Wer ist Archibald Meerrettich?

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Wer ist Archibald Meerrettich?
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Maya Khoury

Wer ist Archibald Meerrettich?

Der neue Schüler

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vom Erdboden verschluckt

Die nächsten Tage

Sternchens Albtraum

Der silberne Stift

Der Rettich hat wieder schlechte Laune

Sternchen und Flips sind verschwunden

Ein schrecklicher Gedanke

Der Rettich lüftet sein Geheimnis

Ein grausames Experiment

Die Befreiung

Impressum neobooks

Vom Erdboden verschluckt

Kurz vor acht Uhr war die Welt für die Klasse 7 b des Gymnasiums eines kleinen Ortes an der Nordsee noch in Ordnung. Doch mit einem Schlag sollte ihre heile Welt gehörig ins Wanken geraten. Vom heutigen Tag an würde nichts mehr so sein wie vorher.

Zunächst begann der Schultag an diesem Morgen wie jeder andere. Das mysteriöse Geschehen bahnte sich schleichend an und niemand, weder Schüler noch Lehrkräfte, konnten sich an eine solche Begebenheit erinnern. Weil es sie noch nie gegeben hatte.

Die Mädchen und Jungen hatten es zu Beginn des Wochenanfangs nicht besonders eilig in die Schule zu kommen. Wer sehnte sich schon nach der Schule? Oder ihren Lehrern? Im angrenzenden Gebäude stand der Schulhausmeister hinter dem offenen Küchenfenster und schaute hinaus. Er beobachtete das übliche Gerangel und Gedrängel auf dem Schulhof und hörte das gewohnte laute Kreischen und Lachen. Die Jüngeren unter ihnen rauften und stritten sich schon wieder. Warum und vor allem um was sie sich stritten wussten sie meistens selbst nicht einmal.

„Aua, pass doch auf, du hast mir auf den Fuß getreten,“

hörte er durch das geöffnete Fenster und sah, wie ein großer Junge einen jüngeren grob zur Seite schubste. Aber er würde sich nicht einmischen. Das war nicht seine Aufgabe. Der kleinere Junge begann erbost aufzuschreien, denn er war mit dem Arm gegen die Mauer geprallt. Der Mann hinter dem Fenster schüttelte den Kopf und schnappte sich schließlich einen Eimer mit weißer Farbe, um in den Keller zu gehen und die Wände zu streichen. Denn die hatten es bitter nötig.

.

Im Klassenzimmer der 7 b schleuderte man erst einmal in hohem Bogen die dicken Schultaschen auf die Tische, hockte sich einträchtig zusammen und erzählte sich haargenau und minutiös, wie das Wochenende verlaufen war. Die meisten der Mädchen plauderten ihre kleinen Geheimnisse aus, die nun keine mehr waren, weil sie jetzt jede kannte. Und natürlich tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand über ihren jeweiligen Schwarm. Die meisten der Mädchen in diesem Alter schwärmten für irgendeinen Jungen.

„Der ist aber auch zu süß,“ wisperte Rike ihrer besten Freundin Sternchen zu und verdrehte verzückt die Augen. Es ging natürlich wieder um Sören aus der Oberstufe. Wie nervtötend das immer war.

„Gestern hat er mich endlich gefragt,“ fügte sie verschmitzt hinzu.

„Was ist an dem denn süß,“ gab Sternchen ein wenig unwirsch zurück.

„Und was hat er dich denn gefragt?“ Neugierig war sie schon. Wollte er sie etwa heiraten?

„Ob ich mit ihm gehen will natürlich,“ antwortete Rike, erstaunt darüber, wie naiv ihre Freundin doch eigentlich war. Was sollte er denn sonst wohl fragen?

