Loe raamatut: «Kein Stress!», lehekülg 3

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GUTE UND SCHLECHTE BOTENSTOFFE DES GEHIRNS

Das nächste Puzzlestück für das Verständnis unserer Emotionen ist die chemische Kommunikation im Gehirn, denn diese steuert die Emotionen selbst sowie unsere Suche nach ihrer Bedeutung. Tatsache ist: In den viel zu seltenen (und kurzen) Momenten, in denen wir uns richtig gut fühlen, ist das nicht die direkte Folge von etwas, das wir oder eine andere Person getan haben. Es ist die Folge dessen, dass unser Gehirn die Ausschüttung eines »guten« Botenstoffs veranlasst hat – Dopamin, Serotonin, Oxytocin oder Endorphin. Wir machen uns vor, dass uns unsere Handlungen oder die Menschen in unserem Leben am Herzen liegen, dabei ist das Einzige, worum es uns wirklich geht, mehr von diesen Botenstoffen zu bekommen. Vielleicht empört Sie diese Aussage, aber lesen Sie bitte weiter.

SCHLECHTE BOTENSTOFFE

Bevor wir uns diesen »guten« Botenstoffen zuwenden, schauen wir uns zunächst die »schlechten« an, unsere Stresshormone – Adrenalin (oder Epinephrin) und das berüchtigte Cortisol. Diese beiden sind eigentlich nicht immer schlecht, sondern von entscheidender Bedeutung für unser Stresssystem, das eine blitzschnelle Reaktion auf Bedrohungen ermöglicht. Unter der Regie einer Gehirnregion namens Amygdala (unser »Rauchwarnmelder«) bereiten uns die beiden nämlich auf einen Kampf gegen den Feind oder die Flucht vor Gefahr vor. In hoher Dosierung schaden sie uns zwar, aber sie können uns buchstäblich das Leben retten.


ADRENALIN

Während der Kampf- oder Flucht-Reaktion sorgt das Adrenalin dafür, dass wir uns auf die Bedrohung fokussieren, und beschleunigt unseren Puls und unsere Durchblutung, damit wir eine drohende Gefahr bewältigen oder jemand anderen retten können oder weniger Schmerz empfinden, falls wir trotz einer Verletzung fliehen müssen. Manche Leute sind derart scharf auf dieses Gefühl, dass sie aus Flugzeugen springen, Bungeejumping machen oder Achterbahn fahren. Zu viel Adrenalin ist allerdings ungesund, schadet dem Herzen und führt zu Schlaflosigkeit und einer unangenehmen, nervösen Angespanntheit, die uns offensichtlich nur noch mehr stresst.

CORTISOL

Auch Cortisol ist wichtig für uns – wenn Anlass und Zeitpunkt stimmen. Cortisol hilft uns morgens aus dem Bett und beim Regulieren unseres Blutdrucks, Stoffwechsels und Blutzuckerspiegels. Es unterstützt Heilungsprozesse und sogar die Gedächtnisbildung, indem es uns lebenserhaltende Lektionen erteilt wie: Finger weg von der heißen Herdplatte! Cortisol wird ausgeschüttet, wenn wir eine Gefahr für unser Leben erkennen; es verursacht uns ein ungutes Gefühl und lenkt auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit auf die Bedrohung. Dasselbe passiert aber auch, wenn wir eine Enttäuschung erleben, obwohl das gar keine echte Bedrohung darstellt. Sogar eine Erinnerung – etwa daran, wie Sie von einem geliebten Menschen verlassen wurden – kann Cortisol im Körper freisetzen. Und sofern wir uns nicht in einer echten Lebensgefahr befinden, setzt unser rationales Gehirn dann eine Kaskade negativer Gedanken und Gefühle über die anderen, die Welt und vor allem uns selbst in Gang, die eine noch höhere Cortisol-Ausschüttung zur Folge hat.

