Rhododendron

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Rhododendron
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Maya Khoury

Rhododendron

Liebe, Hass, Tod

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Der frühe Morgen des 20. März 1952 versprach, ein schöner sonniger Frühlingstag zu werden. Noch zogen dichte Nebelschwaden über die flache Landschaft, doch wagten sich schon zaghaft einzelne Sonnenstrahlen durch den weißen Nebeldunst. Kaum ein Windzug regte sich. Die Baumkronen der Bäume blieben unbewegt, hatten sie sich doch noch vor ein paar Tagen unter der Kraft der Frühjahrsstürme und der heftigen Regengüsse in alle Richtungen geneigt.

Es war Sonntag und Hinnerk Thomßen war bereits in aller Frühe voller Tatendrang aufgestanden. Seine gute Laune und seine Energie überraschten ihn selbst, galt er doch sonst nicht gerade als arbeitsfreudig. Er fühlte sich so gut wie seit langer Zeit nicht mehr. Vielleicht lag es am Frühling, der wie ein Hauch in der Luft lag? Der endlich den harten Winter überflügelt hatte?

Seine Frau Swantje schlief noch tief und fest und hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ihr Mann schon so zeitig aufgestanden war. Denn sie war keine Frühaufsteherin, im Gegenteil, sie würde den halben Tag verschlafen, wenn nicht er, Hinnerk, morgens zur Arbeit müsste. Dann erhob sie sich ein wenig widerwillig und müde gähnend aus den Federn, um ihm Brote für die Arbeit zu schmieren und das Frühstück zuzubereiten.

Sie schien mit schöner Regelmäßigkeit morgens im Halbschlaf zu sein und Hinnerk musste ihr jedes Mal auf die Finger schauen, damit sie nicht Kaffee mit Tee verwechselte. Denn Tee vertrug sein empfindlicher Magen nicht, weil ihm fast ständig übel davon wurde, ganz besonders in der letzten Zeit. Er konnte sich diese körperliche Beeinträchtigung nicht so recht erklären, denn früher galt er als echter Teetrinker. Ein paar eingewickelte Butterbrote und den dünnen ungesüßten Kaffee in einer Warmhaltekanne nahm er in seiner Aktentasche mit zur Arbeit.

Aber heute, am Sonntag, sollte Swantje ruhig länger schlafen. Er hatte nichts dagegen, denn bei seinem geplanten Vorhaben, dem Herausreißen der Rhododendronbüsche auf dem Acker, würde sie ihn nur stören und im Wege herum stehen. Und auf ihre gut gemeinten Ratschläge, die sicher nicht ausbleiben würden, konnte er gut verzichten. Denn meistens wusste sie alles besser.

Hinnerk ging beschwingt zum Fenster, schob die weiße Tüllgardine zur Seite und öffnete es, was er gewöhnlich als erstes tat, wenn er aufgestanden war. Nun ließ er die duftende Frühlingsluft hinein, reckte und streckte sich ausgiebig und atmete ein paar Mal tief durch. Er schaute sinnend hinaus und sah ein Frachtschiff auf dem Kanal langsam, gleichsam wie im Zeitlupentempo, vorbei gleiten. Die Schornsteine auf dem Schiff rauchten und der dunkle Rauch vermischte sich mit dem aufsteigenden Nebel.

Unvermittelt drehte er sich um - als fühle er sich gestört - und horchte in die lautlose Stille hinein. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Aber es war wohl nichts Besonderes. Vielleicht hatten die Dielenbretter in den Räumen oder auf dem Boden geknarrt. Jedoch ein in diesem Augenblick neben ihm Stehender hätte nicht den geringsten Laut vernommen. Das Geräusch war in Hinnerks Unterbewusstsein ausgelöst worden. Es ruhte in den dunklen Nischen seines Unterbewusstseins und verschwand ebenso schnell wie es entstanden war. Später sollte er sich wieder an dieses Geräusch erinnern. Aber in jenem Moment dachte er sich nichts dabei und nahm es nicht bewusst auf.

Hinnerk wandte sich noch einmal dem Fenster zu und sah wieder hinaus. Der weiße Frühnebel auf Wiesen und Äckern löste sich langsam auf. Kleine Nebelfetzen flogen sachte und federleicht über den flachen Landstrich und zerstoben, je höher sie schwebten, ins Nichts. Hinnerk sah zum Himmel hinauf, der bereits zartblau leuchtete. Eine blasse Sonne kämpfte sich durch die träge dahin ziehenden Wattewölkchen, die zwar noch nicht wärmte, aber zumindest Himmel und Erde mit ihren Strahlen erhellte.

