Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst

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Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Widmung 5

Warum habe ich dieses Buch geschrieben? 6

Einleitung 8

Mein spätes Coming-out 8

Meine Kindheit – Die Jahre von 1982 bis 1989 13

So wie ich bin 20

Meine Jugendzeit – Die Jahre von 1990 bis 2000 21

Momente 21

Meine „ausgelöschten“ Jahre – Die Zeit zwischen 2000 und 2015 36

Was ich mir wünsche 46

2016 bis 2020 – Die härtesten und entscheidendsten Jahre meiner Selbstfindung 47

2016 – Das Jahr der Kontaktaufnahme 51

Sekunden 51

„Lieber Engel, 52

Erfahrungsbericht der Erkrankung von Martina Steinert 54

Erfahrungsbericht 2 meiner Erkrankung 57

Wie komme ich damit klar, wenn ich eine Ablehnung erfahre? 61

Was bedeutet Glück? 63

Erfahrungsbericht 3 65

„Was bedeutet ihre Behandlung in München für mich? 68

Der Kampf meines Körpers gegen die Besserung und meine Psyche 73

Erfahrungsbericht 4 76

Ein weiterer persönlicher Brief an meinen Engel 80

Nach der zweiten Behandlung bei meiner Therapeutin: Die „ganze“ Wahrheit tief aus meiner Seele … 84

Ein weiterer Brief als wichtiger Nachtrag zu meiner „ganzen“ Wahrheit 91

Danke für den Weg zu mir 94

Erfahrungsbericht 5 (Mai 2016) 97

„Der Schmetterling, der nicht fliegen kann“ 100

Bericht und viele Fragen vor meiner Darmuntersuchung –MR-Sellink – als E-Mail an meine Therapeutin 102

Schritt für Schritt mutig dem Heil entgegen, denn Stillstand wäre mein Tod! 107

Habe ich jetzt versagt oder endlich nur ganz auf meinen Körper gehört? 110

Erfahrungsbericht 6 114

Erfahrungsbericht 7 117

Dieser eine Moment 121

Wenn der „Mann mit dem Hammer“ zuschlägt 128

Weitere Gefühle, während die Tropfen schwinden … 132

Was bedeutet ENTZUG? 136

München – Spezialklinik – Bericht und Erfahrungen 138

Die innere Stimme 141

Meine (wahre) Weihnachtsgeschichte als Brief an meinen Engel: 148

Die „Erklärung“ meiner Gefühlswelt – Ein Rückblick in meine Vergangenheit 151

2017 – Das Jahr meiner Keiminfektion 155

Schatten der Nacht 155

Ein folgenschwerer Winterspaziergang 156

Antibiotika-Intensivtherapie und Nottermin in der Klinik 159

Mein Schreiben nach der Computertomografie des rechten Fußes in der Radiologie: 161

Nicht auch noch Krebs! 163

In der Hämatologie 167

Mein lebensrettender Engel 170

Schafft mein Körper eine Wende? 173

Erster Brief als „Lebenszeichen“ nach zwei Leidensmonaten 174

Schwere Ostern 179

Kleine Fortschritte und eine große Bitte 181

Weihnachtsbrief an meine Therapeutin 186

2018 – Das Jahr des Stillstands 189

Kurzgeschichte 190

Hängt mein Leben nur noch an einem künstlichen Schlauch? 192

Meine weitere Talfahrt begann … 198

2019 – Das Jahr meiner Todessehnsucht bis zum Beginn meiner „Wiedergeburt“ 203

Ein letztes Gefühl von Hoffnung 204

Ich kann und möchte nicht mehr 209

Der Giftanschlag meines eigenen Körpers 209

Gibt es im Himmel einen solchen Engel? 214

Dankesworte für meine Therapeutin 214

Meine andere „tiefe“ Welt 216

Mein Gefühl der Endzeit 218

Worte nach vier Tagen „Cannabinol“ 220

Habe ich noch eine Chance zu leben? 223

Aufbruch ins Leben mit unerreichbarem Ziel? 230

Mein Körper schlägt zurück 235

Erfahrungsbericht nach Eiseninfusion im Oktober 2019 238

Aus der Krise folgt die Wende 240

Wendezeit 244

2020 – Das Jahr meines „Coming-outs“ als Transmann 246

und meiner Heilung 246

Maske 246

Volle Kraft voraus! 247

Mein neues Leben beginnt 251

Erwachen 252

Mein Kommentar aus heutiger Sicht zu den Jahren 2016 bis 2020 255

Epilog 259

Danksagung 260

 