Heutzutage haben viele einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel – und das macht uns krank. Mit zu viel Cortisol im Blut fühlen wir uns gereizt und leiden unter Stimmungsschwankungen, Gewichtszunahme, Benommenheit, Essattacken, Verspannungen und Müdigkeit. Doch sobald uns bewusst wird, wie schlecht wir uns fühlen, können wir diese Negativspirale durchbrechen, indem wir uns auf etwas Positives konzentrieren. Ablenkungen sind eine hervorragende Methode, unser Gehirn von seiner nervenaufreibenden Suche nach nicht lebensbedrohlichen Gefahren abzubringen, und sie helfen dem Körper, wieder zur Ruhe zu kommen.

CORTISOL IST SCHON NACH ETWA 20 MINUTEN ABGEBAUT. VERSUCHEN SIE ALSO, RUHIG ZU BLEIBEN – WAS NICHT GERADE LEICHT IST, WENN DER VERSTAND KREISCHT:


GUTE BOTENSTOFFE

Die Ausschüttung der guten Botenstoffe passiert in kurzen Schüben von nur wenigen Minuten, was einem ziemlich ungerecht erscheinen mag. Doch die Natur hat ihren eigenen Plan: Um mehr zu kriegen, müssen wir auch mehr tun.

DOPAMIN

Dopamin beschert uns ein Hochgefühl, wenn eine Belohnung in Sicht ist. Schon die Annäherung an eine mögliche Belohnung setzt eine kleine Menge Dopamin frei. Natürlich wäre es schön, wenn wir uns ständig in diesem Hochgefühl suhlen dürften, nur würden wir uns dann um nichts bemühen. Das Dopamin signalisiert uns, wann wir auf dem richtigen Weg sind und Gas geben müssen, um es bis zur Belohnung zu schaffen. Wenn der Dopaminspiegel wieder sinkt, meinen wir oft, irgendetwas fehle in unserem Leben oder stimme nicht. Unser Hirn ist jedoch darauf programmiert, erst einmal auf null zurückzuschalten und auf die nächste Gelegenheit zu warten, sich einer wichtigen Aufgabe zu stellen. Selbst wenn wir also das größte Kunststück der Welt vollbracht haben, fällt der Dopaminspiegel bald wieder ab, und wir müssen uns eine neue große Herausforderung suchen, um wieder einen Treffer zu landen.

Lassen Sie sich von diesen Dompamintiefs nicht herunterziehen. Befolgen Sie lieber die folgenden Tipps von Dr. Loretta Breuning, die zum Thema Glückshormone umfassend geforscht hat:

Spaß an Neuem haben

Unser Gehirn sehnt sich nach neuen Erkundungen. Wenn wir dieses Bedürfnis also mit unseren sonstigen Zielen verknüpfen, tun wir etwas für unseren Dopaminhaushalt. Bemühen Sie sich darum, neue Dinge zu lernen, zu erleben und zu sehen, und die Hochs sind Ihnen garantiert.

Nach kurzen und langfristigen Zielen suchen

Halten Sie den Dopaminfluss am Laufen, indem Sie sich sowohl schnell erreichbare als auch langfristige Ziele setzen. Schon das Erreichen einer Etappe beschert Ihnen ein Hoch, Sie müssen es also gar nicht gleich bis zum Ende schaffen.

Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig wollen

Bei einem zu hoch gesteckten Ziel wird kein Dopamin ausgeschüttet, denn Sie rechnen nicht mit einer Belohnung. Zu leicht erreichbar darf das Ziel aber auch nicht sein, weil es dann keine neuen Erfahrungen mit sich bringt.

SEROTONIN

Im Urwald wird den ranghöheren Tieren der größte Respekt entgegengebracht, sie können sich häufiger paaren und ihr Erbgut dementsprechend häufiger weitergeben. Daher ist unser Gehirn versessen auf Respekt und belohnt diesen mit Serotonin. Aus demselben Grund suchen viele auf so tragische Weise nach gesellschaftlicher Anerkennung (z. B. im Reality-TV), und es ist auch der Grund dafür, dass wenig attraktive, jedoch reiche oder berühmte Männer schöne Partnerinnen abkriegen.