Mit dem Frühling kehrten die Farben zurück, die der Winter geraubt hatte. In den letzten Monaten war alles grau gewesen, sogar die Luft war Hinnerk grau erschienen.

Auch die ersten Singvögel waren schon aus dem sonnigen Süden zurückgekehrt und schmetterten nun auf den blühenden Kirsch- und Apfelbäumen ihre fröhlichen Melodien. Aus der Ferne vernahm er das Keckern einer Elster. Sein Gesicht nahm einen ärgerlichen Zug an. Besäße er ein Luftgewehr, würde er schon einige dieser gierigen Nesträuber erschossen haben. Aber er besaß keines. Er sollte sich vielleicht doch ein Luftgewehr besorgen, dachte er. Ein beruhigendes Gefühl beschlich ihn. Bei diesem Gedanken entspannten sich seine Gesichtszüge und er konzentrierte sich wieder auf die friedliche Landschaft.

Er beobachtete nun ein kleines Eichhörnchen, das sich hierher verirrt hatte und mit affenartiger Geschwindigkeit in den Ästen der Bäume herumturnte. Eine trällernde Amsel auf dem Baum fühlte sich in ihrer Ruhe beeinträchtigt und kam aus dem Takt. Sie unterbrach für Sekunden ihr Lied und flog, heftig mit ihren schwarzen Flügeln schlagend, eilig davon, um auf dem nächsten Baum fröhlich weiterzuzwitschern.

Der von allen Menschen herbei ersehnte Frühling hat in diesem Jahr nun endlich seinen Einzug gehalten, dachte Hinnerk zufrieden, sah man von den starken Regenfällen ab, die sich noch vor einer Woche sintflutartig über das Land ergossen hatten. Äcker und Wiesen waren Tage lang hinter einem grauen durchsichtigen Regenvorhang nur verschwommen zu erkennen gewesen.

Der Winter hatte schon vorher ziemlich hart gewütet. So viel dichter Schnee wie im Januar und Februar 1952 war lange nicht gefallen. Es hatte Tage gegeben, da war ein Fortkommen wegen des hohen Schnees für ihn und Swantje kaum möglich gewesen. Der Schnee war stetig gefallen und hatte über die Landschaft hinweg gefegt. Auf dem Schotterweg, der neben dem Kanal vorbei führte und daher den Namen Kanalweg trug, wurde der Schnee kaum geräumt. Und einen anderen Weg, in die Stadt zu gelangen, gab es nicht. So mussten sie beide gezwungenermaßen ein paar Tage zu Hause ausharren. Zum Glück hatten sie sich schon vorher mit Lebensmitteln und anderen Dingen, die sie zum Leben benötigten, eingedeckt. Und Hinnerk hatte der viele Schnee ein paar arbeitsfreie Tage beschert, die seiner sprichwörtlichen Faulheit zugute kamen. Aber sein Lohn war natürlich gekürzt worden. Das hatte Hinnerk als ziemlich kleinlich empfunden.

Für heute aber hatte sich er viel vorgenommen. Heute würde er sich nicht auf die faule Haut legen, sondern endlich die alten Rhododendronbüsche, die an seinem Kartoffelacker grenzten, ausgraben. Dann könnten sie auf der neu gewonnen Ackerfläche Bohnen und Zuckererbsen anpflanzen, denn das Ernten von Gemüse war in diesen schlechten Zeiten so kurz nach dem Krieg und nach der letzten Währungsreform wichtiger als die Ansicht von prachtvollen rosa und lila Blumen.

Trotzdem würde ihm das Herausreißen der seinerzeit von seinem Vater angelegten Rhododendronbüsche nicht leicht fallen, entfalteten sie doch in jedem Frühling ihre farbenprächtige Blütenpracht. Das Graben könnte durch den aufgeweichten Boden, der durch die Regenmassen entstanden war, vom Kraftaufwand her ziemlich anstrengend werden. Aber er war fest entschlossen, dieses Werk, das so oft hinausgeschoben worden war, selbst schon zu Zeiten seines Vaters, nun endlich in Angriff zu nehmen. Hinnerk steckte heute Morgen voller Energie und konnte es kaum abwarten, die Schaufel in die Hand zu nehmen und zu graben. Sein Arbeitseifer schien ungebremst, aber auch sehr ungewöhnlich.

