bei A begonnen. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich aus, als fehlten nur die Seiten mit A. Mona packte die Hündin, schimpfte und setzte sie in ihren Korb, wo sie die Fetzen von A fand. Sie sammelte sie ein. Ein paar Zahlen ohne Zusammenhang. Sie legte sie auf den Küchentisch. Sie bereitete Kaffee zu. Sie zündete sich eine Zigarette an, obwohl sie normalerweise nie vor dem Frühstück rauchte. A fehlte. A wie Anatol, das war sehr bedauerlich, A wie Amanda, das war eine Katastrophe, A wie Arthur, ein Glücksfall, A wie Armadon, die konnten sich an sie wenden, A wie Annette, die war auch dran, sich zu melden, A wie Alex, den hatte sie ausfindig gemacht nach seinem letzten Umzug, A wie … Mona fiel nichts mehr ein. Sie schloss die Augen. Sah die Seiten vor sich. A wie Atlas, die hatten ihre Adresse, A wie Agnes, schade, weil sie Agnes, die Weltenbummlerin, höchstens über ihre Eltern … Wo wohnten die noch mal? A wie Armin. Armin zum Beispiel. Hatte sie fast vergessen. War ihr nicht auf Anhieb eingefallen. Dabei hätte sie Armin gestern noch als einen ihrer besten Freunde bezeichnet. Merkwürdig. Über Nacht vergessen. Lag das vielleicht daran, dass sie seine Telefonnummer gespeichert hatte? Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach einem Treffen mit Armin das Gefühl gehabt hatte, es wäre ein rundum schöner, lohnenswerter Abend gewesen? Hatte sie das überhaupt schon mal gehabt? Bestimmt war A kein unersetzlicher Buchstabe. A sollte nicht als beispielhaft gelten. A war ein dummer Zufall. B hätte ein Desaster bedeutet. Wer stand noch mal unter B? Nein, B war ein schlechtes Beispiel. B war ja auch als Buchstabe nicht ernst zu nehmen. Ziemlich weit vorne, aber doch im Schatten des ewig Ersten. Nein, es gab viel zu viele Leute, die hießen Bauer oder Berger oder Beate. Mindestens fünf Frauen namens Beate kannte Mona bestimmt, da war sie sicher, auch wenn ihr im Moment keine einfiel. S wäre ein Unglück gewesen!

Nachdenklich ging Mona ins Bad. Sie wusste, dass sie fünf volle Seiten S im Adressbuch hatte. Sie bekam nicht mal eine zusammen. Am besten, sie legte ein neues Buch an. Vielleicht gleich elektronisch, so wie es jetzt alle hatten. Das ist nicht die Lösung, hörte sie ihre innere Stimme. Um diese Zeit wollte sie keine Sprechstunde abhalten. Man musste doch nicht immer aus allem ein Problem machen. Sie war über dreißig und da hatte sich im Lauf des Lebens allerhand angesammelt. Schrott und Verwertbares. Auf jeden Fall zu viel, viel zu viel. Hin und wieder geschah es, wenn auch seltener als früher, dass Mona eine Freundschaft angetragen wurde, sich ein Mensch um sie bemühte. Sie reagierte dann mit Panik. Bitte bloß keine neuen Freunde, sie kam ja nicht mal mit denen zurecht, die sie seit Jahren kannte, dauernd hatte sie Freundschaftsschulden, musste wo anrufen, sollte sich hier und da melden und mit der ins Kino, mit dem Skifahren und mit der Wasserskifahren ausprobieren, um Gottes Willen, bitte keine neuen Bekanntschaften! Manchmal, wenn Mona irgendwo warten musste, blätterte sie in ihrem Terminplaner ein halbes Jahr nach vorne, dorthin, wo außer den Geburtstagen fast nichts stand, höchstens mal ein Seminar oder ein Jubiläum. Viel Weiß. Darin weidete sie sich eine wohltuende Weile. Die meisten ihrer Freundschaften waren alte Gewohnheiten. Klar hatte sie Zeit für ihre Freundin Vroni, wenn die mal in der Stadt war, schließlich war sie mit Vroni zur Schule gegangen, und Vroni zu treffen bedeutete, sich zu vergewissern, dass die eigene Vergangenheit tatsächlich passiert war. Als Zeitzeugin reichte Vroni. Da musste nicht auch noch Bessi dazu. Obwohl – wenn Vroni sterben würde, hätte sie Bessi, aber Bessi konnte sie auch reanimieren, wenn sie sie brauchte. Brauchen. Wen aus diesem fetten Adressbuch brauchte Mona? Durfte sie im Rahmen ihrer ethischen Ideale ihr Adressbuch und brauchen überhaupt in einem Satz nennen? Sollte sie zwei Adressbücher führen? Eines fürs Business und eines privat? Und wo war die Grenze? Durfte man sich privat brauchen? Oder meinte sie mit brauchen gebrauchen können? War Monas Adressbuch eine Cholesterindeponie? Unsere Mona Hilgenberger ist nach langem Kampf tragisch und von uns allen unbemerkt innerlich und äußerlich an Freundschaft verschieden.