Serotonin ist das Signal unseres Gehirns an uns, dass es uns gut geht; es gibt uns das wunderbar beruhigende Gefühl, dass wir in der Lage sind, unsere Bedürfnisse zu stillen. Allerdings wird Serotonin innerhalb weniger Minuten verstoffwechselt, weshalb unser Gehirn ständig auf der Suche nach neuen Wegen ist, mehr davon zu bekommen. Was wir haben, halten wir dementsprechend für selbstverständlich, und uns fallen überall Dinge auf, die nur die anderen haben. Der Jagd unseres Gehirns nach Serotonin entspringen solche Gedanken wie »Ich bin nicht gut genug« oder »Ich habe nicht genug«. Als Reaktion darauf setzt das Gehirn wiederum Cortisol frei, woraus Angst, Panik und ein Gefühl von Dringlichkeit erwachsen. Unserem rationalen Gehirn wird damit mitgeteilt, dass es nach Bedrohungen Ausschau halten soll, und schon wird die Negativspirale in Gang gesetzt. Bald glauben wir, mit unserem Leben stimme etwas nicht: Wir finden uns wahlweise zu dick / alt / arm / dumm. Kleine Enttäuschungen wachsen zu großen Sorgen um die Zukunft, die Welt und uns selbst … Hallo, Depression!


Wenn sich dieses Gefühl in Ihnen breitmacht, halten Sie inne und sagen Sie sich, dass es nicht mehr ist als eine chemische Reaktion, die wir aus grauer Vorzeit geerbt haben. Freuen Sie sich an dem, was Sie haben.

OXYTOCIN

Das auch als »Kuschelhormon« bekannte Oxytocin wird durch Berührung und Vertrauen freigesetzt. Es strömt, wenn wir uns sicher und geborgen und von einem oder mehreren Menschen unterstützt fühlen. In der Wildnis konnte man ohne die Unterstützung einer Gemeinschaft kaum überleben, deshalb hat sich durch natürliche Selektion ein Gehirn herausgebildet, das uns mit einem wunderbar warmen Gefühl belohnt, wenn wir soziale Bindungen eingehen.

Sind wir mit jemandem beisammen oder berührt uns eine Person, der wir vertrauen, löst das einen Oxytocin-Schub aus. Wird dieses Vertrauen enttäuscht, kommt es zu einem Cortisol-Schub.

Oxytocin soll und kann nicht zu einem dauerhaften Vergnügen werden, aber wir bekommen mehr davon, wenn wir:

vertrauensvoll und gleichzeitig behutsam auf neue Menschen zugehen, das Vertrauen zu ihnen Schritt für Schritt aufbauen.

uns die Wonnen einer Massage gönnen.

lernen zu erkennen, wann wir grundsätzlich in Sicherheit sind. Beim gegenteiligen Gefühl handelt es sich meist nur um einen chemischen Überlebensmechanismus unseres Körpers. Lassen Sie los … es geht vorüber.


ENDORPHIN

Endorphin senkt unser Schmerzempfinden, indem es ein euphorisches Gefühl auslöst, das dem des Schmerzmittels Morphium ähnelt. Evolutionsgeschichtlich betrachtet ermöglichte es einem verletzten Tier, seinem Angreifer zu entfliehen. Diese Linderung hält etwa 20 Minuten an, dann kehrt der Schmerz umso heftiger zurück, damit sich Ihr Verstand wieder auf Ihre Blessuren konzentriert, Sie diese reparieren und sich anschließend fortpflanzen und Ihre Gene weitergeben … Alles klar?

Einer der besten Methoden, um die Endorphinproduktion anzukurbeln, ist sportliche Betätigung. Übermäßiges Trainieren bis hin zu Schmerzen und zum Läuferhoch schießt allerdings weit über das Ziel hinaus. Zumal sich ein ähnliches Stimmungshoch auch einfach durch Meditieren erreichen lässt, wie wir in Kürze sehen werden.

Unsere moderne Gesellschaft kann uns dazu verleiten, mit der Macht der Endorphine unsere Schmerzen zu vergessen. Dabei fahren wir besser damit, die Höhen und Tiefen des Lebens einfach zu akzeptieren, statt die Realität in einer Woge der Glückseligkeit wegzuspülen!

