KISHOU II

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Copyright: © 2021 Michael Kornas-Danisch

KISHOU II

Und so da ENTSCHIEDEN war

Und so da UNTERSCHIEDEN war

Und so da GETRENNT war

Das EINE von dem EINEN

So war da

RAUM

So war da

HIER

Und NICHT HIER

AUGE

Und HORIZONT

So war da ein SEHNEN und SUCHEN

Des EINEN

Nach dem ANDEREN

So war da ein SEHNEN und SUCHEN

Des EINEN

Nach SICH SELBST.

Das Drom der Afeten
Im Labyrinth des Unbegreiflichen und das Tal der Fügung

Die Zeichen des Dompteurs

Es war ein großer Tag für Tek. Er wusste sehr lange schon, dass in ihm ein ‚Dompteur’ heranwuchs – wie man seine außergewöhnliche Spezies in der hohen Ebene des Zweiten Tals Des Zweiten Droms bezeichnete. Früher gab es viele von ihnen, doch seit unzähligen Zeiten schon war keiner mehr unter dem Volk der Afetiten gewesen, der dessen große Kunst in sich trug.

Im Stamm der Grabenmacher allerdings herrschte Uneinigkeit darüber. Zu viele Zeiten waren vergangen, als der letzte Dompteur unter ihnen war. Mit dem Beginn des Versiegens der Großen Wasser vor langer Zeit schon, nahm ihre Zahl stetig ab – bis eines Tages keiner mehr unter ihnen war. Die meisten der Afetiten waren daher der Ansicht, dass die Zeiten der Dompteure vergangen, und die Zukunft niemals mehr einen von ihnen hervorbringen würde.

Gewiss, Tek trug das Zeichen des Dompteurs in den Augen – seine Augäpfel hatten diese unverkennbare zartblaue Färbung und die Pupillen in der tiefgrünen Iris bildeten einen aufrecht stehenden Spalt – wie es nur dem Dompteur zu Eigen war. Sie schützten ihn vor dem hypnotischen Blick des Rjuchhus, indem sie sich augenblicklich bei dessen Angriff schlossen – so konnte sein lähmender Blick nicht in sie eindringen. Aber es konnte auch alles eine Laune der Natur sein, dass Tek diese Zeichen trug. Zu viele Zeiten waren vergangen, als dass die meisten der Afetiten annehmen mochten, dass in ihm tatsächlich seit undenklichen Zeiten wieder ein Dompteur unter ihnen war. So gab es nur sehr wenige – vor allem unter den Alten – die meinten, in dem jungen Tek tatsächlich einen Dompteur zu erkennen, und sie wiesen ihn in die Kunst des Pfeilefangens in der Art ein, wie es in den Legenden überliefert, und wie es nur der Dompteur zu beherrschen in der Lage war.

Viel war von den Fähigkeiten und den Besonderheiten eines Dompteurs nicht mehr bekannt. Sie herrschen über sich selbst in einer Weise, das gar die Zeit die Macht über sie verlor – so erzählte man. Daher rührte wohl auch die Bezeichnung 'Dompteur', der doch nur die Hilflosigkeit spiegelte, der Unfasslichkeit seiner Kunst einen Namen zu geben. Hingegen ohne jeden Zweifel waren sie einzigartige Bogenschützen, und so unfehlbar sie den Pfeil in sein Ziel zu führen vermochten, sollten sie auch Gewalt über ihn gehabt haben, wenn sie selbst einmal sein Ziel werden sollten.

Tek hatte bereits viel der Zeit seines jungen Lebens damit verbracht, diese hohen Kunst zu erinnern und zu vervollkommnen – und nur ein Dompteur konnte es bis zu jener Vollendung bringen, dass er mittels seines Spinschuhs selbst viele Pfeile zur gleichen Zeit abzuwehren im Stande war. Der Stamm der Grabenmacher nutzte diese alte Verteidigungsstrategie der Dompteure, die dereinst von ihnen nur gegen das Rjuchhu gerichtet war, in aller Unvollkommenheit und so gut es eben ging, nunmehr in ihrem Kampf gegen die feindlichen Stämme der Langen Schatten – im Streit um die noch wenigen verbliebenen Oasen.

Der Spinschuh war eine kunstfertig hergestellte längliche Schale aus dem Holz des Turkelbaumes – denn nur der hatte die genügende Festigkeit und Härte, um dem Pfeil zu widerstehen. Der Grabenmacher trug ihn mittels einer Art Handschuh, mit dem der Spinschuh fest verbunden war. Mit dieser Vorrichtung fing er den Pfeil ab, um ihn in einer schnellen Drehung des Körpers wieder aus der Schale herauszuschleudern – möglichst in die Richtung, aus der er gekommen war.