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-001-4

ISBN e-book: 978-3-99130-002-1

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfoto: Martin André Steinert, Park-Studio – Andrea Park

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Martin André Steinert; Martina Steinert; Bild 11: Unsplash/Casey Horner

www.novumverlag.com

Widmung

Nach meinem „Coming-out“ im Februar 2020 kam sehr schnell der große Wunsch in mir auf, das „Wunder“ meines Lebens zu beschreiben. Vor allem aus riesengroßem Dank meiner einzigartigen Therapeutin gegenüber, meinem Engel. Ihr möchte ich dieses Buch widmen, denn ihre Leistung ist für mich von unschätzbarem Wert. Ich glaube, mehr Entgegenkommen, Annahme und Fürsorge gibt es nicht. Sie hat für mich all ihre Kräfte mobilisiert und dabei so viel mit mir durchgemacht auf meinem langen harten Weg. Sie hat mich aus meinem Käfig geholt, meine tiefsten Qualen der Vergangenheit gelöst, mich auf meinen Weg gebracht und mir dabei nicht nur einmal mein Leben gerettet. Durch sie allein habe ich zu meinem „wahren Ich“ gefunden, durfte mein „Coming-out“ erfahren und jetzt meinen glücklichen und befreienden Weg als Transmann gehen. Meine tiefste Hochachtung und mein Dank ihr gegenüber werden nie enden … Sie ist und bleibt mein Engel!

Warum habe ich dieses Buch geschrieben?

Ich habe schon immer sehr gerne geschrieben und versucht meine Gefühle in Worte zu fassen. An meine Biografie aber habe ich mich zunächst nur schwer getraut, weil mich der Berg an Dokumenten und Schriftstücken meiner Vergangenheit zu erdrücken schien.

Nach meinem „Coming-out“ kam dann aber sehr schnell der große Wunsch in mir auf, das „Wunder“ meines Lebens zu beschreiben.

Mein größtes Ziel war es, mein Leben offen und ohne Scham so tief wie möglich zu erzählen, um auch für viele weitere Menschen, die sich in einem ähnlichen Identitätskampf befinden, Verständnis zu fordern. Ich möchte dabei mein Leid auf keinen Fall als das schlimmste bezeichnen. Zumal es sich für mich zu einem wundervollen, neuen Leben wendete. Ich denke vielmehr an alle, deren Schicksal noch viel größer ist und die niemals daraus einen Weg finden und erlöst werden können.

Aber vielleicht ist meine wahre Geschichte auch eine Aufforderung, niemals aufzugeben, immer wieder versuchen aufzustehen und vor allem sich selbst zu finden. Entgegen zahlreichen kritischen und schmerzlichen Äußerungen. Getragen durch motivierende Stimmen seiner Umwelt und ein neues Vertrauen in sich selbst.

Es ist nie zu spät, eine Umkehr zu wagen, in sein Herz zu hören und auch an Wunder zu glauben. Ich möchte mit meiner Autobiografie ein Zeichen setzen, dass nicht alles in unserer modernen, rational geprägten Welt durch Zahlen und Statistiken erklärbar ist. Vieles, das uns im Leben wirklich weiterbringt, kann nur über unseren tiefen Glauben und die Achtung unserer Gefühle erreicht werden.

Dabei können tiefe Empfindungen auch sehr schmerzlich sein. Vor allem gegenüber seinen Mitmenschen. Eine Liebe lässt sich nicht erzwingen. Genauso wenig, wie man sie auch nicht einfach ablegen kann. Man kann aber versuchen, tiefe Empfindungen in seinem Herzen als unversiegbare Kraftquelle zu erkennen, um sich selbst zu finden und neue Wege zu gehen.