Es waren nicht nur die Vronis, die alte Garde sozusagen, die zum Glück nicht mehr in der Stadt wohnten. Hatten alle weggeheiratet, da konnte Mona sich nicht beschweren. Hatten auch alle Kinder bekommen und waren deshalb ziemlich beschäftigt, derzeit mit ihren Scheidungen. Es waren eher die von irgendwo aus der Welt und ihre sporadischen Besuche. Dazu jene, mit denen sie bekannt war, die sie gelegentlich traf. Dagegen war nichts einzuwenden, so lautete die Spielregel: sich gelegentlich melden, telefonieren, mal ein Kärtchen aus dem Urlaub und ab und an ein persönliches Treffen. Wenn nun aber ein solches Treffen in eine Woche fiel, wo schon eine Vroni und eine Durchreise angekündigt waren, und dann vielleicht noch einer der fixen Termine, die wirklich wichtig waren – waren sie das? Musste sie ihre beste Freundin Andrea tatsächlich einmal in der Woche sehen? Gut, sie hatten es manchmal ausfallen lassen, aber im Prinzip galt einmal die Woche, wenn auch nur auf zwei Stunden. War das nötig? Und wenn sie es bei Andrea schon bedachte, dann sollte sie es erst recht bei Melanie und den anderen bedenken. Die traf sie alle drei bis vier Wochen, war das nötig?

Außerdem brauchte sie Zeit zum Schwimmen und für das Fitnessstudio und donnerstags Yoga und einmal in der Woche wollte sie verdammt noch mal zu Hause sein. Ein bisschen rumputzen, ein bisschen fernsehen, vielleicht alte Briefe sortieren oder die Blätter der Palmen polieren. Wenn ich all diese Menschen nicht mehr treffen müsste, dachte Mona, … ich muss sie ja nicht treffen, dann könnte ich öfter zu Hause sein. Mit dem Hund spazieren gehen, dafür habe ich ihn mir doch angeschafft. Endlich mit dem Rauchen aufhören, weil ich nicht mehr in Kneipen rumhängen muss. Ich könnte lesen und mich bilden, Italienisch lernen. Ich könnte mehr Geld verdienen und zwar spielend. Ich könnte öfter in den Urlaub fahren, weil ich nicht dauernd Termine hätte, die meine Urlaubsplanung stören. Was würde mir fehlen? Mona seifte sich ein. Mit der Vanillelotion, ein Geschenk von Sonja. Die Vanillelotion könnte sie sich auch selbst kaufen, würde sie aber nicht, da sie Vanille nicht mochte.

Mona schlug auf den Hebel der Dusche, ging, ohne sich abzutrocknen, ins Wohnzimmer, nahm das Adressbuch zur Hand, warf es neben Lunas Fressnapf zu Boden und ließ sich ein Orangenblütenbad einlaufen.