Tek war gut vorbereitet, und dies nun war der Tag, an dem er seine Kunst erproben wollte. Dies war der Tag, an dem es sich zeigen sollte, ob er tatsächlich ein Dompteur war – oder eben nicht.

Die Grabenmacher hatten sich für das riskante Schauspiel weit aus ihrer befestigten Oase in bekannt gefährliches Terrain hineingewagt. Bis hierher reichten ihre Gräben und Tunnel nicht mehr. Späher hatten vorher hier an diesem Ort, wo es wie überall nur noch spärliche Anzeichen früherer Vegetation gab, lockeren Boden ausgemacht – ein gefährliches Zeichen. Der Boden war im allgemeinen sehr hart, spröde und ausgetrocknet. Dort wo er keine Risse aufwies, ein kleines Schotterfeld sich auszubreiten schien, oder auch sonst nicht die übliche Härte vermuten ließ, musste man mit dem Schlimmsten rechnen – einem Rjuchhu. Diese hatten nämlich die Eigenart, sich zu vergraben und mit Erde zu bedecken, um nicht erkannt zu werden. Sobald sich ihnen etwas näherte, erhoben sie sich aus dem Boden, um ihr tödliches Werk zu beginnen.

Es waren nicht viele, die mit Tek gekommen waren, um der Vorführung beizuwohnen. Es waren vor allem Alte, darunter seine Lehrer, einige besonders Tapfere und natürlich Rahon, der Erste des Stammes. Der glaubte auch nicht daran, dass Tek ein Dompteur war – zumal er nicht besonders kräftig aussah. Tek war noch sehr jung, und er hatte nicht die Statur, aus dem ein Recke hervorgehen sollte, aber Rahon war nun einmal der Führer des Stammes, und durfte nicht vor der Gefahr zurückschrecken, die diese Prüfung in sich trug.

In respektablem Abstand gruben sich die Neugierigen in den harten Boden ein, um einigermaßen Deckung zu haben, falls die Erde vor ihnen tatsächlich einen Rjuchhu in sich barg.

Als es soweit war, ging Tek allein hinaus in das freie Feld. Er ging sehr langsam, bis er nahe genug der Stelle war, an der die Konsistenz des Bodens bösen Verdacht aufkommen ließ. Dann blieb er stehen und wartete. Nachdem er so eine Weile regungslos gestanden hatte, griff er endlich zu seinem Spinschuh und zog ihn von der Schulter. Ohne jede Eile streifte er ihn über seine rechte Hand, und verfiel dann wieder in Regungslosigkeit. Er schien zu wissen, wann die Zeit war – und sie kam.

Dort, wo das Erdreich jene verräterische Konsistenz eines lauernden Rjuchhu aufwies, wölbte sich plötzlich der Boden nach oben. Die sich aufbäumende Blase hatte nur kurzen Bestand, bevor sie den Körper des Rjuchhu freigab. Seine Form erinnerte an eine umgestülpte flache Suppenschüssel von beträchtlichen Umfang. Die erkennbare Oberseite des Wesens bestand aus einer einzigen dunkelgrauen, groben Hornplatte, über die sich feine, helle Linien quer über den gesamten Panzer zogen. Worauf es sich erhob – oder auf welche Weise es sich fortbewegte, war nicht zu erkennen. Auf der Tek zugewandten Seite der schweren Hornplatte des Untiers war eine Mulde, in dem eine Kugel ruhte – und zu beiden Seiten dieser Mulde öffneten sich, kaum das es aus dem Boden hervorgebrochen war, seltsame rohrartige Gebilde, die wie die Nüstern einer überdimensionierten Nase aussahen, und in dessen Innern, lange, dünne Stachel aus der Wandung ragten.

Einen winzigen Moment stand sich das ungleiche Paar gegenüber, dann katapultierte plötzlich dieses kugelförmige Gebilde aus der Vertiefung des Panzers, und schlug nach kurzem, hohen Flug, gehalten von einer Art Liane, die ihren Ursprung im Zentrum der Mulde hatte, nur wenige Schritte vor Teks Füßen in den Boden. Ein seltsames augenartiges Etwas stierte Tek aus dieser Kugel heraus an. Es bestand aus einer großen, kreisrunden und grellgelben Fläche mit einem großen und nicht minder grellen, roten Punkt darin, der, umspielt von in wilder Bewegung herumtanzender schwarzer Punkte und fadenförmiger Linien, in dessen Zentrum ruhte.

