Das Gift an Amors Pfeil

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Und wie funktionierte es in der Praxis?

In der Theorie funktioniert das alles großartig, doch erst nach Jahren unbeständiger Forschung hatte ich das Glück, auf einen Partner zu treffen, der die Bereitschaft und die Offenheit hatte, mit diesem ungewohnten Zugang zum Geschlechtsverkehr zu experimentieren. Als mein Mann Will und ich uns vor acht Jahren trafen, begannen wir unsere Beziehung mit bindungsstärkendem Liebesspiel. Wir betonten die großzügige und liebevolle Zuwendung und waren nicht auf Orgasmen aus (obwohl es in seltenen Fällen immer mal zu einem Orgasmus kam). Diese Art des Liebesspiels ist eine alte Praxis, auf die in verschiedenen Traditionen immer wieder angespielt wird. Ich belege es heute mit dem Begriff Karezza ­(Italienisch für Zärtlichkeit), ein Begriff, der vor ungefähr einem Jahrhundert von einem Quäker und Arzt geprägt wurde.

„Die Technik beruht nicht auf Kontrolle. Während des Geschlechtsverkehrs versucht man nicht, den Orgasmus zu vermeiden oder die Körperenergien zu steuern; man schließt einfach nur die Augen und fühlt, wie die Energien ins Herz strömen, in den Kopf, in die eigenen Genitalien und die des Liebespartners, und erlaubt der Energie zu zirkulieren … Man entspannt sich die ganze Zeit über und geht immer wieder ins Herz. Der Schlüssel ist müheloses Bewusstsein. Alle Energien werden nach oben gezogen und durch den ganzen Körper verteilt … Während dies geschieht, werden Anzeichen von Geilheit in Gefühle der Liebe verwandelt, und das Bedürfnis nach einem konventionellen Orgasmus nimmt ab.“ 11

Als wir ein Jahr später zurückblickten, mussten wir zugeben, dass wir sehr erstaunt waren. Unser Leben war zwar nicht perfekt, doch es gab definitive, positive Veränderungen. Keine Pilz- oder Harnwegsinfektionen mehr bei mir, kein Alkoholmissbrauch oder chronische Depression (oder verschreibungspflichtige Antidepressiva) mehr bei Will. Unser Liebesspiel war weniger intensiv, doch es ließ uns zufriedener zurück. Selbst heute lieben wir es immer noch, einander zu berühren, und helfen uns gegenseitig sehr gerne. Das Beste jedoch ist, dass es eine sehr willkommene, unbeschwerte Verspieltheit in unserer Beziehung gibt, die es uns gestattet, die meisten Reibungspunkte mühelos aus dem Weg zu räumen und sogar darüber zu lachen.

Als Lehrer für Wissenschaften, der Freude daran hat, sich stundenlang mit medizinischen Abhandlungen zu befassen, war Will neugierig darauf, ob die Wissenschaft diese Verbesserungen in unserem Leben irgendwie erklären konnte. Er vertiefte sich daraufhin in Forschungen über Oxytocin, das sogenannte „Kuschelhormon“. Das von ihm studierte Material erklärte weitgehend, warum selbstlose, nicht zielorientierte Liebe unsere Gesundheit gestärkt haben könnte und sogar gegen Depression12 und Sucht13 hilfreich wirkte. HIV-positive Patienten leben beispielsweise länger, wenn sie in einer Beziehung leben.14 Wunden heilen zweimal so schnell, wenn es eine Begleitung gibt, im Vergleich zu einem Menschen, der isoliert ist.15 Bei Primaten lebt der Elternteil, männlich oder weiblich, länger, der sich um die Familie kümmert.16 Oxytocin ist wahrscheinlich das hauptsächlich beteiligte Hormon hinter all diesen Vorteilen.

Mein Mann stellte außerdem fest, dass wir durch die leichte Art unseres Karezza-Liebesspiels und durch die Orgasmusvermeidung offensichtlich von dramatischen Fluktuationen in unserer Gehirnchemie verschont blieben. Das liegt daran, dass der Orgasmus im Gehirn erlebt wird. Er ist viel mehr eine komplexe Abfolge eines neurochemisch-hormonellen Geschehens als ein Ereignis in den Genitalien. Man kann beispielsweise eine Elektrode in das Gehirn oder das Rückenmark einführen und so das Empfinden von einem Orgasmus hervorrufen, ohne dabei die Genitalien zu berühren.

