Doktor Robert

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Doktor Robert
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Markus Vieten

Doktor Robert

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Prolog

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Impressum neobooks

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Für Wolfgang.

Prolog

Wie lang er selbst wohl noch hatte? Keine schöne Frage, aber angesichts des kalten, dunklen Lochs, das sich vor ihm auftat, war dieser Gedanke unausweichlich. Es hatte sich schon einiges an Erde und Blumen auf dem Sarg angehäuft, sodass nur noch seine Ränder in der Tiefe des Grabes sichtbar waren. Ein Kiefermodell, achthundert Euro oder so. Für die alte Rahn viel Geld, aber darunter ging es kaum. Er hatte nicht erwartet, dass sich so viele Menschen zu ihrer Beerdigung einfinden würden. In der Zeit, in der er sie als Hausarzt zunächst in der Praxis und dann, als nichts mehr ging, mit Hausbesuchen versorgt hatte, war ihm nie jemand anderes begegnet, als ihre Tochter und die Enkelin, die auf derselben Etage gewohnt und sie gepflegt hatten.

Lucas Robert war einer der letzten, der sein Schäufelchen Erde in das offene Grab warf. „Ruhen Sie in Frieden“, murmelte er lautlos, bevor er sich dann abwandte, um den Weg zum Grab für die Wartenden freizugeben.

Dem Anlass angemessen nieselte es bereits seit den Morgenstunden. Die Trauernden standen in kleinen Gruppen unter ihren Regenschirmen zusammen. Wie riesige schwarze Champignons, dachte Lucas. Ein Traum für Viren – viele Menschen in trauriger Stimmung und schlechter Abwehrlage, denen es aus Augen und Nasen läuft, während sie sich ständig umarmen und die Hände schütteln.

Die Stimmung war friedlich, kein Wehklagen oder Schluchzen. Alle wussten, dass es höchste Zeit für die alte Rahn gewesen war. Erlösung, Frieden und erfülltes Leben waren die Begriffe, die man aufschnappte, wenn man sich zwischen den Pilzen hindurchbewegte.

Lucas kondolierte zum letzten Mal Frau Rahns Tochter, die sich erneut für seine Hilfe über die Jahre bedankte, und verließ dann den Friedhof. Sein kleines großes Geheimnis nahm er mit, und niemand würde je erfahren, dass letztlich er für die heutige Zusammenkunft an diesem friedvollen Ort verantwortlich war.

Es war nicht einmal eine Woche her, dass Lucas Frau Rahn diesen letzten Dienst erwiesen hatte, denn das war es zunächst gewesen: ein letzter Dienst als ihr Arzt.

1

Er schloss gerade seine Praxis ab, als das Telefon klingelte. Bereits als er die Tür wieder öffnete, verfluchte er sich genau dafür. Warum tat er das? Eigentlich war er nicht mehr da. Nur einen Moment später hätte er das Telefon nicht mehr gehört.

Er griff über den Anmeldetresen und schnappte sich den Hörer.

„Gut, dass ich Sie noch erwische, Doktor, Luci Bauer, bin die Pflegerin von Frau Rahn. Es geht ihr nicht gut. Ich krieg sie nicht richtig abgesaugt. Können Sie kommen oder soll ich den RTW rufen?“

Warum konnte er nicht einfach die Finger vom Hörer lassen!?

„N´ Abend, Frau Bauer. Das war zu erwarten. Ist es akut? Ich bin gerade…“

„Sie muss unbedingt besser abgesaugt werden. Ich weiß, Sie haben ein Händchen dafür, Doktor. Wenn ich den Notarzt rufe, steckt er sie ins Krankenhaus...“

„Und Sie wissen, dass das ihr Ende wäre“, schwang in den drei unausgesprochenen Punkten mit. Leider gab es immer noch keine Patientenverfügung, mit der die Klinikeinweisung hätte verhindert werden können. Aber ohne das hatte er schlicht keine Wahl.