Borek
Stania Jepsen

Es kostete sehr viel Mühe, eine Bescheinigung von der Polizei zu bekommen, damit man sich in der Grenzsperrzone aufhalten durfte – damals, in den Jahren tiefster kommunistischer Diktatur in der Tschechoslowakei.

Ich bekam die Erlaubnis als unbescholtener Bürger und konnte meinen Onkel in den Ferien besuchen. Ich wohnte in der Stadt, in Prag, und brauchte Landluft. Er hatte seinen Bauernhof in der Grenzsperrzone. Unzählige Kontrollen musste ich passieren und mühsame Fahrverbindungen, auch zu Fuß, auf mich nehmen, bis ich endlich auf Onkels Bauernhof ankam.

Unser Wiedersehen war sehr herzlich. Abends ging ich wegen der Strapazen früh ins Bett.

Am nächsten Tag fuhr die ganze Familie früh morgens aufs Feld und ich blieb zurück auf dem Hof, zusammen mit einem ausgiebigen Frühstück und dem Hund meines Onkels. Es war ein herrlicher, warmer Sommer, wie geschaffen für meine Erholung. Meine einzigen Aufgaben bestanden darin, in der frischen Luft zu spazieren, gut zu essen und lange zu schlafen.

Schon beim ersten Frühstück schloss ich Freundschaft mit dem Hund. Er war ein liebes Schmusekerlchen, sah aus wie eine Münsterländer-Bernhardiner-Kreuzung und brachte fast fünfzig Kilo auf die Waage. Es stellte sich bald heraus, dass er sehr aufmerksam und klug war. Wir durchstreiften gemeinsam die Umgebung. Es waren sehr schöne Tage mit Borek, so hieß dieser große, starke Kerl. Ich war so mager, dass es leicht für mich war, auf ihm zu reiten. Dann tippelte er ins Feld und schmiss mich ins Korn.

Bald bekam ich den Auftrag, auf Borek aufzupassen, denn er war ein Streuner. Mein Onkel beklagte sich, dass der Hund tagelang verschwinden würde, dann käme er dreckig und ausgehungert zurück und kein Mensch wüsste, wo er sich rumgetrieben hatte. Er ginge wohl auf Brautschau. Ich wunderte mich nur, wo in dieser Gegend eine Hündin sein konnte. Weit und breit wohnte hier kein Mensch, nur die Grenzposten waren da. Die hatten zwar Hunde, aber an diese kam ein anderer Hund nicht heran. Irgendwann war Borek wieder einmal auf Tour. Mein Onkel drohte mit einem Stock: „Wenn der zurückkommt!!! Der kommt an die Kette!“ Borek kam nach zwei Tagen in einem schrecklichen Zustand nach Hause. Er war dreckig, hungrig und auf seinem Rücken hatte er blutende Wunden, die aussahen, als hätte er sich an einem Stacheldraht gerissen. Mein Onkel ließ Borek im Hof mit einem Wasserschlauch abspritzen, gab ihm Futter und Wasser und band ihn an die Kette.

 

Am nächsten Tage winselte Borek im Hof herzzerreißend. Mir tat er leid und ich ließ ihn laufen. Auf dem Dach des Hauses war ein kleiner Turm mit einer Glocke. Ich nahm Onkels Feldstecher, der noch aus dem Krieg stammte, und beobachtete Borek, wohin er ging. Seine Schwanzspitze ragte über den Weizen und ich konnte sehen, dass er in Richtung Wald pirschte und darin verschwand. Ich dachte, er würde wildern gehen. Mit dem Feldstecher konnte ich über den Grenzstreifen auf die ersten westdeutschen Dorfhäuser schauen. Auf einmal sah ich Borek auf der Straße. In voller Größe tippelte er an den Häusern vorbei. Der Hund ging auf Brautschau – hinter dem eisernen Vorhang!