In Wahrheit aber war Sternchen auch ein kleines bisschen neidisch, dass der Blödmann sich nicht für sie interessierte. Aber Schwamm drüber, sie gönnte ihn ja ihrer Freundin. Dennoch dachte sie im Stillen: Hoffentlich fällt die mit dem ordentlich auf die Schnauze. Denn dann würde sie ihre Freundin wieder für sich alleine haben. Wer war der denn schon? dachte sie abfällig. Und Pickel hatte der auch. Da half sicher die beste Salbe nichts.

Sternchen hieß in Wahrheit Jette Stern. Aber jeder rief sie Sternchen. Außerdem reimte sich auf Jette „die Fette“. Und irgendwie fand sie sich selbst ein wenig zu pummelig. Schon allein deshalb freute sie sich darüber, dass alle Sternchen zu ihr sagten. Manchmal aber rief man trotzdem Jette die Fette hinter ihr her. Dann konnte sie richtig wütend werden, was ja auch verständlich war. Denn wer mochte gern Jette die Fette gerufen werden? Wohl kaum jemand. Warum hieß sie eigentlich nicht Merle? Darauf reimte sich immerhin Perle. Hörte sich doch richtig gut an: Merle die Perle.

Die Jungen regten sich über Fußballtore auf, die nicht gefallen waren und warum der Torwart nicht ausgewechselt worden war. Palle konnte sich gar nicht wieder einkriegen.

„Dieser blöde Affe von Torwart sollte lieber auswandern.“

Aber wohin wusste er auch nicht zu sagen. Wer wollte schon so einen dusseligen Torwart? dachte er geringschätzig. Das nächste Mal würde er sich das Spiel mit diesem Versager erst gar nicht angucken. Doch wusste er jetzt schon, dass er sich auch ein nächstes Mal das Spiel wieder anschauen würde, denn er war ein Fan dieses in seinen Augen schwachsinnigen Vereins.

Um Punkt acht – denn ihr Klassenlehrer war die Pünktlichkeit in Person - betrat Herr Kieling die Schulklasse. Gleichmütig und betont langsam gingen alle zu ihrem Platz zurück und setzten sich. Herr Kieling begrüßte seine Klasse kurz und nahm vor dem Schreibtisch Platz. Seiner großen schwarzen Aktentasche entnahm er ein Buch mit enormen Ausmaßen, einen Kugelschreiber, ein großes hölzernes Lineal, einen Bleistift und ein Notizbuch und legte alles säuberlich geordnet auf den Tisch. Herr Kieling liebte nichts so sehr wie Ordnung. Schließlich setzte er seine Lesebrille auf und begann sogleich, in dem dicken Wälzer zu blättern und sich Notizen zu machen. Das Fach Geschichte stand auf dem Stundenplan. Für die meisten in der Klasse ein furchtbar eintöniges Thema.

„Herr Kieling, darf ich mal zur Toilette?“

fragte Nick und stand auch schon auf. Herr Kieling schob seine Brille auf die Nase und schaute ihn missbilligend über den Rand seiner Goldrandbrille an. Warum immer während des Unterrichts? wollte er fragen, tat es aber nicht sondern sagte:

„Na geh schon.“

Er schlug weitere Seiten in dem dicken Buch um. Die Klasse langweilte sich allmählich und wurde sichtlich unruhig, weil Herr Kieling gar nicht mehr aufhörte zu blättern. Was hatte der eigentlich vor? Sicher brütete er wieder so eine fiese Klassenarbeit aus. Dann kam Nick atemlos zurück in den Klassenraum und flüsterte seinem Tischnachbarn Fiete zu:

„Draußen auf dem Flur tobt vielleicht ein komischer Vogel herum.“

Er wollte sich schlapp lachen und hörte gar nicht mehr auf zu kichern. Der Klassenlehrer sah ärgerlich zu ihm herüber, wandte sich jedoch wortlos wieder seiner Lektüre zu.