„Ich weiß was Sie meinen. Haben Sie vielen Dank für die Infos. Ich mach´ mich auf den Weg. Wollte sowieso gerade Schluss machen.“

„Ist gut, ich warte so lange, damit ich Sie hereinlassen kann.“

Er hatte den Schwarzen Peter. Es würde also wieder spät werden. Aus dem Auto rief er kurz Pia an, um Bescheid zu geben, die ihn bat, noch Bio-Eier zu besorgen. Das Essen würde also noch länger auf sich warten lassen und ihm knurrte schon jetzt der Magen. Konnte Pia nicht einmal auf normale Eier zurückgreifen oder einfach improvisieren!?

Als er bald darauf mit dem Arztkoffer in der Hand auf das Mietshaus zuging, in dem Frau Rahn wohnte, winkte ihm die Pflegerin vom offenen Fenster zu und ließ den Türöffner surren, noch bevor Lucas auf die Klingel drücken konnte.

„Gut, dass Sie da sind, Doktor, ich bekomme ihre Atemwege einfach nicht frei. Es geht ihr jetzt doch viel schlechter.“

Die alte Frau war oft für Stunden allein, denn die Tochter nebenan arbeitete und die Enkelin ging zur Schule. Im Grunde war die Situation unhaltbar. Aber keiner in der Familie war bereit, über einen Heimplatz auch nur nachzudenken.

„Ich werd´ sie mir mal ansehen“, sagte Lucas, während er an Luci vorbei die Wohnung betrat.

Er war zwei Wochen nicht mehr hier gewesen. Es roch penetrant nach Eukalyptus und Waschlotionen, die den Geruch von Sputum, Inkontinenz und alten Polstermöbeln nur unzureichend überdeckten. Lucas war diese Kombination an Gerüchen bereits so vertraut, dass selbst der frische Eukalyptus für ihn nach Verfall und Tod roch.

Im Flur war es eng und stockfinster. Am seinem Ende zweigte das Wohnzimmer ab, in dem Isabella Rahn in ihrem Pflegebett lag. Er hörte ihr hilfloses Röcheln.

Sie hatte schwer nachgelassen seit seinem letzten Besuch. Zwischen Kissen, Beatmungsgerät und Schläuchen war sie kaum zu erkennen. Er stellte seine Tasche ab und nahm einen frischen, steril verpackten Absaugkatheter heraus.

„Ähm, Herr Doktor“, sprach ihn Luci Bauer von hinten an, „ich bin schon sehr spät dran und habe noch vier Patienten vor mir. Kommen Sie alleine zurecht?“

„Wie? Ja, ja... Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte Lucas, „Ich komme schon klar, vielen Dank. Wiedersehen.“

Sie konnte hier nichts mehr tun. Er hatte in seiner Klinikzeit so viele Atemwege abgesaugt, dass es ihm keine große Mühe bereitete. Für die meisten Pflegenden war es hingegen der reinste Horror. Denn die Erstickungsängste während der Prozedur konnte auch eine leidgeprüfte Patientin wie Isabella Rahn nicht unterdrücken.

„Hallo, Frau Rahn“, sagte er sanft und legte eine Hand auf ihren mageren Unterarm, „Ich bin es, Doktor Robert.“

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Mund formte ein paar stumme Worte. Er beugte sich ein wenig zu ihr herab und nahm den süßlichen Geruch der kranken Lunge wahr. Aber außer den rasselnden Sekreten in ihren Lungen konnte er nichts hören. Sie würde es nicht schaffen. Ein paar Tage noch, vielleicht zwei oder drei Wochen, höchstens, dann hatte sie endlich Frieden.

„Ich muss Sie noch mal absaugen“, sagte er.

 

Frau Rahns Augen sahen ihn flehend an. Sicher hatte die Pflegerin es auch schon einige Male versucht. Er musste es jetzt richtig machen.