Anstelle einer Elektrode benutzt der Körper eine neurochemische Ladung, um das Gefühl eines Orgasmus’ hervorzurufen. Was im Augenblick des Orgasmus’ aufgewühlt wird, muss sich auch wieder setzen. Obwohl Wissenschaftler nicht generell zustimmen, dass es eine postorgastische Enttäuschung gibt, sind doch in der Forschung nach sexuellen Stimulationsmitteln Beweise dafür aufgetaucht. Diese unbewusste Kaskade von neurochemischen Abläufen, die scheinbar volle zwei Wochen brauchen, bevor wieder ein Gleichgewicht eintritt, steht hinter der Fähigkeit von Amors Gift, unsere Beziehungen zu verderben. Während dieser Erholungsphase können Liebende sich bedürftig, reizbar, ängstlich und erschöpft fühlen oder sich verzweifelt einen weiteren Orgasmus wünschen, um die damit verbundenen Symptome zu erleichtern. Sie bemerken nicht, dass sie zeitweilig einfach aus der Balance geraten sind. Dies ist ein wiederholter Auslöser für Disharmonie und zwanghaftes Verhalten, und er ist bereits in unsere romantischen Beziehungen mit eingebaut. Doch für sexuell aktive Erwachsene ist diese Erholungsphase quasi unsichtbar, weil wir zunächst typischerweise versuchen, das Unwohlsein durch einen weiteren Orgasmus zu vertreiben. Diese instinktive Reaktion treibt uns zu weiterer sexueller Übersättigung – und folgender emotionaler Distanz. Man muss es nur unseren Genen überlassen. Das ist die Garantie dafür, dass wir so viel fortpflanzungsmotivierten Sex wie möglich betreiben – bevor wir dann das Interesse an sexueller Exklusivität mit einem Partner verlieren.

Dank dieser eingebauten Programmierung entdecken wir nur selten das Wohlgefühl und die Zufriedenheit, die mit einem Schritt in Richtung Gleichgewicht verbunden sind, einfach dadurch, dass wir Karezza machen, also bindungsorientiertes Liebesspiel. Stattdessen geben wir einander lieber die Schuld an unseren veränderten Gefühlen. „Wenn er nur liebevoller wäre und mich mehr unterstützen würde!“ „Wenn sie doch nur aufhören würde, sich in ihren Gefühlen zu aalen und einfach Sex mit mir hätte!“

Wie wir noch sehen werden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die postorgastische Erholungsphase hinter so unterschiedlichen Phänomenen wie einem One-Night-Stand, der sexlosen Ehe, Untreue und Pornografiesucht steht. Sie trägt zu der allgemeingültigen Erfahrung bei, dass die Flitterwochenstimmung selten länger als ein Jahr anhält. Aus dem Grunde gehen Freundschaften, die sich in Liebesaffären verwandeln, häufig kaputt.

Unter dem Strich kommt heraus, dass unser unbewusstes Paarungsprogramm hinter unserem spontanen sexuellen Appetit hervorragend für maximale Genfortpflanzung geeignet ist. Nur unser individuelles Wohlergehen scheint ihm nicht am Herzen zu liegen. Der niederländische Wissenschaftler Gert Holstege, der darüber berichtete, dass Gehirnscans von ejakulierenden Männern genau das gleiche Bild aufweisen wie Gehirnscans von Menschen, die sich einen Heroinschuss setzen,17 ließ einmal die Bemerkung fallen, dass wir alle sexsüchtig sind.18 Er meinte damit, dass unser impulsives Sexualverhalten von Natur aus in Richtung Übersättigung und – sofern wir die Gelegenheit haben – sogar in Richtung Zwang geht.