Fiete aber tat so, als habe er nichts gehört und ließ sich ebenso wie die anderen, die Nicks laute Flüstern auch vernommen hatten, nicht stören. Er starrte mit leerem Blick aus dem Fenster und grübelte darüber nach, wie er sich am besten an seine stille Liebe aus der Parallelklasse heranmachen konnte, ohne sich zu blamieren.

Aber Nick ärgerte sich über Fietes Gleichgültigkeit. Dann eben nicht, dachte er, hockte sich wieder auf seinen Stuhl und las seelenruhig in seinen Comicheften, die er immer in seiner Schultasche hatte. Am liebsten hätte er auch noch die Beine hochgelegt, damit er es bequemer hatte.

Jule, die ganz hinten saß, war eingeschlafen, weil sie gestern Abend zu lange ferngesehen hatte. Ein wunderschöner Liebesfilm war über den Bildschirm geflimmert und hatte sie tief beeindruckt. Den konnte man doch nicht einfach den Fernseher abschalten, auch wenn sie sich danach noch Stunden lang im Bett herumgewälzt hatte, weil sie nicht einschlafen konnte. Und jetzt waren ihr die Augen zugefallen. Einfach so.

Der Rest der Klasse unterhielt sich laut. Einige spielten Stadt, Land, Fluss und diskutierten darüber, ob Kongo ein Land oder ein Fluss sei.

„Ist ein Land und ein Fluss, basta,“ beharrte Mareike. Meistens hatte sie Recht, denn sie galt als Klassenbeste.

„Streberin,“ fauchte Palle und ärgerte sich, dass nicht er darauf gekommen war, denn in Erdkunde machte ihm sonst so leicht niemand etwas vor.

Herr Kieling schaute plötzlich über seine Brillengläser hinweg auf die Meute, wie er sie in Gedanken liebevoll nannte, und klopfte mit dem Bleistift auf seinen Schreibtisch.

„Etwas ruhiger bitte,“ mahnte er und setzte eine strenge Miene auf.

„Es geht gleich los,“ und dann beugte er sich noch einmal über seinen dicken Wälzer. Zuletzt machte er sich noch ein paar Notizen und war offenbar zufrieden mit dem Ergebnis.

Gerade in dem Augenblick, als Herr Kieling seinen Geschichtsunterricht nun endlich beginnen wollte, klopfte es drei Mal leise an der Tür.

 

„Herein,“ rief Herr Kieling. Wer mochte das sein? Es waren doch alle vollzählig versammelt. Nur Nick hatte eine leise Ahnung, aber auf ihn wollte ja vorhin niemand hören. Alle Augen blickten nun gespannt auf den Eingang.

Doch nichts tat sich. Erst nachdem der Lehrer noch einmal laut und deutlich „Herein“ gerufen hatte, ging die Tür zunächst nur einen Spalt breit auf, bis sie sich wie im Zeitlupentempo ganz öffnete.

Umständlich betrat derjenige, der so ungeduldig hineingebeten worden war, das Klassenzimmer. Zunächst verharrte die Klasse in verdutztem Schweigen. Sie konnten nicht glauben, was sie sahen und ihre Augen wurden immer runder. Auch Herr Kieling schaute über alle Maßen erstaunt auf den fremden Jungen und musterte ihn ungläubig. Und das wollte schon etwas heißen, dass selbst er aus der Fassung geriet. Wenn auch nur ein wenig, denn er musste ja ein Vorbild für seine Klasse sein und gab sich auch jetzt Mühe, seinen Grundsatz nicht zu vergessen. Das wollte ihm trotzdem nicht ganz gelingen. Er starrte befremdet auf die eigentümliche Gestalt, die noch immer wie festgewachsen an derselben Stelle stand und wartete.

Plötzlich grölte die Klasse vor Lachen. Berti lag fast unter dem Tisch. Die Mädchen

glucksten und hielten sich den Bauch. Über Rikes Gesicht kullerten dicke Lachtränen. Nur Sternchen blieb einigermaßen ruhig und beäugte ihn mit unverhohlenem Interesse. Cooler Typ, dachte sie und überlegte sich in Gedanken schon einige Tricks, wie man diesen am besten umgarnen konnte. Dann würde dieser Sören aber gucken, dieser pickelige Jüngling.