Die Grabenmacher, die das Schauspiel beobachteten, hatten sich längst schon leichte Tücher vor die Augen gelegt, so konnten sie gerade noch ein ungefähres Bild von der Szene bekommen – waren dafür aber einigermaßen sicher vor dem paralysierenden Blick des Unwesens.

Tek reagierte nicht – aber das konnte alles heißen. Niemand reagiert, dessen Blick von dem Auge eines Rjuchhu erfasst worden war – er erstarrt zu einem unbeweglichen Ziel, an dem das Rjuchhu sein Werk ungehindert vollenden kann. Doch Teks Regungslosigkeit war zu diesem Zeitpunkt noch kein Indiz für sein Versagen – denn auch der Dompteur würde in Unbeweglichkeit verharren. Er würde warten. Warten auf den Moment des eigentlichen und todbringenden Angriffs des Rjuchhu. Und der kam.

Teks Pupillen hatten sich längst reflexartig geschlossen, als der Kopffortsatz des Rjuchhu vor ihm einschlug. Er konnte noch immer gut sehen, aber es waren keine Farben mehr. Seine Umgebung zeigte sich nur noch in grauen Tönen. Und in dem Unterschied, der das Dunkle von dem Hellen trennt, sah er auch einige Augenblicke später die langen Stacheln auf sich zurasen, die das Untier aus seinen Nüstern gegen ihn blies. Wohl ein Dutzend kleiner spitzer Pfeile suchte nach ihm, denen sofort eine zweite und eine dritte Salve des Ungeheuers folgte.

Nun reagierte Tek.

~*~

Das neue Land

Vor Kishous Augen, in erahnbarer Ferne, tat sich ein Licht auf, das sich allmählich vergrößerte. Das Ende des Allsein, und der Eintritt in die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms. Eine seltsame Schwere begann sich in ihr auszubreiten. Das Laufen bereitete zunehmend Mühen – als würde etwas versuchen, sie aufzuhalten. Alles um sie herum bewegte sich verlangsamt, wie durch tiefes, schweres Wasser – doch gleichzeitig zog auch etwas an ihr ... Ein unaufhaltsamer Sog bestimmte die Richtung ... Sie hatte keine Kontrolle mehr über irgend etwas. Es war ein Zerren, Halten und Ziehen gleichzeitig, und ein milchiger Schleier legte sich über ihr Bewusstsein – allein das Ziel war bestimmt. Alles Drängen, Aufhalten, Ziehen und Zerren hatte nur eine Richtung ...

 

Das Licht in der Ferne vergrößerte sich zusehends, und gewann derart an Intensität, dass die Augen schmerzen. Es musste bereits in ihr sein, denn es half nicht mehr, sie zu schließen. Gleichzeitig verstärkte sich die Schwere ihres Körpers. Ein unerträglicher Druck presst ihre Brust zusammen, dass sie für einen Moment nicht mehr Atmen konnte. Gerade als die Panik in ihr aufkommen wollte, war es schlagartig vorbei.

Sie atmete befreit tief durch und öffnete die Augen. Erstaunliches bot sich ihnen. Sie fand sich und ihre Gefährten in einer Art Waldlichtung – oder genauer – eigentlich wohl tatsächlich in einer großen Waldlichtung.

Doch dieser Wald war nicht gerade dicht zu nennen, und die verblichenen Stämme der Bäume hatten keinerlei Blätter. Ausgeblichen und nackt standen sie da herum, wie skurrile Skelette. Der Boden war bedeckt mit hohem Gras – oder es sollte zumindest einmal welches gewesen sein, denn es erinnerte hier eher an verstreut eingestampftes Stroh. Der überall sichtbare Boden zwischen den Büscheln war hart und ausgetrocknet und von feinen Rissen durchwebt.

Wo die Baumskelette den Blick in das unbekannte Land nicht verstellen konnten, zeigte sich eine weite Steppe – und in der Ferne vereinzelte Berge, aus denen dunkler Rauch wie Säulen senkrecht in einen hellblauen Himmel aufstiegen, als wollten sie ihn stützen.