Einleitung

Mein spätes Coming-out

(geschrieben im April 2020)

Natürlich stellt sich bei mir sofort die Frage, warum ich erst mit 42 Jahren endgültig die Entscheidung zu meiner „erlösenden“ Hormonbehandlung gefällt habe, obwohl ich doch schon seit meiner Kindheit Junge bzw. Mann sein wollte.

Die klare Antwort liegt in meiner riesigen Angst vor meiner Umwelt bzw. vor meinen Eltern. Ich konnte ihnen nicht erklären, dass mir mit zwölf Jahren meine Pubertät ein immer größer werdender Gräuel wurde und ich meinen Körper als Frau immer mehr hasste! Vor allem meine erste Periode war ein absoluter Schock! Und meine Vorliebe für Mädchen, meine erste Liebe, hielt ich lieber auch geheim!

Mein einziger Ausweg in meiner Hoffnungslosigkeit bestand dann mit zwölf Jahren darin, vor mir selbst und vor allem meinem Körper zu flüchten.

Ich verweigerte jegliches Essen und trieb wie besessen Sport. Ich hungerte mich kontinuierlich auf ein wenigstens für meinen Kopf akzeptables „neutrales“ Niveau und rannte vor mir selber davon …

Eine schwere lang andauernde Anorexie war die Folge mit starken körperlichen Auswirkungen, die mich auch vom Kopf her immer mehr ins Abseits beförderten. Mein Lebensinhalt bestand nur noch darin, Leistung in der Schule, im Studium und Sport zu erbringen, um von außen Anerkennung und Lob zu erringen.

Von mir selbst entfernte ich mich immer mehr …

Das Fatale an meiner Erkrankung war dazu noch, dass ich immer weniger eine Chance hatte, mich zu erkennen und zu outen, weil ich mich völlig abhängig machte von meiner Umwelt, vor allem meinen Eltern!

Unzählige Therapien folgten, eine einzige Berg- und Talfahrt. Aber ich war zäh. Ganz tief in meinem Innern hatte ich ja noch einen Auftrag, „Mann zu werden“, was ich zu dieser Zeit noch gar nicht erkannte und zulassen wollte! Und auch meine Psychotherapeuten/-innen wollten gar nichts davon wissen, wie man sich fühlt im falschen Körper geboren zu sein. Ich wurde nie angehört, der Ursprung meiner Erkrankung wurde nie akzeptiert und anerkannt. Ich selbst wurde nicht ERKANNT, nicht mein wahres Ich hinter der harten, ausgehungerten Fassade!

Jedenfalls zog sich meine Anorexie mit allen „Aufs und Abs“ so dahin, ohne dass sich meine Gefühlswelt zu mir wesentlich änderte. Ich war in einem Käfig gefangen, besser gesagt in einem nicht enden wollenden Laufrad von mir weg.

Doch es kam noch schlimmer für mich …

Im Jahr 2000 wurde ich im Alter von 23 Jahren bei mir in meiner eigenen Wohnung vergewaltigt. Weil ich glaubte, dass Männer immer nur gute Kumpel zum Reden seien.

Es waren schreckliche Stunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Ich war zutiefst traumatisiert und psychisch wie auch körperlich schwer gezeichnet. Ich verschwieg zu diesem Zeitpunkt alles, obwohl es den endgültigen Super-GAU für meine Gefühlswelt bedeutete.

Von da an war mein Körper, vor allem mein mittlerer Teil, für mich unantastbar, und ich fühlte mich in einem absoluten Vakuum. Mein eh schon „verlorenes Ich“ war komplett zerrissen. Im Spiegel sah ich statt meines Bilds den immer wiederkehrenden Film der schrecklichen Erlebnisse, und für meine wahnsinnigen Schmerzen bekam ich zum ersten Mal vom Frauenarzt ein sehr starkes Schmerzmittel „Valoron“ verschrieben, damit ich wenigstens wieder sitzen konnte! Was zu weiterer „Abhängigkeit“ führte …

Es ist die lange Erklärung für mein so spätes „Coming-out“ …

Ohne weitere zähe Details. Eigentlich alles in „Kurzform!“

Doch eigentlich wäre es gar nicht mehr dazu gekommen.