Herr Kieling musste für Ruhe sorgen und schlug ein paar Mal mit dem Lineal auf das hölzerne Lehrerpult.

„Ruhe bitte.“ Er musste fast schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Und noch einmal rief er: „Ruhe jetzt,“ während er drohend mit dem Lineal herum fuchtelte.

Die Klasse beruhigte sich allmählich, ließ jedoch die seltsame Erscheinung nicht aus den Augen.

Herr Kieling blickte zweifelnd auf den Fremden, der sich mit zögerlichen Schritten seinem Schreibtisch genähert hatte und nun ein wenig unsicher vor ihm stand.

„Gestatten, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Archibald Meerrettich und ich bin Ihr neuer Schüler.“

Das sagte er und machte gleichzeitig eine vollendete Verbeugung vor dem Lehrer, riss dabei seinen Hut vom Kopf, schwenkte ihn in die Luft und gab Herrn Kieling beflissen die Hand. Diejenigen, die ihre Beherrschung nur mühsam wiedergewonnen hatten, begannen nun erneut, in unbändiges Gelächter und Gekreische auszubrechen. Selbst Herr Kieling konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wer aber war Archibald Meerrettich? Und warum lachten sie ihn aus?

Er trug einen dunklen altmodischen Anzug (wie aus Omas Klamottenkiste), ein blütenweißes Hemd mit dunkler Fliege und glänzend schwarze Lackschuhe. Seine langen schwarzgelockten Haare waren im Nacken mit einem dunkelblauen Samtband zusammengebunden. Den grauen Hut hielt er krampfhaft in der Hand und blickte nun mit scheuem Blick in die Klasse.

Archibald Meerrettich vermittelte den Eindruck, als sei er geradewegs einem alten Gemälde entstiegen. Für die Jungen und Mädchen in der Klasse, die durchweg Jeans, saloppe Hemden oder T-Shirts und mehr oder weniger verschlissene Turnschuhe trugen, gab er natürlich ein höchst seltsames Bild ab.

Dem Klassenlehrer kam unvermittelt in den Sinn, dass sich tatsächlich ein neuer Schüler in der Schule angemeldet hatte und ihm dieser zugeteilt werden sollte. Aber doch nicht schon heute! Er erinnerte sich vage, dass der ihm erst für die übernächste Woche angekündigt worden war. Das würde er sofort in der Pause mit dem Schulleiter besprechen. Hoffentlich vergaß er es nicht. Aber jetzt wollte er endlich mit dem Unterricht beginnen und blickte auf seine Armbanduhr. Verblüfft starrte er auf das Zifferblatt und schüttelte sein Handgelenk. Aber das änderte auch nichts. Durch das Fenster blickte er auf die Turmuhr der Kirche und verglich die Zeit. Tatsächlich war seine Uhr vor wenigen Minuten stehen geblieben, obwohl er erst gestern die Batterie gewechselt hatte. Er entschied, diese noch heute wieder umzutauschen, denn sie war scheinbar nicht in Ordnung.

Der Neue stand immer noch geduldig wartend vor dem Schreibpult.

„Setz dich bitte neben Flips,“ ordnete der Lehrer an, nun bereits sichtlich genervt, und deutete auf den leeren Platz in der zweiten Reihe. Herr Kieling hasste unvorhergesehene Zwischenfälle. Er wollte nun endlich mit seinem Geschichtsunterricht beginnen. Zuviel Zeit war schon durch diesen Vorfall verplempert worden.