Er verdingte sich als Hilfsarbeiter für ein paar Mark auf der Bootswerft in der nahe gelegenen Stadt. Vor dieser Tätigkeit war er als Helfer in der Kammgarnspinnerei beschäftigt gewesen. Es war nicht viel Geld, das Hinnerk mit nach Hause brachte. Er arbeitete als ungelernter Arbeiter und verdiente nicht viel, aber immerhin reichte es, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Denn einen

Beruf hatte Hinnerk nie erlernt. Dazu war er nie gekommen, wie er sich selbst einredete. Hinter dem Haus hielten sie sich außerdem noch ein paar Kaninchen in einem von Hinnerk selbst gezimmerten Kaninchenstall. An den Festtagen labten sie sich dann an einem saftigen Kaninchenbraten, denn Fleisch war in diesen Zeiten meistens knapp. Er erinnerte sich in diesem Augenblick schmunzelnd, als Swantje vor ihrem vollem Teller saß und keinen Bissen anrührte. Er hatte ihr Lieblingskaninchen namens „Othello“ geschlachtet, das schwarze mit den weißen Flecken am Hals. Aber später bekam sie doch Hunger und hatte sich abends den Braten

 

auf dem Ofen wieder aufgewärmt und mit heftigem Widerwillen ein paar Happen probiert. Seitdem benannte Swantje kein Kaninchen mehr mit Namen, weil sie glaubte, das Schlachten dieser kuscheligen Tiere mache ihr dann nichts mehr aus. Das erwies sich jedoch als Trugschluss, denn ihre Abneigung gegen Kaninchenbraten hatte sich nie so richtig gelegt. Hinnerk aber hatte sich danach gefragt, warum sie sich eigentlich Kaninchen hielten. Seine Frau stellte sich jedes Mal so kindisch an, wenn der duftende Kaninchenbraten auf dem Tisch stand. Irgendwann würde er sie alle schlachten und auf dem Markt

verkaufen. Oder er könnte sie als lebende Tiere anbieten? Ansonsten lebten sie von dem, was ihr Acker hergab: das waren in erster Linie Kartoffeln, außerdem Kohlrabi, Steckrüben, Zwiebeln, Radieschen, Tomaten, Blattspinat und nun wohl auch bald Zuckererbsen und Bohnen, wenn er erst einmal die Rhododendronbrüsche herausgerissen hatte und den Boden neu bepflanzen konnte.

Ein paar Hüher in einem provisorisch gebauten Hühnerstall, unmittelbar neben dem Plumpsklo, hatten sie auch noch, wenn diese auch nicht so legefreudig waren, wie sie sich das ausgemalt hatten. Vielleicht lag es ja am Hühnerfutter. Bei nächster Gelegenheit würde er seinen Bruder Hermann einmal fragen. Hermann und seine Schwägerin Martha betrieben einen großen Bauernhof in einem kleinen Dorf. Sein Bruder hielt sich natürlich auch Hühner und verkaufte die Eier auf dem Markt; er züchtete sogar eine neue Hühnerrasse. Hermann wusste immer einen Rat und sicher auch einen wegen ihrer faulen Hühner. Beim nächsten Besuch würde er ihn danach fragen.

Er überlegte, dass Swantje auch noch ein kleines Feld mit Erdbeeren anlegen könnte. Pflanzen und Ernten gehörten normalerweise zu ihrer Aufgabe. Aber dann fiel ihm ein, dass Swantje gegen Erdbeeren allergisch war und Ausschlag bekam und verwarf diesen Einfall sofort wieder.

Hinnerk unterbrach seinen Gedankengang und löste sich langsam von dem friedvollen Anblick, der sich ihm vom Fenster aus bot, und machte sich nun an dem gusseisernen Ofen zu schaffen. Der Ofen stand auf vier Füßen und besaß vorne eine Klappe zum Nachfüllen der Feuerung und ganz unten eine Lade, die die Asche auffing. War die Lade gefüllt, zog man sie heraus, um die Asche zu entsorgen.