JAGEN SIE DEM GLÜCK NICHT HINTERHER

Der »Glückskult« unserer heutigen Gesellschaft schreibt uns vor, dass wir ständig happy sein müssen. Da unsere guten Botenstoffe allerdings nur wenige Minuten lang wirken, ist diese Jagd kraftraubend und führt zu nichts. Wenn wir hingegen unsere evolutionär geprägte Physiologie einfach akzeptieren, macht uns das zufriedener, lässt uns weniger schlechte Hormone produzieren und dadurch weniger Stress empfinden.

Sie können die Endorphinproduktion ankurbeln, indem Sie:

lachen

Freundschaften pflegen

Zeit in der Natur verbringen

Sport treiben – ohne dabei ins Extrem zu gehen.



WIE WIR AUF STRESS REAGIEREN

Obwohl unsere biologischen Grundlagen die gleichen sind, reagiert jeder Mensch aufgrund seines genetischen Erbes und seiner Erfahrungen unterschiedlich auf Stress.

Tierversuche haben ergeben, dass im Gehirn des Nachwuchses gestresster Mütter bleibende Schäden entstehen, die eine höhere Anfälligkeit für Stress bewirken. Das Verhalten der Eltern beeinflusst nämlich die Empfänglichkeit ihrer Kinder für Stress und auch die Art, wie diese ihn bewältigen. Kinder folgen den Taten, nicht den Worten ihrer Eltern, und dank der Neuroplastizität hinterlässt das, was wir in unseren prägenden Jahren lernen, bleibende Spuren. Wenn ein Kind mit Angststörungen zu mir in die Praxis kommt, muss ich deshalb oft zuerst den unter Ängsten leidenden Elternteil behandeln, bevor ich mich um das Kind kümmern kann.

Junge Menschen sind außerdem mit einer stressigeren Welt konfrontiert. Der Druck, den Gruppenzwang, soziale Medien, Schule, Prüfungen, Selbstwertgefühl, familiäre Probleme und die Jobsuche in einer wettbewerbsorientierten, volatilen Wirtschaft ausüben, ist heute meist schwerer auszuhalten als damals bei uns. Die Veränderungen des Hormonhaushalts und der eigenen Rolle sorgen bei Heranwachsenden für zusätzlichen Stress, Angstgefühle und sogar Depressionen. Ja, die Belastungen, die das simple »Erwachsenwerden« mit sich bringt, sind sehr stark mitverantwortlich für das Ausbilden psychischer Störungen. Der WHO zufolge machen psychische Erkrankungen weltweit bei den 10- bis 24-Jährigen etwa die Hälfte aller Krankheiten aus. Wir sollten uns daher bewusst machen, wie wir uns verhalten, und welchen Belastungen unsere Kinder ausgesetzt sind, dann können wir sie dabei unterstützen, gesund zu bleiben und alles gut zu bewältigen.

EIN MODELL FÜR UNSERE STRESSREAKTION

Das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman macht unseren Stress an den Interaktionen mit unserer Umwelt fest. Diesem Modell zufolge beinhaltet unsere Reaktion auf jeden Stressor:

die Bewertung seines Schweregrads

die Beurteilung, wie gut wir mit ihm umgehen können.

Mir gefällt dieses Modell, weil es berücksichtigt, dass eine bestimmte Bedrohung für jeden von uns etwas anderes bedeutet. Es ist unsere Wahrnehmung, die daraus einen Rückschlag, eine Herausforderung oder eine gute Gelegenheit macht. Außerdem kann man das Modell zur Erklärung stressbasierter Erkrankungen heranziehen. Menschen mit einer Angststörung (also mit krankhaftem Stress) etwa haben eine verzerrte Wahrnehmung der Welt. Je stärker sie von negativen Ereignissen ausgehen und je mehr sie davon überzeugt sind, diese nicht meistern zu können, desto schwerwiegender sind ihre Symptome. Sobald sie ihre Wahrnehmung vermeintlicher Bedrohungen ändern und/oder an ihren Bewältigungsstrategien arbeiten, geht es ihnen besser.