„Sie wissen, es führt kein Weg daran vorbei. Mir ist klar, dass Sie das sehr mitnimmt, Frau Rahn. Ich werde es so kurz wie möglich machen.“ Ihr Blick war so traurig.

Es war grausam. Er wusste, was er tun würde, wenn es mit ihm jemals so weit käme – sofern er es dann noch selbst in der Hand hätte. Frau Rahn hatte diese Gelegenheit jedenfalls schon verpasst.

Er verband den Katheter mit dem Absauggerät und schaltete es ein. Ein zischendes Geräusch zeigte den Sog auf dem dünnen Schlauch an. Lucas nahm die Sauerstoffsonde von ihrer Nase und bat sie, den Mund zu öffnen. Als sie nicht gleich reagierte, übernahm er es mit routinierten Handgriffen selbst. Die alte Frau war nur noch ein armseliges, wehrloses Geschöpf. Er schob den Schlauch in ihren Mund und gleich zügig weiter vor, um in die Luftröhre zu gelangen. Frau Hahn würgte kurz und wurde dann sehr unruhig, während der Schlauch bereits zähen, gelben Schleim förderte, den die Patientin aus eigener Kraft nicht mehr abhusten konnte. Danach würde sie wieder für einen Tag etwas Ruhe haben, dachte Lucas, und schob den Schlauch noch weiter vor. Sie versuchte zu husten, Tränen traten ihr in die Augen, wegen der Reizung, wegen des Leids oder wegen beidem. Mehrfach bäumte ihr Körper sich auf. Die ganze Prozedur dauerte keine Minute, für Isabella Rahn eine halbe Ewigkeit. Dann zog Lucas den dünnen Schlauch wieder heraus.

„So, Sie haben es überstanden. Jetzt ist es wieder besser, oder?“

Das Rasselgeräusch aus ihrer Lunge war deutlich schwächer. Frau Rahn sah wieder etwas wacher aus, aber das war eher ihrer Anstrengung und der Angst zuzuschreiben als der verbesserten Atmung.

Professionell lächelte Lucas sie an, während er das Absauggerät ausschaltete und den Katheter entsorgte. Isabella Rahn versuchte erneut, etwas zu sagen. Lucas beugte sich abermals zu ihr hinunter.

„Ich kann das nicht mehr“, hörte er sie schwach sagen, „Helfen Sie mir!“

Er wollte etwas Aufmunterndes erwidern, wie er es immer tat, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er schaute in ihre Augen. Da war dieses Flehen, das ihm schon vor dem Absaugen aufgefallen war.

„Bitte!“, sagte sie laut und deutlich und ihm war mit einem Mal klar, was sie wollte und dass es ihr ernst war. Nicht dass es ihn gewundert hätte… Jeder konnte es sehen und jeder dachte, der Tod ist eine Erlösung für sie. Aber zum ersten Mal spürte er, dass er es auch tun wollte, er sah es deutlich vor sich.

Sie waren allein. Niemand konnte etwas sehen. Und ob Sie heute oder zwei Tage später sterben würde, machte nur für sie selbst einen Unterschied. Sie hatte ihre Wahl getroffen.

Ohne ein weiteres Wort, ohne noch einmal nachzudenken, hob er vorsichtig ihren Kopf an und zog das große Kissen hervor. Er nahm es fest in beide Hände und drückte es auf ihr Gesicht. Er hörte ein kurzes, schwaches Stöhnen, dann war es still. Die ersten Sekunden waren ganz leicht. Als ihm bewusst wurde, was er tat, kroch ein Glühen langsam seinen Rücken hinauf. Sein Atem ging immer schneller, der Druck auf das Kissen erhöhte sich. Er war kurz davor aufzuhören, als die alte Frau plötzlich begann, um sich zu schlagen und mit den Beinen zu strampeln. Ihr Infusionsschlauch trommelte in einem bizarren Rhythmus gegen den Nachtschrank. Verschiedene Pflegeutensilien und das Notrufgerät auf dem Tisch setzten sich in Bewegung und drohten, vom Tisch zu fallen. Einmal traf ihn ihre Hand, und er glaubte einen Moment lang, dass ihn die Infusionskanüle auf ihrem Handrücken am Auge verletzt habe. Lucas erhöhte abermals den Druck und stützte sich jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, das ihr Gesicht vollständig unter sich begrub. Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung, er atmete schwer. Das Glühen hatte zu einem Brennen unter seiner Schädeldecke geführt. Endlich ließ das Schlagen und Strampeln nach, um dann abrupt zu enden.