Er nahm nun die Ofenzange vom Haken und schob die Ofenringe auf der Ofenplatte, die ein klirrendes Geräusch verursachten, auseinander. Die Ofenplatte bot Platz für drei Töpfe. Die Asche glomm zum Glück noch und er legte ein paar unweit des Ofens gestapelte trockene kleine Holzscheite in die schwach glimmende Glut. Gierig züngelten die Flammen am Holz entlang und Hinnerk griff sich ein zwei große Torfstücke aus der Torftruhe, die neben dem Ofen stand, und schob sie vorsichtig zu dem Holz. Später würde er noch ein bis zwei Schippen mit Koks oder Eierkohlen nachlegen. Die Briketts waren ihnen ausgegangen, weil sie nicht mit dem strengen Winter gerechnet hatten. Sie warteten bereits täglich auf den Kohlenhändler, der tatsächlich längst überfällig war. Schon bald flackerte ein lustiges Feuer im Ofen. Nun schob Hinnerk die Ofenringe mit der Zange wieder über das offene Feuer und setzte einen Blechtopf mit Wasser auf, um sich endlich Kaffee zu kochen.

Natürlich nur den Ersatzkaffee, auch Muckefuck genannt, und keinen Bohnenkaffee. Den gab es nur an besonderen Festtagen wie etwa Weihnachten oder Ostern. Und, ja richtig, als er und Swantje noch mit Oskar Marakow befreundet waren, einem Flüchtling aus Ostpreußen, genossen sie den Bohnenkaffee fast täglich, weil Oskar immer für Nachschub sorgte. Swantje hatte dann die hölzerne bunt bemalte Kaffeemühle aus dem Küchenschrank geholt und die frischen Bohnen gemahlen. Bald darauf duftete die ganze Wohnküche nach frisch gemahlenem Kaffee. Aber das war vor fünf Jahren und die schönen sorglosen Zeiten nun längst vorbei. Trotzdem schien Hinnerk froh über Oskars Fernbleiben zu sein, denn der war ihm eigentlich immer ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte ihn nie so richtig gemocht. Wenn er jedoch ehrlich gewesen wäre – aber das war er wohl nicht - hatte ihn das lästige Gefühl der Eifersucht, das in seinen Wahnvorstellungen herrschte und von ihm Besitz ergriff wie eine Kompanie lästiger Flöhe, davon abgehalten, Oskar zu mögen. Denn jeder mochte dessen sonniges Gemüt. Es gab niemanden, der sich nicht von ihm betören ließ. Oskar Marakow verbreitete überall gute Laune und machte sich, wohin ihn seine Wege auch führten, bei allen Menschen ungemein beliebt und unentbehrlich. Über seine Oberflächlichkeit – er war sprunghaft und leichtsinnig - sah man eben großzügig hinweg. Bei der Erinnerung an Oskar umwölkte sich Hinnerks Stirn. Er sah den schönen Oskar in Gedanken wieder vor sich: Das glänzende schwarze Haar, mit Hilfe von reichlich Pomade glatt nach hinten gekämmt, strahlend blaue Augen und immer ein betörendes Lächeln auf den Lippen. Meistens trug er gut sitzende dunkle Anzüge, blütenweiße Hemden und einen hellgrauen Hut. Hinnerk musste neidvoll zugeben, dass Oskar ein gut aussehender Mann war. Er ähnelte einem amerikanischen Schauspieler zum Verwechseln. Das Bild hatte er einmal in einer von Swantjes Zeitschriften gesehen. Der Name des Schauspielers war ihm entfallen und Hinnerk wunderte sich darüber, vergaß er doch sonst nie Namen oder Orte. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass er vieles, auch alltägliche Dinge, vergaß. Um auf Oskar zurückzukommen: Er war eben ein typischer Frauenschwarm und das wusste dieser, denn er war zudem ziemlich eitel und pflegte sich von Kopf bis Fuß. Er ging sogar einmal in der Woche in die öffentliche Bäderanstalt in der Stadt, um sich dort ein Vollbad zu gönnen. Dafür benutzte er französische Seife. Nach dem Bad sprühte er sich mit einem teuren Herrenparfüm ein und verströmte einen für die Damenwelt unwiderstehlichen Duft. Hinnerk hatte nichts mehr als diese Parfümwolke gehasst, denn er musste jedes Mal kräftig niesen, wenn sich Oskar wieder einmal eingenebelt hatte. Aber Swantje mochte das Parfüm. Und Hinnerk entwickelte eine immer stärker werdende Aversion gegen Oskar. Eine Aversion, die er nicht mehr kontrollieren konnte.