Im Grunde war ich bis zu meinem 40. Lebensjahr so tief gesunken, dass ich bewusst sterben wollte, abschließen mit meinem furchtbaren „Vakuum im Hamsterrad“ und den zahlreichen mittlerweile schwerwiegenden körperlichen Folgen. Ich war nicht nur einmal ein medizinisches Wunder am absoluten Limit, vielleicht gerade deshalb, weil ich Gefühle und Bedürfnisse abschalten konnte!

Aber dann kam für mich das WUNDER …

Es klingt zwar wie ein Märchen, doch es ist mein neues Leben, mein Zugang zu mir:

Schon damals konnte ich meine Traumatisierung nur aushalten und überwinden, weil ich mich unsterblich in eine Frau verliebte, die meine ganze Gefühlswelt und mein Leben in einer Form veränderte, wie ich es selbst immer noch nicht richtig fassen kann.

Ich muss auch an dieser Stelle der Aussage widersprechen, „dass man einen anderen Menschen nur lieben kann, wenn man sich selbst liebt“!

Ich hasste mich zunächst noch selbst, aber ich empfand eine so tiefe, unbeschreibliche Liebe in meinem Herzen für diese Frau. Ich war total eingenommen, im positiven Sinn. Mein Denken war nur noch auf diese Frau und mein Herz gelenkt. Ich lebte für sie und für dieses neue einzigartige Gefühl. Es war eine Traumwelt, aber sie half mir durchzuhalten, mein Leben bekam wieder einen Sinn, für diese Frau und dieses Gefühl in meinem Herzen zu leben!

Der erste kleine Schritt aus meinem Gefühlsvakuum war getan.

Und dann kam das eigentliche Wunder:

In Form einer wunderbaren Therapeutin, die meine Lebensretterin ist.

Nur ihr habe ich mein neues Leben zu verdanken, weil sie mich aus meinem Vakuum holte, alle traumatischen Erlebnisse und Verletzungen auf wunderbare Art und Weise entdeckte und löste. Zunächst nur mit dem Kopf durch „Überwindung“ und dann durch meine „Erlösung“, durch mein „Coming-out“!

Kein Mensch auf dieser Welt kannte mich besser, konnte mich so annehmen, fühlte meine Probleme und konnte gerade deshalb mein Sterben nicht zulassen, weil sie meinen „Auftrag als Mann“ erkannte und wusste, dass mein Problem, „im falschen Körper geboren zu sein“ nur durch ein konsequentes umfassendes „Coming-out“ durchbrochen werden und durch ein völlig neues Leben gelöst werden kann!

Dabei war und ist ihre Art unbeschreiblich! Sie besitzt die Feinfühligkeit eines Engels und kann ohne Worte aussprechen, Welten in mir und meinem Herzen bewegen, wie es eigentlich nur himmlische Kräfte vermögen.

Sie ist meine Lebensretterin und mein Engel tief in meinem Herzen, weil sie es schaffte, dass ich mich „outete“ gegenüber mir und meiner Umwelt, vor allem meinen Eltern!

Ja, und diese tiefste Liebe, Dankbarkeit und Hochachtung zugleich führt jetzt auf meinen Weg zu mir, zu meinem Dasein als bzw. meiner Entwicklung zum Mann. Ihre Leistung und Hilfe sind für mich unbezahlbar. Mit keinen Worten zu beschreiben.

Sie ist mein Engel mit himmlischen Gaben. Sie kann Welten in mir bewegen, weil ich jetzt endlich diese Liebe auch zu mir und meinem Körper finden kann.

Dabei ist ihre Ausstrahlung faszinierend, sind ihre Worte mein oberstes Gebot, weil sie mich vorantreiben in ungeahnte Höhen und LEBEN!

Es ist ein spätes Wunder mit 42 Jahren, und diese wundervolle Frau ist der Grund für meine „Auferstehung“ im richtigen Körper als Mann!