Sie drehte sich auf der Stelle und betrachtete prüfend das noch nie zuvor Gesehene ... „Das Allsein ...!“, fiel ihr plötzlich auf. „Es ist weg!“ Ihre Augen suchten angestrengt die Gegend ab, aus der sie gekommen waren – oder von der sie zumindest meinte, dass sie gekommen waren. „Die Berge ... Die Stadt der Tausend Spiegel ...! Wo ist denn das alles?“

„Das verdrängte das Allsein im Ersten Tal der Ersten Ebene des Ersten Droms, wenn ihr erlaubt!“, erklärte das Untere Squatsch sogleich willfährig. „Im Ersten Drom! Dies hier ist nicht das Erste Drom, wenn ihr gestattet. Hier verdrängt die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms das Allsein. Ja, ja – das Zweite Drom – und wo das Eine ist, kann das andere nicht sein. Nein, nein – kann es nicht. Nun, also ... es ist vielleicht nicht ganz nach eurem Geschmack, aber es ist ...!“

„Aber man kann ja gar nicht mehr erkennen, wo wir hergekommen sind. Wie kommen wir denn dann wieder zurück?“, wurde er von einer erschrockenen Kishou unterbrochen.

„Zurück ...!“, schmeckte das untere Squatsch das Wort ab, und seine buschigen Augenbrauen zuckten fragend in die Höhe. „Nun, also ... zurück ...” Der für seine gedrungene Gestalt viel zu große Kopf wiegte nachdenklich auf dem kurzen Hals hin und her. „Also ... ein ,Zurück’ lässt sich nicht vom Allsein verdrängen. Verzeiht meine Unbemessenheit. Aber im Großen Belfelland ... hier haben die Pfade immer nur eine Richtung. ... immer nur ein Richtung!“ Er unterstrich seine entschuldigende Geste mit einem bedächtigen Schulterzucken.

„Wie?!“, horchte Kishou auf. Es gibt keinen Weg zurück? Du meinst, ich kann nicht mehr nach Hause zurück?!“ Eine tiefe Betroffenheit zog sich über ihr Gesicht, und sie fühlte, wie etwas in ihr kurz davor war, die Fassung zu verlieren.

„ja – nein, nein ...!“, suchte das Untere Squatsch nach Worten.

„Madame KA sagt, man findet seine Vergangenheit immer auf dem Wege, der vor einem liegt!“, schaltete sich Mo mit ihrer klaren Stimme besänftigend ein.

In Kishou flogen die Gedanken durcheinander. Sie verstand das nicht – aber hatte ähnliches Trautel Melanchful nicht auch einmal gesagt – kurz bevor sie in jener Nacht den seltsamen Schlüssel aus der Truhe zog? Und so, wie Mo es nun sagte, klang es doch irgendwie, als würden sie dennoch nach Hause finden – und sie wollte unbedingt, dass es so gemeint war. Es musste so gemeint sein! „Du meinst, ich komme trotzdem wieder nach Hause?“, fragte sie entsprechend suggestiv. Und sie erwartete unbedingt ein klares ,Ja!’.

Mo zeigte ihr geheimnisvolles und fast unmerkliches Lächeln, und als hätte sie die Gedanken Kishous gelesen, sagte sie denn auch tatsächlich dieses „Ja!“ mit der geforderten Klarheit: „... so ist es entschieden und vom Allsein getrennt!“, fügte sie noch hinzu.

Kishou fiel ein großer Stein vom Herzen. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, lachte sie nun befreit in die Richtung des Unteren Squatsch, der verlegen mit dem Kopf wackelte. „Verzeiht meine kleine Unbemessene Verdrängung des Allsein!“, entschuldigte er sich.

„Ist schon gut!“, wiegelte Kishou sehr beruhigt ab und blickte nun endlich interessiert um sich herum. „Es ist alles vertrocknet hier – sieht richtig unheimlich aus. Aber immerhin gibt es hier endlich wieder sowas wie Bäume und Pflanzen. Ich dachte schon, ich seh’ sowas gar nicht mehr. Sieht es hier überall so aus?“, fragte sie zweifelnd beim Anblick der hölzernen Skelette.