Es hieß sogar, dass die Frauen dem schönen Oskar in Scharen nachliefen. Aber in Hinnerks Augen schien er ein zwielichtiger Typ zu sein. Über Oskar Marakow erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, er würde krumme Geschäfte mit amerikanischen Soldaten machen. Auch solle er auf dem kräftig blühenden Schwarzmarkt ordentlich mitmischen. Aber niemand wusste etwas Genaues über ihn. Hinnerk war nicht einmal bekannt, ob Oskar überhaupt im Krieg gekämpft hatte. Sicher hatte er sich erfolgreich vor dem Feld gedrückt. Dass dieser Umstand auch für ihn selbst zutraf, hatte er völlig vergessen oder wollte ihn nicht wahrhaben.

Auch über Oskars Familie war nichts bekannt. Man wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch Familienangehörige besaß. Oskar wohnte seinen Angaben zufolge zuletzt in dem ehemaligen Königsberg und war angeblich in der Nähe von Insterburg, nahe der litauischen Grenze, auf einem Gut aufgewachsen. Er schwärmte bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seiner Heimat mit den blühenden Rapsfeldern, den wilden Lupinen, wogenden Kornfeldern und den dichten grünen Wäldern. Zuletzt konnte es niemand mehr hören. Keiner gab dies jedoch Oskar gegenüber offen zu, sondern jeder wappnete sich mit Geduld und lächelte geduldig zu Oskars Geschichten, die er jedes Mal mit einzelnen Details üppiger ausgestaltete.

Viel später sollte sich jedoch durch einen Zufall herausstellen, dass Oskar Marakow zwar auf einem Gut aufgewachsen, doch seine Mutter eine Dienstmagd aus Pommern gewesen war und den Gutsherren auf dem Gut „Kamenka“ in der Nähe von Insterburg gedient hatte.

Sein Vater, ein russischer Pferdehändler, hatte sich kaum um Frau und Sohn gekümmert und sie schon früh verlassen. Oskars Mutter musste fortan zusehen, wie sie sich und ihren Sohn allein durchbrachte.

Angeblich waren seine Eltern nicht einmal miteinander verheiratet gewesen. Diesen dunklen Punkt in seinem Leben als auch seine wahre Herkunft verschwieg Oskar den anderen gegenüber, weil sein Stolz und seine Großmannssucht diesen unüberwindbaren Makel nicht zuließen. Ebenfalls ging das Gerücht um, er habe bei der Fremdenlegion gedient. Aber bestätigen konnte dieses Gerede niemand. Vielleicht waren es auch nur Klatschgeschichten, eine von vielen, die sich um den schönen Oskar rankten und kein Ende nahmen.

Jedoch wollte es niemand mit ihm verderben und man hörte ihm geduldig zu, wenn er sich wieder einmal in den höchsten Tönen über die ostpreußische Landschaft ausließ und förmlich in Erinnerungen über „das Gut seiner Eltern“ schwelgte. Denn Oskar belohnte sie mit Geschenken, die er aus seiner Aktentasche zauberte, welche er immer mit sich führte und niemals irgendwo vergaß. Und Oskar verstand es zu leben, sogar ausnehmend gut zu leben. Er hielt sich mal hier und mal dort auf. Und er brachte Hinnerk und Swantje bei seinen Besuchen, die zuletzt immer häufiger wurden, unschätzbare Kostbarkeiten mit: Zigaretten, Pfeifentabak oder den echten Bohnenkaffee, mal Dosen mit Ananas, Corned beef und Rindfleisch, oder Schokolade und andere Luxusartikel wie wohlriechende Seifen oder Duftwasser für Swantje. Die Schokolade hatte seine Frau auf der Stelle mit Vergnügen verspeist. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, denn sie war wild nach dem süßen Zeug, welches Hinnerk verabscheute, denn er bevorzugte seinen einfachen Pfeifentabak. Er war überhaupt sehr genügsam und begnügte sich mit wenigen Dingen, sah man einmal vom Alkohol ab, dem er nicht entsagen konnte.