Das kann nicht wahr sein!, dachte ich voller Entsetzen. Zwischen Westdeutschland und der Tschechoslowakei war nicht nur ein Drahtzaun, der elektrisch geladen war, sondern auch der Todesstreifen mit dem Minenfeld. Außerdem patrouillierten ständig Grenzwachposten mit scharfen Hunden. Borek wog fünfzig Kilo. Nicht einmal ein Hase konnte über die Minen gehen. Man hörte sie oft explodieren, wenn Wildwechsel war. Wie kam der Hund ungesehen zur anderen Seite? Ich konnte es nicht begreifen und bekam höllische Angst, dass er erschossen werden könnte. Mein Onkel hätte mich umgebracht, weil ich Borek trotz strikten Verbotes von der Kette befreit hatte!

Ich wartete mit zitternden Knien auf die Rückkehr der Familie vom Feld und betete zum lieben Gott, dass Borek ungeschoren zurückkehrte. Kurz vor dem Onkel kam er, mit wedelndem Schwanz, als wäre nichts geschehen. Ich band ihn sofort an die Kette und war heilfroh, dass niemand wusste, was sich am Tage abgespielt hatte.

Diese und die folgenden Nächte schlief ich sehr schlecht. Die Geschichte mit Borek ging mir nicht aus dem Kopf. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Tausende von Menschen riskierten ihr Leben, um zu flüchten, und unser Borek ging und kam, wann immer er wollte! Es gab also eine Möglichkeit, über die Grenze zu kommen, Borek war der Beweis. Ich hätte meinen Onkel fragen können, aber dann hätte er gewusst, dass ich Borek frei ließ. Ich hütete also dieses Geheimnis und behielt es für mich. Eines Tages fällte ich eine Entscheidung! Ich wollte Borek von der Kette lassen und mit ihm gehen. Der Gedanke ließ kalten Schweiß auf meinem ganzen Körper ausbrechen, aber ich fieberte dieser Chance entgegen. Ich durfte sie nicht verpassen. Das System in unserem Land war mir verhasst.

Die Nacht vor meiner Flucht schlief ich gar nicht mehr. Ich war die Erste am Frühstückstisch und lauerte auf die Abfahrt der Familie ins Feld. Ich versteckte meinen Ausweis und die Grenzgenehmigung unter meinem Hemd, nahm Proviant für mich und Borek mit, band ihn los und gab ihm den Befehl: „Geh zum Hundchen! Geh!“ Borek schaute mich an, als ob er mich verstehen würde, ging los und ich dicht hinter ihm.

Die Waldstrecke bis zum Grenzzaun war sehr mühsam. Über Stock und Stein und durch Sumpf und Sträucher kamen wir schließlich zu einem kleinen Felsen, an dem der Drahtzaun ungefähr einen halben Meter hoch über dem Boden hing. Borek und ich krochen nacheinander auf die andere Seite. Auf einem Matschfeld, mit Sträuchern bewachsen, ging ich dicht hinter dem Hund, genau in seinen Pfotenspuren. Ich ahnte, das musste vielleicht das Minenfeld sein, und achtete genau darauf, nirgendwo anders hinzutreten, als Borek es tat. Ich wog ja nicht mehr als er und wenn er nicht in die Luft ginge, überlebte ich es auch.

Endlich kamen wir auf eine kleine Wiese und ich setzte mich erschöpft hin. Borek legte sich neben mich und leckte meine blutenden, zerkratzten Beine. Ich wusste noch nicht, wo wir uns befanden, deswegen deutete ich meinem Begleiter unentwegt mit dem Zeigefinger an, er solle still sein. Nach einer Weile gingen wir weiter. Ein paar Meter vor uns tauchten die ersten Dorfhäuser auf, die ich durch das Fernglas beobachtet hatte. Ich ahnte zwar, dass wir uns schon im Westen befanden, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. In Gedanken bereitete ich eine Frage vor für den Fall, dass uns jemand begegnete. Auf der Straße, fast vor dem ersten Haus, kam uns eine Frau entgegen, der ich meine Frage auf Tschechisch stellte: „Können Sie mir bitte den Weg zu dem Bauernhof sagen?“ Ich zeigte mit dem Finger in Richtung des Hauses meines Onkels. „Ich habe mich bei der Suche nach dem Hund verirrt!“

Die Frau schaute mich an, als hätte sie ein Gespenst getroffen. Sie huschte an mir vorbei und verschwand ohne Antwort in dem Haus. So eine unfreundliche Person, dachte ich für mich und ging mit Borek weiter. Am nächsten Haus stand in großen Buchstaben „ZOLL“. Ich gab mir einen Ruck und klopfte an die Tür.