Paarung und Bindung, die zwei Pedale

Wenn wir tun, was wir immer schon getan haben, bekommen wir, was wir immer schon hatten. Wir sind so verdrahtet. Und doch verfügen wir nicht nur über ein Paarungsprogramm. Wir sind auch mit einem Bindungsprogramm ausgestattet. Es diente in seinen Anfängen als ein Mechanismus, der kleine Säugetiere an seine Versorger bindet, doch es ermutigt uns gleichfalls dazu, uns zu verlieben – zumindest für eine Weile (Paarbindung). Es funktioniert durch gegenseitigen Austausch von unbewussten Hinweisen, ein Verhalten, auf das wir in jedem Alter mit Freude reagieren. Wie wir noch sehen werden, können wir unsere angeborenen Neigungen verfeinern, indem wir dieses Bindungsverhalten nutzen, um unseren Enthusiasmus für dauernde Intimität unbegrenzt zu stärken – insbesondere, wenn wir dazu bereit sind, den Geschlechtsverkehr selbst in ein Bindungsverhalten zu verwandeln, wenn Fortpflanzung nicht erwünscht ist.

„Kuschelmangel führt unweigerlich zu einem nachlassenden Kuschelwunsch, ob dies nun aus Faulheit, Gewohnheit, Verärgerung oder Gleichgültigkeit geschieht. Kuscheln (mit allem, was dazugehört) erweckt den Wunsch nach mehr Kuscheln. Es ist eine wohlwollende Biofeedback-Maschine, genauso wie die Abwesenheit von Zuneigungsbezeugungen das Gegenteil erzeugt. Jeder kennt das von frisch Verliebten, die scheinbar nicht nah genug beieinander sein können. Nun, obwohl wir seit Ewigkeiten verheiratet sind, haben wir wiederholt das Gleiche erfahren, als Ergebnis davon, Kuscheln zunächst zu einem Punkt auf unserem Tagesprogramm zu machen – und wenn es nur eine Minute war. Wir konnten zusehen, wie unser Kuschelbedürfnis nach dem Schneeballprinzip zum Selbstläufer wurde.“

Keith

Menschen, die einander in Liebe zur Seite stehen, fühlen sich ruhig und sicher und erfahren soziales Wohlergehen und emotionale Einheit.19 In Anbetracht der starken psychologischen und gesundheitlichen Vorteile einer glücklichen Vereinigung ist das Karezza-Liebesspiel möglicherweise von überraschend hohem Wert für monogame soziale Lebewesen wie uns.

Ich sehe unser Paarungs- und Bindungsprogramm mittlerweile als zwei Pedale, die unsere intimen Beziehungen in Gang setzen. Das Paarungsprogramm (der Drang, uns sexuell so gründlich wie möglich zu erschöpfen) ist das „Gewohnheitspedal“, weil es häufig bewirkt, dass Partner voneinander die Nase voll haben. Das Bindungsprogramm hingegen ist das „Harmoniepedal“, weil es der Gemeinsamkeit eine tiefere Befriedigung verleiht. Mit diesem einfachen Wissen können wir die gewünschten Resultate ansteuern.

Während Will etwas über die versteckten endokrinen Zyklen von sexueller Übersättigung lernte, fuhr ich damit fort, in den esoterischen Hinterstübchen der einflussreichsten Religionen auf unserer Erde herumzustöbern. Es existieren unglaublich viele mythische Geschichten darüber, wie intime Beziehungen als Weg zu einer tieferen Vereinigung und klareren spirituellen Wahrnehmung genutzt werden können. Wir bekommen davon normalerweise nicht besonders viel mit, weil die bekannteren religiösen Unterweisungen sich fast ausschließlich auf soziale Konventionen beschränken oder darauf, mehr Anhänger zu bekommen.

 

In den uns vertrauten Lehren wird das Konzept der Enthaltsamkeit mit der sexuellen Abstinenz von Mönchen und Nonnen gleichgesetzt. Doch es scheint, als hätten einige unserer inspirierendsten spirituellen Lehrer die transzendentale Kraft der sexuellen Mäßigung während des Geschlechtsverkehrs gemeint. Ich werde einiges von dem, was ich gefunden habe, in den Weisheits-Abschnitten zwischen den einzelnen Kapiteln dieses Buches mit Ihnen teilen.

Warum jetzt?