Ja, Oskar organisierte Dinge, die sie zwar in der entbehrungsreichen Zeit vermissten, aber nicht unbedingt für ihren Lebensunterhalt benötigten. Aus welchen Quellen der großzügige Freund seine Geschenke bezog, mochte Hinnerk lieber nicht wissen. Und er hatte ihn nie danach gefragt. Hinnerks Bedenken gegen diese Art von Geschenken wurden von Swantje rigoros beiseitegefegt. Sie liebte die überraschenden Mitbringsel und mochte diese nicht mehr missen. Aber er hätte liebend gern auf dessen häufigen und für ihn sogar lästigen Besuche verzichtet. Der Grund für seine abwehrende Haltung sollte ihm später klar werden.

Einmal legte Oskar für seine Frau sogar ein Paar hauchdünne Nylonstrümpfe mit dunkler Naht, eingepackt in weißem Seidenpapier, auf den groben hölzernen Küchentisch und schaute sie erwartungsvoll an. Swantje war vor Freude rot geworden und freute sich unbändig über die schönen Strümpfe, mit denen sie ordentlich angeben könnte. Sie hatte auf der Stelle ihre grau gemusterte Kittelschürze an den Türhaken gehängt und war rasch in der kleinen Schlafkammer nebenan verschwunden. Dann kam sie stolz wie ein Pfau wieder heraus, gekleidet in ihrem blauen Sonntagskleid mit dem großen weißen Kragen und den durchsichtigen Strümpfe an ihren hübschen Beinen. Diese hatte sie sich vorsichtig mit Handschuhen, um ja keine Ziehmaschen oder gar Laufmaschen entstehen zu lassen, übergestreift. Nur die klobigen braunen Laufschuhe passten nicht so recht zu ihrer Aufmachung. Aber Oskar war von ihrem Anblick begeistert und lobte ihr Aussehen in den höchsten Tönen. Er versprach, auch noch feine weiße Stöckelschuhe aufzutreiben, die er beim nächsten Mal mitbringen wollte. Vielleicht auch einen passenden dunkelblauen Mantel für das Kleid und einen großen Hut.

„Du wirst aussehen wie eine Gutsherrin,“ versprach er damals Swantje eine Spur zu protzig, „ich werde dich mit neuen Sachen ausstaffieren und jeder wird dich darum beneiden.“ Dabei hatte er einen provozierenden Seitenblick auf Hinnerk geworfen.

Doch sollte es dazu nicht mehr kommen. Und Hinnerk hätte damals am liebsten geantwortet, dass er bleiben solle wo der Pfeffer wächst. Swantje gefiel ihm auch so, ohne dass sie wie eine Gutsherrin aussah. Jedoch seiner Frau gefielen die Sachen und sie wollte sie nicht mehr missen. Aber die Wahrheit war wohl: Sie wollte Oskar nicht verlieren, dachte Hinnerk zu jener Zeit, als Oskar sie noch regelmäßig besuchte.

Damals war Hinnerk fast vor Eifersucht geplatzt, als er Oskars hungrige Blicke bemerkte, mit denen er Swantje, gekleidet in ihrem schönen Sonntagsstaat und den durchsichtigen Strümpfen an ihren Beinen, verschlang. Spielte sich da vor seinen Augen etwas ab? Von da ab beobachtete er die beiden voller Argwohn. Hinnerks Misstrauen gipfelte in kalte Wut, die er aber mühsam hinunterschluckte und vor den anderen sorgsam verbarg. Doch des Nachts lag er stundenlang wach und sann auf Rache.

Oskar würde Swantje niemals bekommen, dafür würde er, Hinnerk, schon sorgen.

 

Und bei diesem Gedanken fiel er dann in einen unruhigen Schlaf und wachte am folgenden Morgen gerädert und mit blutunterlaufenen Augen auf. Und völlig unausgeschlafen und unausstehlich.

Aber eines Tages war Oskar Marakow spurlos verschwunden, als hätte ihn die Erde verschluckt. Oskars Freunde, und derer gab es natürlich eine ganze Menge – denn sie alle hatten von Oskars Großzügigkeit profitiert - machten sich keine großen Gedanken über sein plötzliches Verschwinden. Reisende soll man nicht aufhalten, meinten sie gleichmütig und gingen zur Tagesordnung über. Oskar hatte es doch nie lange an einem Ort ausgehalten. Sicher vergnügte er sich nun an einem anderen Ort. Einzig allein Oskars unbezahlbaren einzigartigen Kostbarkeiten aus seiner Aktentasche trauerten sie ein wenig nach. Und vielleicht auch seinem geselligen Wesen, jedoch schien ihnen ersteres wichtiger gewesen zu sein, denn Oskars Luxusartikel hatten ihr Leben um einiges bereichert und ihr bescheidenes und armseliges Dasein teilweise in den Hintergrund rücken lassen.