Er hätte unmöglich sagen können, wie lange es gedauert hatte. Es konnte kaum mehr als eine Minute gewesen sein, vielleicht weniger, aber er fühlte sich wie nach einem Tausendmetersprint. Langsam nahm er den Druck vom Kissen und hob es von ihrem Gesicht ab.

Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, der Mund stand weit offen. Ein Büschel grauer, dünner Haare klebte auf ihrer Stirn fest. Lucas wich ein Stück zurück. Den Anblick hatte er erwartet – und erhofft. Er hielt immer noch das Kissen in beiden Händen, und noch während er sie ansah, dachte er daran, ihren Tod noch medizinisch korrekt überprüfen und dokumentieren zu müssen.

Er hatte gerade das Kissen auf das Bett gelegt, als Frau Rahn sich leicht aufrichtete und einen lauten und tiefen Seufzer tat.

Lucas schrie auf, Adrenalin jagte durch seinen Körper. Er griff sofort nach dem Kissen und drückte es wieder auf ihr Gesicht, jetzt mit aller Kraft, die er hatte. Er drückte und presste, fluchte und schimpfte, als ginge es um sein eigenes Leben. Sein Herz schlug und hämmerte wie wild, er schwitzte und fror zugleich. Seine Körpertemperatur musste deutlich gestiegen sein. Nach weiteren endlosen zwei Minuten ließ er von ihr ab. Er war vollkommen außer Atem. Als er das Kissen wieder fortnahm, hatte sich ihr Gesicht abermals verändert. Augen und Mund waren geschlossen, so als schliefe sie tief – und friedlich.

Lucas ließ sich auf einen Stuhl fallen und begrub sein Gesicht in den Händen. Er roch seinen eigenen Stressschweiß.

Er war völlig durcheinander. Was hatte er nur getan!? Hatte sie es wirklich gewollt? Aber natürlich. Sie konnte nichts anderes gemeint haben, und dass sie sich wehrte, war eine Reaktion ihres Stammhirns, ihres ganzen Körpers, für den der Tod keine Option war. Während er sich allmählich wieder beruhigte, dachte er nach, versuchte sich darauf zu konzentrieren, was jetzt zu tun war, keine Fehler zu machen. Aber wer sollte auch schon vermuten, dass hier etwas anders als erwartet verlaufen war?

Lucas fühlte sich, als habe jemand an beiden Ohren eine Tür geöffnet, wodurch sein Gehirn in einem regelrechten Durchzug stand. Seine Gedanken waren mit einem Male so klar, so scharf und hell. Er war absolut beschwingt, er hätte Bäume ausreißen können! So musste es auch nach nach einer Achterbahnfahrt oder nach einem Bungee-Sprung sein. Ein irres Gefühl, ein wahrer Rausch, und Lucas hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Er erschrak über sich selbst und versuchte, ein bedrücktes Gesicht zu machen, so als wäre jemand im Raum, den es von seiner Unschuld zu überzeugen gelte.

Als er sich wieder beruhigt hatte, untersuchte er das Kopfkissen von allen Seiten, ob sich vielleicht irgendwelche Blutspuren darauf fanden. Aber da war nichts. Er legte das Kissen wieder zurück unter ihren Kopf und tat das so vorsichtig, als könnte Frau Rahn noch etwas spüren. Dann schloss er ihre Lider und zog die Decke über ihr Gesicht.