„Ja! ... Nein. Nein, es verdrängen noch einige Oasen ... einige Oasen in diesem Drom das Allsein!“, berichtigte sich das Untere Squatsch eilig. „Einige Oase verdrängen hier durchaus noch das Allsein ... verdrängen sie. Nicht viele, aber noch einige. Einige noch!“

„Oasen? Was ist das?!“

„Nun – es sind ...”, überlegte das Untere Squatsch. „... es verdrängt dort noch einiges Wasser das Allsein. Einiges Wasser noch. Also ... es erscheint dort alles so, wie es einst überall das Allsein verdrängte. Überall! – mit Blättern ... und Blüten und so ..., wenn ihr meine Worte vom Allsein verdrängen und wohl bemessen könnt!“

Kishou konnte! – und ihre freudige Erregung war nicht zu übersehen. „keine Sorge, ich hab’ ja nun schon einige Übung mit eurer komischen Ausdrucksweise. Du meinst also, hier gibt es noch richtige Bäume mit Blättern und Blumen und richtiges Wasser?“ Ihre Augen leuchteten. „Kommen wir auf dem Weg ins Dritte Drom an solchen ... Oasen vorbei?!“, fragte sie sogleich.

„Ja, ja – nein ... nun ...!“ Das Untere Squatsch wiegte fast verzweifelt seinen Kopf hin und her, und wollte mit der Antwort wohl nicht so recht heraus.

„Wie ...! Nicht?“, fragte Kishou, und eine tiefe Enttäuschung wollte sich in ihr breit machen.

„Doch, doch!“, beeilte sich das Untere Squatsch sofort abzuwiegeln, begann aber sogleich wieder mit dem zweifelnden Wiegen seines viel zu großen Kopfes. „Es ist nur nicht so einfach ... nicht ganz einfach ...!“

„Wieso?!“, maulte Kishou.

„Nun ... es verdrängt seit vielen Zeiten das Allsein ein ...“, er suchte verzweifelt den Blick von Mo. Die aber schaute gleichfalls interessiert. Sie war seit Unzeiten nicht mehr in diesem Drom gewesen, und wusste ebensowenig wovon das Untere Squatsch sprach, wie Kishou. Das gleiche traf auch auf Boorh zu – aber den bezog das Untere Squatsch eh nicht in sein Hilfeersuchen ein. „Nun ... also – da sind zum Einen die Stämme der Grabenmacher ...!“

„Grabenmacher?!“, fragte Kishou nach.

„Ja ... die Stämme der Grabenmacher. Der Grabenmacher – und die Stämme der Langen Schatten!“

„Und?!“, bohrte Kishou weiter.

„Nun ja ... also ... ihr müsst bemessen ... vor sehr vielen Zeiten verdrängten eine Vielzahl von Stämmen das Allsein der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms. Sehr viele Stämme!“, sprudelte er nun endlich los. „Aber die Wasser versiegten. Es verdrängte also nicht mehr genügend der Wasser das Allsein. ... nicht mehr genügend! Das Land verdorrte. Es verdorrte. und und es war entschieden, dass die Stämme der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms in großen Entscheidungen miteinander ihre Kräfte bemaßen. Viele Entscheidungen verdrängten das Allsein ... in vielen Zeiten ... bis nur noch zwei der Stämme das Allsein verdrängten. Nur zwei noch. Denn es kann nicht einer sein, wo der andere ist! – Wem sag’ ich das. Wem sag’ ich das!“ Er machte eine entschuldigende Geste in Richtung Mo, bevor er fortfuhr. „Alle Oasen, die noch das Allsein verdrängen in dieser Zeit ... alle Oasen sind nun Reviere der Grabenmacher oder der Langen Schatten. Und da der eine Sein will, wo der Andere ist, ... verdrängen noch immer große Bemessungen der Kräfte das Allsein! Noch immer!“, schloss er mit bedauerndem Schulterzucken.

Kishou hatte mit großen Augen dem Bericht gelauscht und ließ nun hörbar die Luft aus ihrem Munde entweichen. „Ach du Schreck. Versteh' ich das richtig? Du meinst die Kämpfen gegeneinander?“, versicherte sie sich noch einmal es richtig übersetzt zu haben.

„So ist es entschieden, und so verdrängt es das Allsein!“, bedauerte das Untere Squatsch.

„So ’n Mist! ´s wär’ ja auch zu schön gewesen!“, fiel es enttäuscht aus Kishou heraus. „Aber du und Boorh sind doch so was wie die Könige der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms, wenn ich richtig verstanden habe ...?!“, fiel ihr plötzlich ein.

„ja, ja – selbstverständlich! Ohne jeden Zweifel! So ist es Entschieden und so verdrängt es das Allsein!“, bestätigte das Untere Squatsch mit Nachdruck – und seine gedrungene Gestalt war bemüht, sich möglichst gerade aufzurichten. „Meine Wenigkeit ist Herrscher über die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms. So verdrängt es das Allsein – ... verdrängt es!“, Proklamiert er in bemüht majestätischer Haltung.