Manche erzählten sich sogar, Oskar habe in Bremerhaven ein Schiff bestiegen und sei nach Amerika ausgewandert. Andere wiederum wollten ihn in Bremen gesichtet haben. Helmut Harms, ein Kleinbauer aus dem angrenzenden Dorf, wollte ihn sogar mit einer jungen gut gekleideten Dame in der Kreisstadt gesehen haben. Obwohl man ihn kräftig auslachte, war er davon nicht abzubringen gewesen. Er behauptete stur, dass Oskar sogar einen Arm um die hübsche Dame gelegt hatte und mit ihr in aller Öffentlichkeit auf einer belebten Straße in der Nähe des Marktplatzes spazieren gegangen war. Woher er das wusste? Der Bauer hatte in der Kreisstadt eine Kaninchenzüchterausstellung besucht. Die Leute aber glaubten ihm nicht, denn es war nicht das erste Mal, dass Bauer Harms ihnen Lügengeschichten aufgetischt hatte. Er nahm das nie so genau und wenn seine Fantasie mit ihm durch ging, war er nicht mehr zu bremsen. Wie dem auch sei: die Gerüchte um Oskar wollten kein Ende nehmen. In Wahrheit wusste aber niemand etwas Konkretes über seine plötzliche Abwesenheit. Und Oskar war nicht wieder aufgetaucht. Die Gerüchte verstummten schließlich, weil sich die Leute wichtigeren Dingen zuwandten.

Ungeheuer wichtig in den Augen der Leute war der tragische Vorfall des armen Fräulein Degenhardt aus ihrem Dorf, der sich kurz danach zugetragen hatte. Fräulein Degenhardt hatte sich in einen britischen Soldaten verliebt und sich mit ihm eingelassen. Schon kurze Zeit später wurde sie schwanger. Die Leute zerrissen sich das Maul über dieses leichtsinnige Mädchen, die in ihren Augen natürlich als Hure galt. Sie war achtzehn Jahre alt und demzufolge noch nicht volljährig. Ihre Eltern hatten nichts anderes zu tun, als ihre Tochter in ihrem schwangeren Zustand vor die Tür zu setzen. Es war doch eine Schande, was ihnen ihre Tochter angetan hatte. Sie selbst wagten sich wochenlang nicht mehr auf die Straße, denn sie spürten förmlich die Blicke der anderen Leute auf sich ruhen und bildeten sich ein, das Getuschel hinter ihrem Rücken zu hören. Aber sie hatten ihre Pflicht getan und sich reingewaschen, indem sie ihrer Tochter die Leviten gelesen und sie praktisch hinaus geworfen hatten. Das gehörte schließlich zu ihrer heiligen Christenpflicht. Mehr konnten sie nicht tun. Nicht verschweigen sollte man in diesem Zusammenhang auch, dass die Familie einer streng religiösen Sekte angehörte. Und ihre Tochter hatte gegen ihre Regeln verstoßen.

Der Soldat aber war nach England zurück beordert worden und erfuhr nicht einmal, dass er Vater werden würde. Und hätte er diese Tatsache gewusst, wäre er wohl auch nicht nach Deutschland zurückgekommen. Fräulein Degenhardt wiederum wusste nicht, dass der britische Soldat bereits verheiratet und zweifacher Vater war, weil er angeblich ledig gewesen sei und Fräulein Degenhardt ihm jedes Wort geglaubt hatte. Sie hörte nie wieder etwas von ihm. Das Ereignis machte seine Runde und man beobachtete schadenfroh die unglückliche werdende Mutter, die inzwischen bei einer Cousine, die sich ihrer erbarmte hatte, Unterschlupf gefunden hatte. Fräulein Degenhardt ging zwar einer Arbeit nach, sie verdingte sich als Hilfsarbeiterin und zahlte für Unterkunft und Verpflegung, doch die Cousine hatte selbst drei Kinder und einen Mann. Die beengten Verhältnisse in der Zweizimmerwohnung machten allen zu schaffen. Schon bald bat die Cousine, sich doch etwas anderes zu suchen, zumal diese in Kürze niederkommen und der Wohnraum dann noch beengter sein würde. In ihrer Not, wozu wohl auch das Gespött und die Schadenfreude der Leute beitrugen, wusste sich Fräulein Degenhardt nicht mehr zu helfen. Und ihre Hauptsorge galt dem ungeborenen Kind. Wer würde es betreuen, während sie arbeitete? Sie musste doch schließlich ihren Lebensunterhalt verdienen, nicht nur für sich, sondern auch für ihr Kind. Der Gedanke, sich an staatliche Stellen zu wenden, kam ihr nicht in den Sinn und wurde ihr auch nicht nahegelegt. Ihr wuchs die unleidige Angelegenheit über den Kopf, es war einfach zu viel für sie und sie sah aus diesem Grund nur noch einen Ausweg, ihrer ausweglosen Lage zu entfliehen. In höchster Verzweiflung und von allen allein gelassen, stürzte sie sich sechs Wochen vor der Geburt ihres Kindes vom Dach eines Hauses in den Tod.