Ganz offensichtlich ist die unbewusste Paarungsprogrammierung des Menschen keine neue Herausforderung, doch es gibt zwei Entwicklungen, die es notwendiger gemacht haben, dass wirkliche Harmonie zwischen Paaren vorherrscht. Zum einen hat sich unsere Kultur verändert. Bis vor Kurzem hielten auf vielen Teilen der Erde die Kirche und der Staat den sexuellen Ausdruck im Zaum. Ehen wurden vielfach arrangiert. Scheidung war zunächst unmöglich, später hatte sie unangenehme Folgen. Geburtenkon­trolle war entweder nicht möglich oder verboten. Und nicht sanktionierte Beziehungen wurden streng bestraft. All diese Lebensbedingungen sorgten dafür, dass jedwede emotionale Trennung zwischen den Partnern teilweise durch die Tatsache verdeckt wurde, dass sie eben doch zusammenleben und ihre unvermeidlichen Kinder aufziehen mussten. Folgen dieser Umstände waren zudem, dass es nach den Flitterwochen (zumindest im Leben der meisten Paare) weniger Spielerei gab. Dadurch blieben die meisten Paarbeziehungen stabil und weniger unbeständig.

Heutzutage können soziale und zivile Sanktionen zumindest im Westen Paare nicht mehr künstlich zusammenhalten. Das bedeutet, dass unser unterschwelliges Säugetierpaarungsprogramm Familien und Paare mit wachsender Effektivität auseinanderreißt. Da wir nicht länger in Stämmen zusammenleben, die auf gegenseitiger Unterstützung beruhen, sind diese Auswirkungen für alle Beteiligten quälend.

Darüber hinaus wird es wahrscheinlich mit jeder neuen Generation weniger „Schwäne“ geben (Paare, die der Gewöhnung entgehen). Als sich Forscher dem Thema Eheglück widmeten und dies generationsübergreifend untersuchten, entdeckten sie, dass ältere Paare mit höherer Wahrscheinlichkeit glücklich waren. Sie schrieben dies der Tatsache zu, dass ältere Paare noch geheiratet haben, als man bezüglich der Ehe noch pragmatischere Ansichten hatte, die Unterstützung für die Institution Ehe stärker war und Paare sich leichter der Norm einer lebenslangen Ehe unterzogen.20

Es könnte jedoch noch einen zweiten, sehr gewichtigen, wenn auch nicht anerkannten Faktor geben, der hier am Werke ist. Wir sind Versuchskaninchen in einem massiven internationalen Experiment. Der Dauerreiz durch die Medien ruft schon gewohnheitsmäßig eine übernormale sexuelle Stimulation unserer Gehirne hervor. Nehmen wir einfach mal folgende Titel von gängigen Frauen- und Männermagazinen: „Sex mit jemand Neuem – Jede Nacht“ (über das Ausleben sexueller Phantasien) und „Wie Sie seinen G-Punkt finden.“ Oder nehmen wir Chiles frühreife Jugendliche, noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, deren Enthusiasmus für Gelegenheitssex das ganze Land vor den Kopf stößt, wie schon lange nichts mehr.21

Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem neuen Ehepartner und einem neuen Hund?

Antwort: Nach einem Jahr freut sich der Hund immer noch, einen zu sehen.

Dieser Fokus auf sexueller Befriedigung verstärkt die ungewollten Mechanismen unseres Paarungsprogrammes, indem er Liebende zu immer drängenderer sexueller Übersättigung treibt, mit darauffolgendem Desinteresse. Das Resultat sind häufig kürzere intime Verbindungen und ein wachsendes Misstrauen zwischen den Geschlechtern – was vielfach zu Verzweiflung führt, was das Thema Beziehung angeht, und parallel dazu zu ungesunder Isolation. Kurz gesagt, unser angeborenes Programm für genetischen Erfolg arbeitet so effektiv, dass es langsam schon nach hinten loszugehen droht. Der Graben des Misstrauens und der Desillusionierung zwischen den Geschlechtern wird immer größer.