Aus meinem Leben: Kurze Lektionen in Sachen Stress

2 | EINE LEKTION ÜBER HUNDE

von Matthew Johnstone

Auf einer Reise durch die USA wurde ich zu einer Surftour nach Baja California in Mexiko eingeladen, der kleinen Landzunge, die südlich an San Diego und Tijuana grenzt. Baja ist karg und trocken … man kann aber hervorragenden Hummer essen und Wellen reiten. Bedauerlicherweise konnte ich nicht Wellenreiten.

Eines Nachmittags machte ich mich auf zu einer langen Wanderung entlang eines felsigen Küstenwegs. Nach etwa einer Stunde stieß ich auf ein auf einer Felskuppe gelegenes Häuschen mit Blick aufs Meer. Um die Wanderung fortzusetzen, musste ich durch den Hinterhof, und da ich nicht unbefugt eindringen wollte, rief ich freundlich »Hola!«. Die Antwort waren wütendes Gebell und Pfotengescharre. Auf einmal kamen zwei kleine Pudel und ein riesiger Pitbull auf mich zugerast. Die Pudel ließen sich zurückfallen und kläfften: »Unser Kumpel wird dich richtig fertigmachen!«

Der Pitbull hatte die Ohren angelegt, fletschte die Zähne und knurrte. Da ich mit Hunden aufgewachsen bin, wusste ich, dass sie Angst spüren und darauf reagieren. Während er mich umkreiste, holte ich also tief Luft und sagte so ruhig und aufmunternd wie irgend möglich: »Buen muchacho, buen muchacho!« (Braver Hund, guter Hund.) Hunde reagieren wohl eher auf den Tonfall als auf Worte – mein Glück, denn mein Spanisch ist miserabel! Anstatt mir meinen Fuß zu amputieren, beschnüffelte er ihn, hob das Bein und pinkelte mir auf die Turnschuhe. Das hielt ich ehrlich gesagt für einen ziemlich guten Ausgang, und so sagte ich noch einmal: »Buen muchacho!« Mit hoch erhobenem Kopf trottete der Pitbull mit seinen kleinen Amigos von dannen.

Nach Weiterwandern war mir nun nicht mehr zumute, also stapfte ich mit schmatzenden Schuhen zurück ins Lager.

DIE MORAL VON DER GESCHICHTE

Bekommen wir in einer stressigen Situation die eigene Reaktion auch nur ein Stück weit in den Griff, wendet das alles zum Guten.


DIE GESCHICHTE VON CARL WOZU STRESS DIE MENSCHEN BRINGEN KANN

Unsere Bewältigungsstrategien haben einen ebenso starken Einfluss auf unser Stressempfinden wie unsere biologischen Voraussetzungen. Wie mein ehemaliger Klient Carl mit seinen Belastungen umging, hat – wie er selbst sagt – beinahe sein Leben ruiniert. Seine Geschichte ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie wir nicht versuchen sollten, Stress zu bewältigen.

Mit 35 war Carl ein profilierter leitender Angestellter eines börsennotierten Unternehmens und trug die Verantwortung für einen Jahresumsatz von 250 Millionen Dollar. Als ich ihn kennenlernte, war er von seiner Frau, mit der er 14 Jahre verheiratet gewesen war, und seinen beiden kleinen Kindern weggezogen. Er lebte aus dem Koffer im Wohnzimmer seines Cousins. Dort war gerade genug Platz für ein schmales Bett und einen Sessel, den er als Nacht-, Frisier- und Ablagetisch für sämtliche übrig gebliebenen Habseligkeiten nutzte.

Carls Persönlichkeit war beeindruckend – charmant, besonnen und charismatisch. Er konnte super mit Menschen umgehen, war der geborene Verkäufer und inspirierte seine Mitmenschen, es ihm gleichzutun. Wegen seiner durchgängig herausragenden Verkaufsleistungen wurde er zum landesweiten Vertriebsleiter befördert. Kurz bevor ich ihn kennenlernte, hatte ihn allerdings sein gesunder Menschenverstand verlassen. Einige Stressoren hatten sich bei ihm aufbauen und vervielfachen können, denn er war alles andere als gut mit ihnen umgegangen. Er hatte begonnen, den jeweils einfachsten Weg zu nehmen, hatte mehr Zeit im Büro und weniger Zeit daheim verbracht und seine Familie gemieden, weil er das Gefühl hatte, er würde ihr nicht gerecht.