Flips war jedoch entsetzt. Dieses weltfremde Wesen sollte neben ihm sitzen? Er rückte sofort ein großes Stück zur Seite, so dass er schon fast auf der Stuhlkante saß und beinahe seitlich hinunter gekippt wäre. Archibald Meerrettich setzte sich neben ihn und beäugte seinen Nachbarn unverhohlen von der Seite. Flips hingegen blickte stur gerade aus und nahm überhaupt keine Notiz von ihm. Für ihn schien er gar nicht vorhanden zu sein. Er war ganz einfach Luft für ihn. Und das sollte auch so bleiben. Basta.

„Er kann doch auch neben mir sitzen, hier ist doch auch noch ein Platz frei,“ meldete sich Sternchen mit fuchtelnden Armen und erntete einen strafenden Blick von ihrem Klassenlehrer. Der Neue aber drehte sich zu ihr um, sah sie dankbar an und lächelte ihr freundlich zu. Und Flips schaute böse zu ihr hinüber, denn er wurde jetzt ziemlich eifersüchtig. Was wollte die von dieser lächerlichen Witzfigur?

Sternchen aber war hin und weg. Was für tolle weiße Zähne der hatte. Und was für schöne Haare! Und das hübsche Gesicht erst mal. Voll goldig!

„Wir wollen nun über Attila dem Hunnenkönig sprechen,“ begann Herr Kieling ungerührt und ging bedächtig durch die Reihen.

„Wer war Attila?“ fragte er und sah einen nach dem anderen forschend an.

„Der Hund vom Nachbarn,“ kicherte es in den hinteren Reihen. Der Lehrer blickte unwillig auf Billy und Anne, entschied sich aber, die Bemerkung zu überhören, denn die Zeit war knapp und für Vorhaltungen wollte er jetzt keine Zeit verschwenden.

„Darf ich etwas zu dem Thema sagen?“ fragte Archibald Meerrettich höflich und sprang eifrig von seinem Platz auf.

„Streber,“ hörte man in den hinteren Reihen. Doch der Neue schien sich daran nicht zu stören.

Der Klassenlehrer nickte und wartete gespannt auf die Antwort des Neuen. Er hatte allerdings nur mit einem kurzen Beitrag gerechnet.

Archibald räusperte sich und begann zögernd, einen längeren Vortrag über Attila dem Hunnen zu halten. Sie erfuhren, dass Attila von etwa 406 bis 453 gelebt hat, dem asiatischen Nomadenvolk angehörte, welches während des 4. und 5. Jahrhunderts von den Kaspischen Steppen aus nach Westen vordrang. Attila war somit Beherrscher eines Großreiches zwischen Schwarzem Meer und dem Rhein.

Doch plötzlich versagte seine Stimme und er musste ein paar Mal nach Luft schnappen. Mit der einen Hand klammerte er sich an der Tischkante fest, als drohe er umzukippen. Doch er fing sich schnell wieder und sprach fließend und ohne Unterbrechung weiter.

„Im Jahre 451 fiel er in Gallien ein. Er traf dort auf den römischen Feldherrn Flavius

Aetius, der ihn in der Schlacht auf dem Katalaunischen Feldern besiegte. Es soll eine der schrecklichsten Schlachten des Altertums gewesen sein.“

Archibald Meerrettich stockte wieder Sekunden lang, fasste sich aber schnell. Herr Kieling kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Archibald Meerrettich wusste jede Einzelheit zu berichten. Er war ein wandelndes Lexikon. Sehr beeindruckend, fand Herr Kieling, äußerte sich jedoch nicht, um nicht den Unmut der Klasse heraufzubeschwören. Vielleicht würden sie ihn vorschnell aus ihrer Gemeinschaft ausschließen und ihn als Musterknaben abstempeln. Aber nach der Stunde könnte er ihn zur Seite nehmen und ihn nach seiner Schulbildung fragen. Möglicherweise sollte er in die nächsthöhere Klasse wechseln. Der Neue fuhr derweil unbeirrt fort:

„Attila starb im Jahre 453 in seiner Hochzeitsnacht mit der Gotin Ildikó. Die Todesursache wurde nie geklärt. Nach seinem Tod zerfiel das Reich.“

An dieser Stelle wurde er von Herrn Kieling unterbrochen.