Je mehr mein Mann und ich lernen, umso mehr verstehen wir, dass letztlich jeder unschuldig ist. Wir, unsere Expartner, Sie und Ihre Expartner und all unsere Eltern haben nur das getan, wozu unsere Gene uns programmiert haben. Nämlich, uns zu langweilen, müde oder reizbar zu werden, voneinander enttäuscht zu sein, uns häufig anderweitig umzusehen, uns zu trennen – und alles wieder von vorne zu beginnen. Wir hatten ja keine Ahnung, dass ein Orgasmus kein reines Vergnügen oder reine Entspannung darstellt, sondern dass Übersättigung uns dazu bringt, unsere Partner abzuwerten oder uns von ihnen zu entfremden. Sex zu vermeiden, löst das Problem auch nicht, weil sich ohne eine Lösung sexuelle Frustration aufbaut. Auf der anderen Seite birgt die Jagd nach ständigen Orgasmen, um die Spannung zu lösen, ihre eigenen versteckten Risiken der Gewöhnung und des zwanghaften Verhaltens in sich. Ein bisschen sexuelle Spannung ist ganz natürlich. Sie besteht, damit wir uns überhaupt mit einem Partner verbinden. Doch insbesondere intensive, sexuelle Frustration kann – wie wir noch sehen werden – das Ergebnis eines dringenden Wunsches nach Erleichterung von Gefühlen der Ruhelosigkeit, Reizbarkeit oder Apathie sein – Gefühle, die die sexuelle Übersättigung selbst mit sich bringt. Diese dann mit noch mehr sexueller Stimulation zu lösen, treibt uns in eine Abwärtsspirale. Aus der können wir entkommen, indem wir uns auf ein lebendiges Gleichgewicht zubewegen, das den oben genannten Weg der Sexualität beschreitet und bindendes Verhalten bevorzugt.

Unterdessen können wir mit entrüsteten religiösen Fundamentalisten und über das aktuelle Chaos betrübten Feministinnen sympathisieren. Es suchen einfach zu viele Menschen nach Erleichterung für ihre durch Gelegenheitssex und Pornos entflammte Libido. Die gerechten Kritiker könnten jedoch feststellen, dass eine Meisterschaft in der bindungsbasierten Sexualität auch unser hartes Urteil über andere Menschen mindert. Menschen, mögen sie männlich oder weiblich sein, die in dem Zyklus der Leidenschaft gefangen sind, schuldig zu sprechen, hat jedenfalls nur den unbeabsichtigten Effekt, die Suche nach sexueller Befriedigung noch zwingender zu machen. Wenn wir die Macht von Karezza erkunden wollen, um die Stabilität und Harmonie in unseren intimen Beziehungen zu erhöhen, dann müssen wir unsere derzeitigen Gewohnheiten voller Mitgefühl und Kreativität betrachten – ohne Schuldzuweisungen. Denn diese Gewohnheiten sind nur das Ergebnis eines logischen Experiments: die entschlossene Jagd nach dem Orgasmus in der Überzeugung, dass dieser unsere psychologische Gesundheit und unser Wohlergehen erhöht. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die Folgen so ehrlich wie möglich einzuschätzen und dann unsere Richtung bewusst zu wählen.

Die gute Nachricht lautet, dass eine Bewegung über den Impuls hinaus, in Richtung eines bewussten Gleichgewichts in unserem Sexualleben, uns mit einem Empfinden innerer Vollständigkeit ausstattet. Mein Mann und ich fühlen uns zum Beispiel weniger empfänglich für Manipulation beliebiger Art, sei es durch Werbung, Politiker oder andere Menschen. Auch Sie könnten herausfinden, dass Sie ohne die Gefühle von Mangel, Unruhe und Bedürftigkeit, die auf mysteriöse Art und Weise nach der Befriedigung sexueller Lust aufkommen, einfach nicht mehr so offen für Verführungen wie Fast Food oder übermäßigen Konsum sind und sich nicht mehr so leicht aufgrund Ihrer Ängste manipulieren lassen.

Warum gerade ich?

Um Karezza zu erkunden, musste ich das ganze Populärwissen der letzten sechs Jahrzehnte hinter mir lassen. Dort wird nämlich behauptet, dass der Orgasmus lediglich eine Quelle der Freude und ein wohltuendes Ventil sei, das man, wenn es sich nicht von selbst ergibt, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, sei es natürlichen oder künstlichen, verschaffen sollte. Meine Forschungen standen in krassem Widerspruch zu diesem Denken und führten im Laufe der Zeit zu einem persönlichen Paradigmenwechsel. Für mich ist ein Orgasmus nicht mehr länger nur ein Geschehen im Genitalbereich, das mit dem Höhepunkt endet. Mich faszinieren im Gegenteil die anhaltenden neurochemischen Folgen und was sie für unsere Wahrnehmung voneinander, für die Qualität unserer Beziehungen und unsere physische und spirituelle Entwicklung bedeuten.