Er meinte, er mache sich innerlich ständig Druck, als fleißig und erfolgreich dazustehen, deswegen habe er sich nie Zeit für sich selbst genommen. Er ist nicht mehr ins Fitnessstudio gegangen, hat sein Basketballteam verlassen und keine Abendspaziergänge mehr mit Frau und Kindern gemacht. Er aß nur noch unregelmäßig, viel Fertigkram und wenig nährstoffreich. Er wandte sich Alkohol und Drogen zu, um die obligatorische »Kundenbespaßung« besser durchzustehen. Von seiner Frau fühlte er sich missverstanden und entfremdet, und er begann eine Affäre mit einer Kollegin allein aus dem Grund, dass »wir so viel Zeit zusammen verbrachten und sie mich zu verstehen schien«. Er erzählte, er habe sich derart geschämt, dass er sich jeden Abend mit noch mehr Alkohol und Drogen betäuben musste.


Carls Tage waren lang, hart und ohne Pause. Sein Telefon begann um 7 Uhr früh zu klingeln und verstummte erst wieder gegen 8, 9 Uhr abends. Er hatte das Gefühl, »allem verzweifelt hinterherzuhecheln« oder »alles mechanisch zu erledigen, ohne jemals vorwärtszukommen«. Obwohl er im Büro noch immer »der Erfolgreichste« war, fühlte er sich so elend wie nie zuvor. Die Sonntage, seine einzigen freien Tage, verbrachte er mit seinen Kindern und unternahm hin und wieder Ausflüge mit ihnen, doch für keinen war das eine wirklich lustige oder bereichernde Erfahrung. Seine ganze Familie wurde in Mitleidenschaft gezogen.

Eines Tages hatte Carl wieder einmal einen Mahnbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung in der Post, doch diesmal entzog man ihm die Fahrerlaubnis für drei Monate, weil er zu viele Punkte angesammelt hatte. Für Carl war das die totale Katastrophe – er brauchte seinen Führerschein, denn er musste sich regelmäßig mit den Vertriebsleitern im ganzen Land treffen. Das setzte Carl noch mehr unter Druck, und so heckte er den Plan aus, einen Kollegen eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben zu lassen, dass dieser der Raser gewesen sei, nicht er selbst.

Wie jeder weiß, machen Lügen alles nur noch schlimmer. Carl diskutierte seinen Plan mit dem Firmenanwalt, der ihm bei der Führerscheinrettung behilflich sein sollte. Was Carl nicht wusste: Die Firma wollte den Anwalt kündigen, also nutzte dieser Carls Lügengeschichte, um seiner Abfindungsforderung Nachdruck zu verleihen. Daraufhin wurde Carl mit Kündigung gedroht, wenn er die Dinge nicht ganz schnell wieder in Ordnung brachte.

Die folgenden Wochen waren für Carl »die absolute Hölle« – alles, wofür er in der Vergangenheit so hart gearbeitet hatte, schien zusammenzubrechen. Polizei und Vorstand musste er den Betrugsversuch beichten, wodurch er und sein Kollege in ernsthafte Schwierigkeiten kamen und ihre Vertrauenswürdigkeit verloren. Aufgrund seiner schlechten Bewältigungsstrategien und der miesen Entscheidungen, die er in der stressigen Situation getroffen hatte, schien der tiefe Fall von der Spitze, für die er Gesundheit, Familie und Selbstachtung geopfert hatte, unvermeidlich.

Carls Geschichte zeigt uns, wie anfällig der Stress uns dafür macht, wichtige Menschen wegzustoßen und Notlösungen zu suchen, welche die Probleme nur vergrößern. Schuld daran ist ein Konstruktionsfehler unseres Gehirns – die für die rationale Entscheidungsfindung zuständige Hirnhälfte wird im Rahmen der Stressreaktion blockiert.