„Und du konntest da nichts machen?!“, fragte Kishou erstaunt.

„Nein ... nein ...!“, kam es nun allerdings sehr zögerlich aus dem Unteren Squatsch heraus. Er sackte wieder etwas in sich zusammen, während seine kleinen Kulleraugen unzielgerichtet durch die Gegend wanderten. Der Fortgang der Unterhaltung war ihm sichtlich unangenehm. „Aber das Drom ... wird ja sowieso ins Allsein überführt. ... wird es. Wen kümmert’s ... so verdrängt doch immerhin ein wenig Abwechslung das Allein ...!“, versuchte er unbeholfen abzuwiegeln. „Oh – oh ... verzeiht meine kleine Unbemessene Verdrängung!“, war er sogleich bemüht, sich zu entschuldigen. Es war ihm immerhin schnell klar, dass seine letzte Bemerkung nicht ,vollkommen bemessen‘ war. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr es seid, die kommen wird! Keine Ahnung!“, versuchte er sich nun in einer Erklärung. „Nicht die geringste! Keine Ahnung! Verzeiht die Unbemessenheit meiner Verdrängung. Trautel Melanchful hat wohl in ihrer Ankunft entschieden, ... dass ihr es seid, die das Allsein in der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms verdrängen werdet. Ja, das hat sie. Aber… die Ankunft war nicht vollkommen bemessen vom Allsein verdrängt. Nicht vollkommen bemessen! Wenn ich gewusst hätte, dass ihr es seid ... ihr es seid ...!“

Er sprudelte plötzlich wie ein Wasserfall und gestikulierte dabei wild mit seinen kurzen Ärmchen. „Ich habe kein Vertrauen zu Trautel Melanchful. Kein Vertrauen! Ich habe das Allsein in der Stadt der tausend Spiegel eigentlich nur verdrängt, ... nur verdrängt, um die Gelegenheit zu nutzen, diesem plattfüßigen Axtträger da ...!“ Er machte eine kleine Geste zu Boorh, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Oh… oh, verzeiht meine kleine Unbemessene Verdrängung!“, beeilte er sich, sich zu entschuldigen. „... mit Boorh ... mal einige ernste Worte vom Allein zu verdrängen! Ja, das wollte ich. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr es seid. ... ihr es seid ... Verzeiht die Unbemessenheit meiner Verdrängung! ... Das Untere Squatsch ist überaus stolz, ... sehr stolz mit euch gemeinsam das Allsein auf dem Pfad zur großen Entscheidung mit Suäl Graal zu verdrängen!“, verkündete er nun fast hastig mit würdevoller Geste, um ihr dann vertraulich und mit gedämpfter Stimme zuzuraunen, „Ich weiß nur nicht, was dieser hochbeinige Bartträger damit zu tun hat?!“ Er zuckte jedoch im gleichen Moment etwas zusammen. „Verzeiht meine kleine Unbemessene Verdrängung!" Er musste wohl immerhin erahnen, dass seine Häme gegen Boorh nicht unbedingt etwas für die Ohren von Kishou war – aber es sollte ihm wohl niemals gelingen, sich rechtzeitig zu bremsen.

„Ich weiß gar nicht, was ihr alle gegen Trautel Melanchful habt!“, schüttelte Kishou verständnislos den Kopf. „Sie hat nie so von euch gesprochen. Sie hat mich doch ausdrücklich zu euch geschickt, weil sie meinte, dass ich es nur mit euch zusammen schaffen kann. Wieso ...!“

„Verzeiht die Unbemessenheit meiner Verdrängung!“, wurde sie vom Unteren Squatsch unterbrochen, während er sein Jackett mit den Händen glättete, und sich in die Brust warf. „Wenn ihr so entscheidet, so ist es entschieden und so verdrängt es das Allsein!!“ proklamierte er. „Selbstverständlich stehen die bescheidenen Kräfte ... die bescheidenen Kräfte, die in mir das Allsein verdrängen, euch in allen Zeiten ... in allen Zeiten zur Verfügung. Gemeinsam werden wir die große Entscheidung vom Allsein verdrängen – werden wir!. Auch die anderen werden immer an eurer Seite sein…!“, vollendete er mit erhabenen Gesichtsausdruck., „... und von ihren Kräften vom Allsein verdrängen, was immer ihnen möglich ist ... ihnen möglich ist! ... wenn es auch noch so wenig ist!“, schloss er wie beiläufig ab.