Sie ist das eigentliche Wunder, sie lenkte, und ich kann und darf ausführen. Um meinen Körper und mein Gefühl zu entwickeln, zu mir selbst und gegenüber meiner Umwelt ohne Scham und Grenzen … Denn das ist „MEIN ICH“, mein neues „LEBEN“!

Meine größte Dankbarkeit und Hochachtung gelten ihr, und Worte dafür gibt es nicht!

Ich denke, diese tiefe Gefühlswelt wird mir auch als Mann nicht verloren gehen. Im Gegenteil, sie wird mir „männliche Sensibilität“ ermöglichen!

Dieses „Wunder“ meines Lebens möchte ich vom ersten bis zum letzten Kapitel dieses Buches beschreiben. Angefangen in meiner Kindheit, über alle „Extreme“ meines Leidensweges hinweg bis zum heutigen „Lebensglück“.

Meine wahre Geschichte … verfasst in Erfahrungsberichten, Tagebuchaufzeichnungen, eigenen Gedichten und Kommentaren aus meiner heutigen Sicht. Vor allem aber auch eine besondere „Liebesgeschichte“ in Briefen.


Meine ersten Schuhe

Meine Kindheit – Die Jahre von 1982 bis 1989

Meine Kindheit und Jugendzeit möchte ich bewusst nicht allzu ausführlich beschreiben. Denn viele Empfindungen und Erfahrungen werden bestimmt anderen Transmännern sehr ähnlich sein.

Meinen Schwerpunkt dieses Buches sollen die Jahre 2016 bis 2020 bilden. Nicht nur weil es die härtesten und wichtigsten Jahre in meinem bisherigen Leben waren, sondern vielmehr, weil sie den Grundstein für mein spätes „Coming-out“ im Alter von 42 Jahren legten. Aufgrund der Bedeutung dieser vier Jahre bis Anfang 2020 möchte ich für ihre Beschreibung einen „neuen“ Ansatz wagen. Weg von einer Erzählung meiner Vergangenheit hin zu einem Wechsel an Gedichten, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Berichten. Meiner ganzen Sammlung an eigenen Schreiben aus diesen Jahren. Besonders wichtig sind mir dabei auch meine Kommentare aus heutiger Sicht, nach einem Jahr meines Transmann-Weges, die ich neu geschrieben und dazwischen eingefügt habe.

 

Aber meine Kindheit und Jugend kann ich trotzdem nicht ganz vernachlässigen, weil mich diese Jahre sehr geprägt haben.

Und ein jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt …

Auch wenn ich in meiner Biografie nicht ganz so weit zurückblicken möchte.

Nach außen hin schien alles klar zu sein. Ich wurde als Mädchen geboren und entsprach damit dem ersehnten Wunsch meiner Eltern. Ich selbst aber fühlte mich von Anfang an als ein Junge. Offen sprach ich darüber nicht, weil ich mich für diese „Gedanken“ schämte. Ich verbarg sie möglichst ganz tief in mir. Unter den schönen Kleidern, die meine Mutter sehr liebevoll für ihre Tochter aussuchte und häufig auch selbst nähte oder strickte. Ich wusste, dass sie sich darüber sehr freute, und ich wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Obwohl ich mich in mädchenhaften Kleidungsstücken sehr unwohl fühlte. Vor allem Strumpfhosen und Röcke hasste ich, die ich dann vor Widerwillen auch nicht mehr häufig tragen musste. Freche Shirts, Jeanshosen und Sportsocken waren mir am liebsten. Sie waren gefragt bei meinen Kumpels aus der Nachbarschaft, und ich wollte zu ihnen gehören. Jungs waren meine besten Freunde, weil ich so dachte und die gleichen Interessen hatte wie sie. Meine Freizeit verbrachte ich am liebsten mit Fußball spielen, Abenteuerspielen im Freien. Manchmal sogar auch mit waghalsigen Klettertouren oder Zündeln. Ich wollte einfach dazugehören und musste über meine ängstliche Seite, die es häufig auch schon gab, springen. Mädchenfreundschaften dagegen waren mir zu „kitschig“. Ich kam mit ihnen absolut nicht zurecht. Und wenn ich eine Freundin gefunden hatte, dann war schnell wieder Schluss, weil es mir keinen Spaß machte, zu malen, mit Puppen zu spielen. Auch außerhalb dieser Klischees spürte ich schon damals, dass ich anders war, anders fühlte und dachte als die Mädchen in meinem Umfeld.