Viele verschiedene Disziplinen haben sich mit wesentlichen Teilen dieses neuen Paradigmas auseinandergesetzt. Evolutionsbiologen haben ­festgestellt, dass das primäre Ziel unserer Gene nicht darin besteht, für Harmonie zwischen Partnern zu sorgen, sondern dass es ihnen lediglich um ihren Erfolg geht. Neurowissenschaftler haben aufgedeckt, dass starke sexuelle Stimulierung das Gehirn in etwa so wie eine Droge beeinflusst. Psychiater und Psychologen haben beobachtet, dass Veränderungen in unseren unbewussten Gefühlen gegenüber anderen Individuen auch unsere Wahrnehmung von ihnen radikal verändert. Und Texte aus verschiedenen spirituellen Traditionen, die kaum jemandem bekannt sind, haben die enge Einheit von Mann und Frau enthüllt, die beide in Harmonie zueinander und zu ihren Nächsten bringt.

Doch der gehemmte Informationsfluss zwischen den Disziplinen verhindert zuweilen Einsichten, die verschiedene Sichtweisen miteinander verbinden. Die Biologen entwickeln ihre Schlussfolgerungen nicht gern aufgrund von faszinierenden Parallelen mit alten Texten weiter; Neurowissenschaftler studieren nicht die Auswirkungen der neurochemischen Schwankungen darauf, wie Liebende ihren Intimpartner im Verlauf ihrer Rückkehr zur Homöostase nach dem Orgasmus betrachten; und Psychologen und Psychiater lassen sich entmutigen, die Vorteile von orgasmuslosem Sex näher zu untersuchen, weil Freud, Kinsey und andere dies als eine Paraphilie (sexuelle Störung) betrachteten. Als Ergebnis davon setzen sie die Ausdrücke „sexualfreundlich“ und „orgasmusfreundlich“ miteinander gleich. Und zu guter Letzt neigen Theologen, die mit den von mir studierten Texten vertraut sind, häufig dazu, die heilsamen Möglichkeiten von Sex außerhalb der Fortpflanzung zu verneinen, weil sie annehmen, dass ihr Schöpfer sich nur für die unbeschränkte Fortpflanzung des Menschen interessiert.

Keiner dieser Disziplinen verpflichtet, sammle ich Hinweise von ihnen allen. Ich habe entdeckt, dass es viele Gründe dafür gibt, warum wir Menschen ein Interesse daran haben könnten, einen anderen Ansatz für den Geschlechtsverkehr kennenzulernen, wenn Empfängnis nicht unser Ziel ist.

Sie wundern sich vielleicht, was mich dazu motiviert hat, Geschlechtsverkehr ohne Orgasmus überhaupt ergründen zu wollen. Denn schließlich läuft unser Paarungsprogramm unterbewusst ab und begleitet uns schon seit den Zeiten, als wir noch nicht einmal Menschen waren. Wir sollen es gar nicht bemerken. Und tatsächlich ist niemand von uns wirklich in der Lage, die Herausforderung zu sehen, mit der wir es zu tun haben, wenn er sich nicht aus dem Paarungsprogramm ausklinkt und über längere Zeit mit einem anderen Weg experimentiert, der sexuelle Spannung löst, und dann erst wieder zu fortpflanzungsorientiertem Sex zurückkehrt, um den Unterschied zu erleben.

Wohl oder übel hatte ich ausreichend Gelegenheit, dieses Experiment zu machen. Als ich das erste Mal ein Buch über taoistisches Gedankengut zum Geschlechtsverkehr las, fühlte ich mich sehr dazu hingezogen, doch die Anweisungen, wie man vorzugehen hat, verwirrten mich sehr. Ich war damals noch davon überzeugt, dass Leidenschaft doch irgendwo in der Gleichung Platz haben müsste. Das Ergebnis war, dass mein Liebesleben dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ glich, wo der Hauptdarsteller dazu verdammt scheint, die gleichen Ereignisse bis in alle Ewigkeit wieder und wieder erleben zu müssen.

Doch in Wirklichkeit lernte ich langsam aber sicher ein paar Grundlagen über unser unbewusstes Paarungsprogramm. Sie fügten sich nur nicht nahtlos in mein Verständnis von dem taoistischen Model, dem ich zu folgen versuchte. Doch sie passten erstaunlich gut zu dem Wissen, das mein Mann Jahre nach unserem Kennenlernen und dem Beginn unserer Versuche mit Karezza ausgrub.