 

„Ist schon gut!“, lächelte Kishou. „Ich freu‘ mich riesig, dass ihr bei mir seid, aber lass uns lieber jetzt nicht von Suäl Graal sprechen. Bis ins Dritte Drom ist es sicherlich noch ein ganzes Stückchen, und wer weiß, was uns bis dahin noch alles erwartet. Lasst uns also aufbrechen.

„Oh ja – oh ja, was uns erwartet. Was uns erwartet ...!“, reagierte das Untere Squatsch, und wiegte dabei vielsagend seinem Kopf – als er von der ohrenbetäubenden Stimme Boorhs unterbrochen wurde, der in vollem Brustton den Namen „Kurluk!“ brüllte, und dabei die Hände zu einem Trichter geformt, vor den Mund hielt.

Das untere Squatsch zuckte merklich zusammen.

„Kurluk!“, rief Boorh noch einmal und lauschte dann wieder konzentriert in die Steppe hinein.

„Wer ist ,Kurluk’?!“, fragte Kishou verwundert.

„Nun ... also ...!“ Das Untere Squatsch zeigte sich seltsam kleinlaut, und schielte verstohlen zu Boorh hinüber. „Also Kurluk’ ist ... ähm ...”

„Wo ist der Ort, an dem Kurluk das Allsein verdrängt!“, wurde er in diesem Moment von Boorh angefahren.

Durch das Untere Squatsch ging erneut ein merklicher Ruck „Nun ... also ... Kurluk ist ...”, begann er zuerst sehr gedrückt – um sich nach einem verstohlenen Blick in die Runde dann doch so hoch er eben konnte aufzurichten. „Das Untere Squatsch hat Kurluk mit Hilfe der Grabenmacher vor sehr vielen Zeiten bereits in der Erde, und nahe dem Allsein festgesetzt!“, verkündete er nun in einem erstaunlich zusammenhängenden Satz und ebenso unmissverständlich in die Richtung Boorhs. „Ihr müsst bemessen ...”, wendete er sich sogleich vertraulich an Kishou, als es Boorh erst einmal für einen Moment offenbar die Sprache verschlagen hatte, „... Kurluk verdrängt nicht gerade in Einfachheit das Allsein. Er verdrängt das Allsein, wie Boorh es verdrängt – gewissermaßen … wenn ihr bemessen wollt, was ich meine… Nur er kann ihn beherrschen – und Mo, versteht sich. ... Und Mo! In ihm war ein Ärgernis verdrängt vom ...” Weiter kam er nicht.

Boorh hatte offensichtlich seine Fassungslosigkeit überwunden. „Wo ist der Ort bemessen, an dem Kurluk das Allsein verdrängt!“, brüllte er donnernd auf die kleine gedrungene Gestalt des Unteren Squatsch hinunter, und er sah dabei aus, als wollte er sich jeden Moment auf ihn stürzen.

„Ruhig, Dicker. Ruhig!“, bemühte sich das Untere Squatsch die Situation herunterzuspielen. „Wir werden diesen ,Großzahnträger‘ ... schon wieder vom Allsein verdrängen ... werden wir schon!“

„Wo ist der Ort bemessen, an dem Kurluk das Allsein verdrängt!“, donnerte es noch einmal dröhnend aus dem Munde Boorhs.

„Ich kann es nicht entscheiden!“, reagierte das Untere Squatsch nun doch etwas nervös. „Es sind inzwischen so viele Zeiten vergangen ... viele Zeiten!“, entschuldigte er sich bei Kishou, die nur immer wieder verwundert mit großen Augen vom Unteren Squatsch zu Boorh – und wieder zurück schaute. „Ich kann es nicht entscheiden!“, gestand er nun auch Boorh. „Kurluk ist dein! Kurluk ist bemessen in deiner Zeit ... in deiner Zeit! du musst den Ort vom Allsein trennen! – Er gehört zu Boorh!“, wendete er sich nun wieder an Kishou. „Er gehört zu seinem Revier. Zu seinem Revier! Er muss bemessen, wo sich vom Allsein verdrängt, was das Seine ist – wenn ihr meine Worte wohl bemesst!“

Kishou schaute noch immer mit großen Augen, und ,bemaß nicht wohl’ – und Boorh schäumte. Er wendete sich ins Landesinnere und sein Blick glitt konzentriert über den Horizont. Nun war es wenigstens endlich still. Auch das Untere Squatsch war verstummt. Boorhs Mine war finster, wie er den Horizont durch die Baumskelette hindurch abtastete.