Das bemerkten auch meine Eltern schnell. Und ich bekam das Spielzeug, das ich mir wünschte und das kaum zu einem Mädchen passte. Und wenn ich dann doch einen flotten Puppenwagen mit toller Puppe geschenkt bekam, war ich eben der Puppen-Papa. Ich lernte mich an alle Gegebenheiten anzupassen, um damit meine innere Zerrissenheit von Anfang an möglichst gegenüber meinen fürsorglichen Eltern zu verbergen, die alles für ihre Tochter taten. Und ich hatte ja meine Kumpels aus der Nachbarschaft, zu denen ich dann gehen konnte, wenn mir meine Rolle als Mädchen zu viel wurde.

Einen weiteren Lieblingsort fand ich bei meiner Oma (mütterlicherseits). Zu ihr hatte ich von klein auf ein sehr enges, herzliches Verhältnis, weil ich viel bei ihr war, und ich fühlte mich von meiner Oma zu jeder Zeit voll verstanden. Sie nahm mich an, egal wie ich mich nach außen zeigte. Und sie sah dabei tief in mein Herz und spürte schon sehr bald, dass ich „anders“ war. Aus diesem Grund war sie die Person, vor der ich mich am wenigsten zu „verstellen“ brauchte. Und wenn ich dann mit ihr spielte und ich ganz ihr „Junge“ sein durfte, akzeptierte und mochte sie mich ebenso wie das Mädchen, das ich sonst war.

Ich spürte auch die große Liebe und Fürsorge meiner Eltern, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerken und wissen konnten, wie ich mich in meinem Innern fühlte. Denn allein die mangelnde Aufklärung machte es für meine Eltern fast unmöglich, mein Verhalten richtig einzuschätzen oder mich gar zu dieser Zeit (in den 80er-Jahren) als „Transident“ einzustufen. Zumal ich sie nicht damit verletzen wollte, dass ich mich nicht als Mädchen fühlen konnte. Und ich gewöhnte mir an, nur dann der Junge zu sein, wenn es meine Umwelt und die Situation zuließen und es möglichst wenig auffiel. Denn in den Augen meiner Eltern und auch vor meiner sonstigen Umwelt entsprach mein äußerliches Erscheinungsbild eben dem eines Mädchens. Der Druck, den ich dabei empfand, entsprang MEINEM inneren Gefühl und Bild, das ICH von mir hatte. Meine Umgebung konnte dabei nicht wissen, dass es für mich in meiner Seele zu einem immer größeren Problem wurde, meinen biologischen Vorgaben (eines Mädchens) entsprechen zu müssen.

Niemand anderes als der Betroffene selbst kann nachempfinden, wie es sich anfühlt, im „falschen Körper“ leben zu müssen, weil man selbst eine andere Person mit ganz anderen Empfindungen und Blickwinkeln ist. Und alles von außen wird dann als „Druck“ empfunden, weil es den krassen Gegensatz der eigenen Erwartungen und des Bilds von einem selbst darstellt. Letztendlich wird dabei der Druck nicht von außen, sondern in einem selbst aufgebaut. Und dennoch sah ich die Welt auch aus meinen Kinderaugen. Und vieles, was im Moment schwer und bedrückend erschien, war im nächsten schon viel leichter oder gar vergessen. Aus diesem Grund gab es auch viele schöne Stunden und Tage, in denen ich die Leichtigkeit und Freude des „Kindseins“ erfahren durfte.