Er nahm an dem Tisch mit der Brokatdecke in der Zimmermitte Platz. Um den Totenschein ausfüllen zu können, musste er zunächst Absaugkatheter, ungeöffnete Post und ungelesene Zeitungen zur Seite räumen.

Lucas trug Frau Rahns Personalien ein, schrieb die wichtigsten Diagnosen auf und kreuzte „natürliche Todesursache“ an. Damit war die Sache mit Sicherheit erledigt. Eine Obduktion gab es nur, wenn er „nichtnatürliche Todesursache“ angekreuzt hätte. Dann wäre die Polizei gekommen, um Ermittlungen anzustellen, und man hätte den Leichnam der Länge nach aufgeschlitzt. Der Erstickungstod hinterließ keine allzu offensichtlichen Spuren. Manchmal konnte man an der Bindehaut der Augen oder an den Schleimhäuten von Mund und Rachen kleine punktförmige Blutungen entdecken. Doch dafür musste man speziell nach ihnen suchen, wenn sie in diesem Fall überhaupt vorhanden waren. Genau das wäre auch sonst Lucas Aufgabe als Arzt gewesen, der einen Todesfall dokumentiert. Er drückte noch einmal die Lider der toten Augen auf. In der Tasche des rechten Unterlides fand sich eine kleine Blutung, aber das bewies gar nichts, selbst wenn sie jemand entdecken sollte.

Er drückte alle weiteren Gedanken beiseite und gab sich den Routineaufgaben hin. So benachrichtigte er zunächst Frau Rahns Tochter über Handy. Dabei gab er vor, ihre Mutter läge noch im Sterben. Als die Tochter eine Viertelstunde später eintraf, war es dann leider bereits zu spät. Er versicherte ihr, dass die Mutter ganz friedlich eingeschlafen sei. Er berichtete, dass der Pflegedienst sich Sorgen gemacht hatte und seine Ankunft noch abgewartet habe. Er selbst habe gleich gesehen, dass es zu Ende ging.

„Sie konnte nichts mehr sagen. Aber ich weiß, wie sehr sie Sie und auch ihre Enkelin geliebt hat und wie dankbar sie dafür war, dass Sie sie weiter zu Hause pflegten. Ich glaube, dass sie es trotz ihrer schweren Krankheit hier bei Ihnen sehr gut gehabt hat.“ Lucas nahm die Frau in den Arm und tröstete sie etwas. Bald schon würde die Erleichterung die Oberhand gewinnen.

2

„Hallo Schatz! Hast Du an die Bio-Eier gedacht?“

„Ja, hab ich“, rief Lucas aus dem Flur in Richtung Küche. Eine rhetorische Frage von Pia. Ohne Bio-Eier hätte es kein Abendessen gegeben, und mit gewöhnlichen Eiern hätte er sich nicht nach Hause getraut. Glückliche freilaufende Eier, womit er nicht nur die Tiere und sich mitsamt der ganzen Familie rettete, sondern gleich auch die Zukunft ihrer Tochter Lena, das Klima, den Planeten und vielleicht auch ein klein wenig die Titanic. Wer wusste das schon so genau!? Pia jedenfalls war sich sicher, dass all die Anstrengungen, die Umwege mit dem Auto und die glücklichen Hühner die Mühe wert waren.

„Du bist spät“, sagte sie, während sie ihn flüchtig auf den Mund küsste. Zugleich hantierte sie noch mit dem Küchenhandtuch herum, musste hier noch etwas abtrocknen und da noch etwas einräumen. Für Lucas sah eigentlich alles tipptop aus, aber Pia musste immer fleißig wirken. Hatte er es auch nur ein einziges Mal erlebt, dass er nach Hause kam und sie mit irgend etwas beschäftigt war, nur weil es ihr Spaß machte? Er konnte sich nicht erinnern. Nicht einmal jetzt, wo er „spät“ war.