Ohne den Blick abzuwenden, bewegte er sich nach einer Weile auf Mo zu, und beide nahmen sich bei den Händen. Eine ganze Weile standen sie so da, gemeinsam Hand in Hand, und fixierten den Horizont – als Mo plötzlich leicht in einem bläulichen Ton zu fluoreszieren begann. Nur wenig später hob sich ihr rechter Arm und ihre Hand wies in eine Richtung. „Es ist entschieden!“, sagte sie nur. Der Schein um sie herum verschwand, und ihre Hände lösten sich.

Ein zufrieden grinsender Boorh wandte sich um. „Boorh entscheidet: Der Pfad zu dem Ort, an dem Kurluk das Allsein verdrängt, ist von Boorh bemessen und in Mo entschieden!“ Er schaute dann doch etwas betreten zu Kishou hinüber und stapfte zu ihr. „Verzeiht Boorhs kleine Unbemessenheit. Boorh entscheidet: Kurluk ist sehr wichtig für Boorh, und Boorh ist sehr wichtig für Kurluk!“

Kishou war heilfroh, dass Boorh sich wieder beruhigt hatte, und stupste ihn neckisch in den haarigen Bauch. „Ist schon gut, Dicker!“, grinste sie. „Ich darf das doch sagen, oder?!“, raunte sie leise zu ihm nach oben.

Das breite Grinsen Boorhs war Antwort genug. „Entscheidet Kishou noch ein wenig das kleine Allsein aufzusuchen, bevor ihr die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms vom Allsein verdrängt?“, fragte er.

„Nein, lass mal!“, winkte sie ab. „Ich fühl‘ mich gut – eigentlich fast wie gerade ausgeschlafen!“, fiel ihr nun auf, und ihr Blick wandte sich, die Sonne suchend, zum Himmel. „Komisch...!“, wunderte sie sich. „Der Tag kann noch nicht besonders alt sein. Wie lange waren wir dem im Allsein unterwegs?“

„Boohr entscheidet: Im Allsein ist keine ,Länge’ bemessen!“

„Wie – keine ,Länge’?!“

„Boorh entscheidet: Allsein ist nicht ,lang’!“, versuchte er es noch einmal.

Hä? ... aber wir waren doch ...!“

„Nein, nein!“, mischte sich das Untere Squatsch ein, und watschelte mit wichtigem Gang zu den Beiden hin. „Nur das vom Allsein Verdrängte hat eine ,Länge’. Nur was vom Allsein verdrängt ist! Allsein ist nicht verdrängt vom Allsein! – nein, das ist es nicht – also hat es keine ,Länge’!“

„Versteh' ich nicht ... ich kann mich doch noch genau erinnern!“

„Erinnern ... Erinnern ...!“ Das Untere Squatsch wiegte seinen Kopf zweifelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen hin und her. „Erinnern hat ,Länge’. Erinnern ist: vom Allsein verdrängen!“, dozierte er. „Erinnern ist in Kishou – ja das ist es! Kishou ist verdrängt vom Allsein! Kishou hat Erinnern und ,Länge’! Aber Allsein hat kein Erinnern! Allsein hat keine ,Länge’! – Nein, hat es nicht!“ Er schüttelte noch einmal nachdrücklich den Kopf.

„Ich werd’s überschlafen!“, wehrte Kishou achselzuckend ab. „Lass uns erstmal los, sonst stehen wir noch morgen hier!“

Es war doch alles etwas verwirrend, und die praktische Orientierung in der neuen und fremden Umgebung schien ihr erst einmal doch wichtiger und spannender. So machte man sich endlich auf den Weg, und nahm die Richtung, die Mo vorgab.

Von den unzähligen Baumskeletten abgesehen, die überall in großer Zahl – mal in kleinen Gruppen, oder etwas weiter entfernt, zuweilen auch als offenbar ausgedehnte Wälder auftauchten, war es eine ausgesprochene Steppenlandschaft – mehr oder weniger übersät von dicken Grasbüscheln und vereinzelten Sträuchern und Büschen, die in einem harten, von feinen Rissen durchzogenen Boden staken. Alles war verdorrt und stand regungslos und stumm in der Landschaft, wie Mahnmale einer vergangenen Zeit. Vereinzelt erhoben sich in der Ferne Berge. Auf manchen von ihnen standen jene dunklen Rauchsäulen, die Kishou schon bemerkt hatte, und die den Berg gradlinig mit dem Himmel verbanden. Mit zunehmender Höhe breiteten sie sich aus, bis sie sich mehr und mehr im Blau des Himmels verloren.