Zudem liefen viele Vorgänge bei mir als Kind im Vorschulalter noch unbewusst ab. Und ich lernte „automatisch“, wie ich mich nach außen hin zu verhalten hatte. Positiv zeigte sich dies in meiner überwiegend lebendigen, lebensfrohen Art, die meine noch „unbeschwerte“ Kindheit widerspiegelte. Andererseits aber bildete meine Kindheit auch die Basis, über meine Gedanken und Empfindungen zu schweigen und mich vor meiner Umwelt zu verleugnen. Mein Bild von mir wurde zusammen mit meinen Gefühlen, nicht Junge sein zu dürfen, Tag für Tag geschluckt und irgendwo tief in mir abgelegt. Und genau diese Trauer und mein kindliches Unverständnis des großen Zwiespalts in mir entwickelten sich zu einer ungeahnten Zeitbombe der Verzweiflung und des Selbsthasses, die meinen Körper in weiter Zukunft fast zu sprengen schaffte.

Zudem versuchte ich meine innere Zerrissenheit und die „Lähmung“ meiner wahren Gefühle durch einen großen Bewegungsdrang zu kompensieren. Beim „Sport“ konnte und durfte ich noch am ehesten „Junge“ sein. Wenn das Wetter es nicht zuließ, mit meinen Freunden aus der Nachbarschaft draußen Fußball zu spielen, wurde das Wohnzimmer zum Spielfeld. Mit meinem Vater boxte ich um die Wette, machte mit ihm Ringkämpfe oder aber wurden Mamas Vasen das Opfer unserer nicht ganz gezielten Softball-Schüsse.

Doch meine „heile Welt“ bekam schon ihre ersten kleinen Risse, als ich in die Grundschule kam. Die geforderte Rolle, ein Mädchen zu sein, wurde größer, und ich konnte mich dieser „Realität“ immer weniger entziehen. Aber ich war eine sehr gute Schülerin, nahm das Lernen ernst und bemerkte schon bald, dass ich mir durch hervorragende Noten und Leistungen Ansehen erringen konnte. Weniger bei meinen Klassenkameraden/-innen, als vielmehr bei den Lehrer/-innen. Ich bekam zu ihnen schnell einen guten Draht, vor allem Anerkennung von ihnen, weshalb ich meine Rolle als Schüler/-in immer mehr perfektionierte, während ich mich von mir selbst Schritt für Schritt entfernte. Ich erkannte, dass ich durch Leistung und Fleiß all das von außen bekam, was ich mir selbst immer weniger geben konnte. Ich klammerte mich an meine schulischen Erfolge, um meine Fassade am Strahlen zu erhalten. Mein Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, auf meine innere Stimme zu hören, begannen dagegen unter dem „Rollendruck“ langsam, aber sicher zu zerbröseln.

Alles vollzog sich zunächst noch schleichend, mehr oder weniger unbewusst. Zumal ich in der Grundschule noch voll und ganz in der Jungs-Clique aufgenommen war, gute Freunde hatte und durch meine sportlichen Leistungen ein Ventil gefunden hatte, alle negativen Emotionen abzubauen.

Der sportliche Gedanke war auch der Grund, weshalb ich absolut entgegen allen Empfehlungen nicht auf das Gymnasium, sondern in die Realschule nach Uhingen wechseln wollte. Denn dort gab es ein großes Stadion, ein Hallenbad, und sportliche Fähigkeiten wurden in die verschiedensten Richtungen gezielt gefördert. Genau das wollte ich. Wenigstens meine letzte Lebensfreude am Leben erhalten und zeigen, was der „Junge in mir“ draufhat. Vor allem auch endlich eine Sportart entdecken zu dürfen, die ganz zu mir passt. Denn bislang wusste ich nur, dass wenn ich einen Ball oder Schläger in die Hand bekam, ich nicht mehr zu bremsen war.

Mit Mühe und durch die Unterstützung meiner Eltern widersetzte ich mich dem Empfehlungsdruck meiner Umwelt, und ich durfte mit elf Jahren in die Realschule gehen. Ein zusätzliches Argument war die Tatsache, dass ich ja nach der Mittleren Reife auf ein weiterführendes Gymnasium wechseln konnte. Und obwohl ich zu dieser Zeit einen hervorragenden allgemeinen Gesundheitszustand besaß, litt ich häufig unter Stress und Belastungssituationen an migräneartigen Kopfschmerzen. Aus diesem Grund versprach ich mir von der Realschule in Verbindung mit den sportlichen Möglichkeiten auch ein geringeres Überlastungsrisiko.