„Herein!“, donnerte es von innen.

Ich öffnete und trat ein. In einem spärlich eingerichteten Zimmer saß ein Herr in Uniform hinter dem Schreibtisch.

„Guten Tag, können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Bauernhof meines Onkels komme? Ich habe mich bei der Suche nach dem Hund verirrt“, trug ich erneut meine vorbereitete Frage in tschechischer Sprache vor.

Der Mann sah mich genauso an wie die Frau vorher auf der Straße. Mit weit aufgerissenen Augen musterte er mich und auch Borek von Kopf bis Fuß.

„Tschechin?!“, fragte er mich, mit dem Finger in Richtung Tschechoslowakei zeigend. „Von dort??“

„Ja“, sagte ich und ging zur Wand, an der ein Waschbecken mit einem Spiegel angebracht war. Ich wollte sehen, warum jeder vor mir so erschrocken war.

Mein Gott!, dachte ich. Ein Gespenst hätte besser ausgesehen als das, was mich vom Spiegel aus anstarrte. Zerzauste Haare mit abgebrochenen Baumzweigen darin, überall blutende Kratzer und auf den Oberarmen hingen Blutegel. Ich ekelte mich vor mir selbst und begann zu schreien. Dann versagten meine Beine. Zitternd vor Angst fiel ich zu Boden. Der Mann telefonierte schnell irgendwohin und kam danach zu mir. Er hob mich hoch, setzte mich auf einen Stuhl und redete leise auf mich ein. Ich verstand zwar fast kein Wort, aber nach dem Klang seiner Stimme wusste ich, dass er mich zu trösten versuchte.

„Es ist ja schon gut. Sie sind in Sicherheit. Sie sind in Westdeutschland.“

Geschafft!, dachte ich und erst dann überfiel mich der Schock der ausgestandenen Angst und ich begann, am ganzen Körper zu zittern.

Zwei Grenzbeamte kamen nach einer Weile in das Zimmer. Einer von ihnen sprach einwandfreies Tschechisch, er tröstete mich und entfernte die Blutegel. Ich konnte nicht aufhören zu weinen – das aber war schon vor Freude. Der Mann fragte mich, wie um Gottes willen ich über die Grenze gekommen sei. „Der Hund“, sagte er, „ist uns bekannt. Man sieht ihn öfters hier streunen.“

Ich erzählte ganz genau Boreks und meine Geschichte, dabei lachte und weinte ich abwechselnd. Am Ende gingen wir alle zu dem Platz, an dem ich aus dem Wald herausgekommen war. Die Beamten machten sich kurze Notizen und dann kam der Abschied von Borek. Ich küsste und umarmte ihn und bedankte mich bestimmt hundertmal für seine Hilfe, dabei kullerten mir die Tränen über das Gesicht.

Borek wusste nicht, was los war; er winselte, leckte mir die Tränen aus dem Gesicht und wedelte mit dem Schwanz. Es war ein rührender Abschied. Dann schickte ich ihn zurück mit den Worten: „Lauf, Borek! Geh nach Haus!“ Nach mehrmaligem Umdrehen verschwand er im Wald. Ich erfuhr später, dass er heil nach Hause gekommen war und immer wieder ausgerissen ist.

Am selben Nachmittag fuhr ich mit den Beamten in die nächste Kreisstadt. Nach meiner Übergabe an die Kollegen, bei denen ich schon telefonisch angekündigt worden war, sagte einer meiner Begleiter: „Die ist wie aus dem Himmel gefallen!“

So war die Geschichte meiner Flucht aus der Tschechoslowakei damals. Und die größte Rolle in meinem Leben spielte das Tier. Ich danke dir, Borek!

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