„Du bist spät“ war wesentlich mehr als eine nüchterne Feststellung. Der Vorwurf, der mitschwang, war so klein und so geschickt in den Taschenfalten ihrer Stimmbänder versteckt, dass Lucas ihn auch einfach hätte überhören können, aber dann hätte er ihn auf eine andere Weise aufs Butterbrot bekommen.

„Frau Rahn ist gestorben“, sagte Lucas, ein wenig beiläufig, damit ihr der Vorwurf nach Möglichkeit im Halse stecken blieb. Er schwang sich auf die Anrichte und ließ die Beine baumeln, so wie er es oft gemacht hatte, wenn er bei seiner Mutter in der Küche gesessen hatte.

„Ohje, du Armer! Sie war bettlägerig, oder? Wahrscheinlich besser so.“ Pia machte sich jetzt daran, die Eier zügig mit der Füllung des Gemüseauflaufs zu vermischen, für die sie anscheinend unerlässlich waren. Sie schob den Auflauf in den Ofen, stellte den Wecker und legte die Schürze ab. „So, in zwanzig Minuten können wir essen.“ Sie stellte sich vor Lucas und nahm ihn tröstend in den Arm. „War es schlimm für Dich? Du hast sie gemocht, oder?“

Lucas widerstand so gerade noch dem Impuls, sie fortzustoßen. Er hatte überhaupt nicht das Gefühl, getröstet werden zu müssen. Alles war so routiniert und einstudiert. Manchmal fragte er sich, ob er vielleicht in Wahrheit mit einem hochwertigen Cyborg zusammenlebte. Es gab da doch diesen Film mit den Hausfrauen, die in Wahrheit von den Ehemännern konstruierte Roboter waren oder so ähnlich. Am liebsten hätte er sie mal aufgeschnitten, um nachzusehen, ob noch ein Herz in ihr steckte.

Es war nicht einmal zwei Stunden her, und er stand noch völlig unter dem Eindruck dessen, was passiert war. Er hätte gerne mit jemandem geredet, aber Trost brauchte er nicht. Früher wäre das mit Pia möglich gewesen, als er ihr noch vertraut hatte, als sie noch eine Ehe führten, die den Namen verdiente und ab und zu noch Sex hatten.

„Ja, es war sicher eine Erlösung. Die Pflegerin rief an. Als ich kam, hatte die Rahn kaum noch Kraft zum Atmen. Ich hab dann noch die Tochter alarmiert. Die kam zwar schnell, aber da war sie schon gestorben. Hatte einfach keine Kraft mehr und ist friedlich eingeschlafen.“ Er gab den mitfühlenden Arzt. Das war in etwa das, was Pia hören wollte und auch nicht diskutiert werden musste. Heucheln konnte er. Er hatte ja eine gute Lehrerin. Wie er inzwischen ihr Gutmenschentum hasste. Jeder Joghurtdeckel, jede Currywurst und jede Fahrt zum Supermarkt stand im Zeichen der Weltenrettung. Aber so sehr sie die Natur auch zu lieben vorgab, wenn es um ihre eigene Natur ging, war schnell Schluss. Lena war inzwischen so pubertär, dass sie für gemeinsame Spaziergänge und Ausflüge nicht mehr zu gewinnen war. Wie gerne hätte Lucas es noch mal mit Pia im Freien getrieben, aber dann war es ihr zu hart, zu kalt, zu weich, zu feucht, zu trocken oder zu warm.

 

Sie tätschelte noch einmal seine Hand, bevor sie wieder irgendetwas in der Küche zu tun fand.

Lucas konnte eigentlich zufrieden mit sich sein, dachte er. er hatte spontan eine schwere und einsame Entscheidung getroffen, von deren Richtigkeit er zutiefst überzeugt war. Er musste dies jedoch für immer für sich behalten. Tatsächlich durchpflügte eine Sorge seinen Verstand, wie ein Hai das Wasser, ohne dass er sich bisher einmal an der Oberfläche gezeigt hätte.

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