„Sehr gut,“ lobte der Lehrer, blickte jedoch jetzt ein wenig gereizt auf seinen neuen Schüler, denn die Stunde näherte sich bereits ihrem Ende und der Neue schien überhaupt nicht aufhören zu wollen. Er stand immer noch aufrecht vor seinem Platz und machte keine Anstalten sich zu setzen.

„Soll ich auch noch das Gedicht über den Hunnenzug von Börries Freiherr von Münchhausen vortragen?“ fragte er in freudiger Erwartung und schaute Beifall heischend in die Klasse.

Herr Kieling verneinte aber entschieden.

„Nein, das ist erst einmal genug.“

Und das war es wirklich. Jetzt wollte er zunächst einmal gründlich über Attila dem Hunnenkönig mit seiner Klasse diskutieren. Dann sah man weiter.

„Widerlicher Streber,“ flüsterte Berti und Flips drehte sich um und stimmte ihm mit verschwörerischer Miene aus tiefsten Herzen zu. Palle aber war eingenickt. Sein Kopf berührte fast die Tischplatte. Er zuckte zusammen, als er einen schmerzhaften Stoß vom Ellenbogen seines Tischnachbarn spürte und sah in das dreckig grinsende Gesicht von Berti.

„Selber blöd,“ murmelte Palle und kam langsam in die Wirklichkeit zurück. Er setzte sich aber wieder ordentlich hin.

Herr Kieling sank ermattet auf seinen gepolsterten Stuhl, als ahnte er, dass er es mit

dem neuen Schüler nicht leicht haben würde. Er passte einfach nicht in seine Klasse.

Das fanden die anderen auch. Aber Sternchen war anderer Meinung. Hoffentlich würde sie später nicht enttäuscht werden. Gut, dass sie nicht in die Zukunft schauen konnte.

Der Klassenlehrer war sichtlich erleichtert, als es zur Pause läutete. Er würde später mit Archibald Meerrettich über dessen Schulbildung sprechen. Für heute reichte es ihm. Jedoch sollte er auch die nächsten Tage nicht dazu kommen, seinen neuen Schüler zu befragen.

Grüppchenweise versammelten sie sich in der Pause auf dem Schulhof, um über den Neuen zu quatschen. Das war erst einmal das Thema des Tages. Sowohl den Jungen als auch den Mädchen ging Archibald Meerrettich gehörig auf den Wecker. Man war sich ausnahmsweise einmal einig. Nur Sternchen tanzte aus der Reihe und nahm ihn in Schutz.

„Warum seid ihr alle gegen ihn?“ fragte sie. „Weil er so schlau ist und alles weiß? Oder weil er anders aussieht als wir?“

Da wurde sie mit bösen Blicken bedacht und sagte lieber erst einmal gar nichts mehr, denn sie wollte es sich mit den anderen nun auch nicht verderben.

Der Neue verharrte während der Pause still auf seinem Platz im Klassenzimmer und wartete geduldig auf die nächste Unterrichtsstunde. Er hatte sich den anderen nicht angeschlossen. Vielleicht hatte er befürchtet, wieder ausgelacht zu werden?

Mathematik stand auf dem Stundenplan. Nachdem es zum Unterrichtsbeginn geläutet hatte und alle wieder vollzählig versammelt waren, betrat Herr Krause, ihr Mathelehrer, den Unterrichtsraum. Er warf einen kurzen neugierigen Blick auf den fremden Schüler, beachtete diesen jedoch ansonsten nicht weiter. Natürlich war er schon von Herrn Kieling vorgewarnt worden. Aber er, das begnadete Genie Axel Krause, würde den Schüler mit Leichtigkeit in die Tasche stecken, will heißen diesen in jeder Hinsicht besiegen. Das wäre doch wirklich gelacht. Und deshalb machte er sich auch überhaupt keine Gedanken. Doch sollte auch er sich gewaltig irren.