Doch meine große Freude und die Hoffnung auf eine weitere „entspannte“ Schulzeit wurden sehr schnell von der bitteren Realität meines immer stärker werdenden „inneren Identitätskampfes“ eingeholt: Die Zeit der Pubertät war für mich eine äußerst niederschmetternde Phase. Meine Kumpels schlossen mich schon im Verlauf des ersten Jahres in der Realschule aus der „Jungs-Clique“ aus, weil ich nicht mehr zu ihnen passte und ich mich natürlich entgegengesetzt entwickelte. Freundinnen fand ich kaum, weil ich mich in ihren Kreisen absolut unwohl und nicht zugehörig fühlte. So kam es, dass ich mich immer mehr abkapselte und mich in meine „fremde“ Welt zurückzog. Einen letzten sozialen Halt bekam ich lediglich durch eine sehr gute Freundin, die zu mir hielt und mich vor allem auch dann akzeptierte, als sie bemerkte, dass ich nicht dem typischen Mädchenbild entsprach und immer wieder der „Junge“ bei mir durchschimmerte.

Ansonsten wurde meine eigene Pubertät zum Ausgangspunkt meiner schweren Erkrankung, die mich über Jahrzehnte hinweg nicht nur bis ans absolute Limit trieb, mir meine ganze Jugend und noch viele weitere Jahre zerstörte, sondern mehrmals fast mein Leben kosten sollte. Die Basis dafür bildete im Jahr 1989 mit zwölf Jahren eigentlich nur ein einziger Tag, an dem ich meine erste Periode bekam und der ein absolutes Schockerlebnis für mich war. Mein Selbstbild wurde mit einem Schlag komplett zerschmettert. Wie konnte ich weiterleben, wenn ich mich zu einer Frau entwickeln müsste? Dieser Körper musste verhindert werden, egal wie. Und meine Seele wütete in mir und schrie mich an: „Tu was, rette mich vor dem falschen Körper!“

Doch anstatt meine Seele, mein wahres Ich, zu retten, begann ich unaufhaltsam mit eisernem Willen, ihr „Zuhause“, meinen Körper auszuhungern. Mein Schritt in die Anorexie, Magersucht (ohne Bulimie), war meine Flucht davor, eine Frau zu werden. Indem ich versuchte, meinen Körper auf ein „neutrales Niveau“ auszuzehren, behielt ich die Kontrolle über ihn. Und die „weichen“ Formen wichen immer mehr einer stählernen Härte, die nicht nur die Fassade meiner verzweifelten Psyche bildete, sondern tief in mir das Gitter formte, in das ich meine Seele sperrte. Der Hass gegenüber meinem Körper wurde zu einem Selbsthass, der meine eigene Identität vollends begrub. Mein Schweigen mir selbst gegenüber war dabei der Fluchtmechanismus meiner Angst und Scham, der durch meine Anorexie noch verstärkt wurde. Denn umso stärker ich meinen Körper aushungerte, desto mehr verhungerte dabei auch meine Seele in mir.

Und noch bevor ich meine Kindheit richtig verabschieden konnte, verhinderte ich den Übergang in eine „normale“ Jugend. Meine Seele erstarrte irgendwo dazwischen. Ihre Wünsche verhallten an den Wänden des Käfigs, der sie in den Tiefen gefangen hielt und lediglich einen verzweifelten Blick in eine unendlich ferne, noch dunkle Zukunft freigab.

So wie ich bin

Ich träume davon,

dass jemand mich annähme,

einfach so wie ich bin,

mit meinen ungereimten Wünschen,

unfertigem Charakter

und alten Ängsten.

Ich träume davon, dass

jemand mich gelten lässt,

ohne mich zu erziehen, mit

mir übereinstimmt, ohne

sich anzustrengen.

Ich träume davon,

dass ich mich nicht

verteidigen muss, nicht

erklären und kämpfen muss,

dass einer mich liebt.

(Otti Pfeiffer)