 

Ich möchte mit Ihnen teilen, was ich gelernt habe, und fange mit meinem ersten Lehrer an: meiner eigenen Erfahrung. Es war ein ziemlicher Zickzackkurs, als ich auszog, um altes Gedankengut auszuprobieren, das mehr Tiefe und Harmonie in Beziehungen versprach. Und im Laufe meiner Reise stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die von zerbrechlichen Beziehungsstrukturen geplagt war; das Phänomen der Trennung schlich sich so ziemlich in jede Beziehung ein, gleichgültig, wie lang sie schon bestand. Andere unerwartete Einsichten folgten, und die nächsten zwei Kapitel beziehen sich sowohl auf einige dieser „Aha-Erlebnisse“ als auch auf die Blessuren, die ich mir in meinen ersten frühen Bemühungen zuzog. Ich denke an diese Zeit als die „Yin-Phase“ oder die rezeptive Phase meines Abenteuers zurück, weil ich mein Bestes tat, um offenzubleiben für die Einsichten, die zu mir kamen, auch wenn sie nicht wissenschaftlich fundiert waren und damals überhaupt nicht in mein Weltbild passten.

Als Will in mein Leben trat, vervollständigten die objektiven Informationen, die er beitrug, meine früheren subjektiven Beobachtungen auf ­unerwartete Art und Weise. Ich denke an diese Zeit zurück als die „Yang-Phase“, weil Wills Beiträge (die auf dem heutigen Verständnis vieler inspirierter Wissenschaftler basieren) uns ein vollständigeres, abgerundeteres Verständnis dessen ermöglichten, was ich erfahren und beobachtet hatte. Seine Forschungen prägen Kapitel vier (Im Herzen des Trennungsvirus), fünf (Der Zyklus der Leidenschaft), sechs (Die Straße zum Exzess), und acht (Bindendes Wissen) und enthüllen die Funktionsweise unseres im Unbewussten verankerten Paarungs- und Bindungsprogramms aus wissenschaftlicher Sicht.

Selbst wenn Sie glauben, dass Sie Wissenschaftliches nicht mögen, werden Sie überrascht sein, wie sehr dieser Teil des Buches Sie möglicherweise fesseln wird. Wir werden uns damit befassen, wie unsere dominanten Gene uns manipulieren, um ihren Auftrag auf Kosten unserer Partnerschaften zu erfüllen. Wir werden uns den Orgasmuszyklus näher anschauen und erfahren, welche aktuellen Quellen uns mehr darüber erzählen, wie dieser Zyklus zuweilen als Ursache für zwanghaftes Verhalten dient. Wir werden außerdem untersuchen, welche Gründe es geben könnte, dass Karezza zu Heilung, Ausgewogenheit und stärkerer emotionaler Bindung beiträgt.

In Kapitel sieben geht es dann darum, wie wir die Balance zwischen unserem Paarungs- und Bindungsprogramm verschieben können. Kapitel neun (Den Abgrund überbrücken) erläutert, wie es dazu kam, dass wir den Orgasmus als „Stimmungsmedikament“ benutzt haben, und warum diese Strategie für Säugetiere mit fester Paarbindung wie uns fatal sein kann. In dem Kapitel schlagen wir auch Vorgehensweisen vor, wie man andere Menschen mit dem Konzept von Karezza vertraut machen kann. Kapitel zehn (Der Weg der Harmonie) fasst die Praxis von Karezza selbst zusammen.

Seien Sie sich bewusst, dass die Kapitel mit praktischen Vorschlägen wahrscheinlich die am wenigsten wichtigen Teile dieses Buches sind. Wenn Sie einmal die Ursprünge und Mechanismen der Herausforderung, der sich die Menschheit gegenübersieht, verstanden haben, dann werden auch Sie Ihre eigenen Wege zu der Möglichkeit großherzigen, liebevollen ­Karezzas finden. Solange Sie diese Informationen nicht vollständig integriert haben, sind alle praktischen Vorschläge, die dazu dienen, Ihrem unbewussten Paarungsprogramm zu entgehen, nichts mehr als angenehme, doch irgendwie leere Übungen. Dann könnte es so sein, dass Sie in Ihrer ganz persönlichen „Und täglich grüßt das Murmeltier – Schleife“ enden.