Herr Krause griff lässig und schwungvoll nach der Kreide und schrieb ein paar mathematische Formeln an die Tafel. Dann drehte er sich um und schaute erwartungsvoll in die Klasse.

„Ich bitte höflichst um Entschuldigung, etwas ist offensichtlich falsch. Ich werde es korrigieren,“

bemerkte Archibald Meerrettich in seiner etwas geschwollenen Ausdrucksweise und stand auf. Herr Krause dachte zunächst, er habe sich verhört und verzog ärgerlich seine Mundwinkel nach unten. Der Neue ging unaufgefordert zur Tafel, nahm sich ein Stück Kreide und berichtigte die dritte Formel. Dann setze er sich wortlos wieder auf seinen Stuhl.

„Sonst wäre es unlogisch,“

meinte Archibald Meerrettich bescheiden und schaute den Lehrer treuherzig an.

Einige begannen leise zu kichern. Das geschah Herrn Krause, diesem Wichtigtuer, ganz Recht. Der Lehrer starrte auf die Tafel und mochte es kaum glauben.

 

Wie konnte ihm so ein Fehler unterlaufen? Er nahm sich vor, konzentrierter zu

arbeiten.

Sein Selbstbewusstsein schien jedoch stark angeknackst zu sein. Und er war mit einem Mal mit Herrn Kieling einer Meinung: Der Neue passte nicht hierher. Nicht etwa deshalb, weil er so begabt war, nein, nur wegen seines Äußeren und seines überheblichen Verhaltens, rechtfertigte er sich gedanklich.

In Wahrheit aber empfand er die außergewöhnliche Klugheit des Neuen als persönliche Bedrohung. Kein Schüler hatte ihn zu übertrumpfen, noch dazu vor der ganzen Klasse. Nachdem er noch drei weitere Formeln ausgearbeitet hatte, bat er Fiete an die Tafel. Dieser sollte sein Werk vollenden. Fiete stand unschlüssig vor der Tafel und konnte mit dem blöden Gekritzel überhaupt nichts anfangen. Er verfiel in Schweigen, sah auf den Boden, als könne er dort das Ergebnis ablesen, und hielt krampfhaft das Stück Kreide in der Hand. Doch kein Laut kam über seine Lippen.

„Rike, wie ist es mir dir?“ fragte er barsch seine Schülerin, obwohl er von vornherein wusste, dass auch Rike kläglich versagen würde. Aber auf irgendeine Weise wollte er sein Selbstvertrauen wiedergewinnen.

Das dauerte Herrn Krause einfach zu lange. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie wusste es auch nicht, denn Mathe war sowieso nicht ihr Ding. Und Formeln schon gar nicht. Auch ihre Freundin Sternchen hielt sich zurück. Sie beugte sich unter den Tisch und putzte sich umständlich die Nase – obwohl das gar nicht nötig war - um nicht an die Tafel zu müssen. Herr Krause forderte einen nach dem anderen auf, es wenigstens zu versuchen und übersah geflissentlich den Neuen, der wie ein Verrückter versuchte, auf sich aufmerksam zu machten. Er schien sich fast den Arm auszurenken. Zuletzt musste der Lehrer wohl oder übel nachgeben und bat mit innerem Widerwillen Archibald Meerrettich an die Tafel. Der kritzelte in Windeseile das richtige Ergebnis an die Tafel, so dass die Kreide ein quietschendes Geräusch verursachte.

„Fertig,“

sagte er triumphierend und betrachtete stolz sein Werk, legte die Kreide in den Behälter und begab sich zufrieden an seinen Platz. Herr Krause schürzte die Lippen und legte ärgerlich seine Stirn in Falten.

Nun ja, das war eben Zufall und er beschloss, den Neuen noch einmal zu testen.

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