Diese verhängnisvolle Tragöde sowie auch die nachfolgende, die kurz darauf passierte, ließ die Leute das Verschwinden von Oskar Marakow schnell vergessen.An einem schönen sonnigen Tag Ende April 1947 spielten zwei Jungen auf dem Kanalweg Fußball. Bald war der Ball jedoch im Kanal verschwunden. Ihre vergebliches Bemühen, den Ball mit Stöcken wieder herauszufischen, gelang nicht und sie gaben ihr Vorhaben auf. Sie suchten nach einer anderen Möglichkeit, sich die Langeweile zu vertreiben und spielten nun an der Grabenböschung, um im Graben nach Fröschen zu suchen. Die Frösche aber hatten sich gut versteckt und entkamen ihnen jedes Mal, wenn sie glaubten, sie gefangen zu haben. Der eine Junge, Dieter, stocherte daraufhin gelangweilt mit dem Stock in der Erde herum, weil er der Suche überdrüssig geworden war und stieß dabei auf ein Eisenteil, das mit der Spitze aus der Erde heraus lugte. Er zeigte es sofort seinem Freund Wolfgang, der das aus der Erde herausragende Teil fachmännisch von allen Seiten inspizierte. Sie hielten es für ein Eisenteil. Dann gruben sie es vorsichtig aus. Die beiden Jungen nahmen dieses an sich und kletterten schließlich die Böschung wieder hinauf, um das Ding erst einmal von der Erdkruste zu reinigen. Sie waren erfreut über ihren Fund, dachten sie doch, er stelle für sie einen gewissen Wert dar. Und die beiden Jungen beschlossen spontan, das Teil an einen Schrotthändler zu verkaufen, denn es hatte ein schönes Gewicht und würde sicher ein paar Groschen einbringen. Für zwei achtjährige Jungen im Jahre 1947 bedeuteten „ein paar Groschen“ viel Geld und sie malten sich aus, was sie dafür alles kaufen könnten. Dieter wollte sich eine Wundertüte holen und Wolfgang zog Sahnebonbons vor, denn die aß er für sein Leben gern. Vielleicht würde sogar noch etwas von dem Geld übrig bleiben. Und während die beiden Jungen mit ihren Gedanken beim Kauf der schönen Sachen waren und ihrer Fantasie freien Lauf ließen, hörten die Leute im Dorf und Umgebung einen lauten explosionsartigen Knall.

Einige fuhren sofort mit ihren Fahrrädern, sofern sie eines hatten, zu der Stelle, woher sie das Geräusch vernommen hatten. Andere waren zu Fuß dorthin geeilt. Schon von weitem erblickten sie einen Krater, der durch die Explosion auf dem Sandweg am Kanal entstanden war. Und die Menschen, die als erste an der Unglücksstelle eintrafen, waren so entsetzt von dem Anblick, der sich ihren Augen bot, dass sie erschüttert und so blass wie ein weißes Leinentuch zurück wichen. Ein Mann schwang sich sofort wieder auf sein Fahrrad, um den Dorfarzt und die Rettung sowie die Polizei zu benachrichtigen. Doch bis der Dorfarzt und ein Krankenwagen eintrafen, war Dieter bereits tot. Wolfgang aber hatte die tödliche Waffe beide Beine zerfetzt. Sie mussten ihm später im Krankenhaus amputiert werden.

Bei dem „Eisenteil“ handelte es sich um eine britische Handgranate aus dem zweiten Weltkrieg. Sie war explodiert, während die beiden Jungen diese von der Erdkruste reinigten.