Rassistische Polizeigewalt und Diskriminierung in den USA

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Rassistische Polizeigewalt und Diskriminierung in den USA
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Michael Brown Shooting

Sonntag, 10. August 2014

Die Armut und Segregation in den USA

Montag, 11. August 2014

Dienstag, 12. August 2014

Mittwoch, 13. August 2014

Donnerstag, 14. August 2014

Freitag, 15. August 2014

Samstag, 16. August 2015

Sonntag, 17. August 2015

Montag, 18. August 2014

Dienstag, 19. August 2014

Mittwoch, 20. August 2014

Donnerstag, 21. August 2014

Samstag, 23. August 2014

Sonntag, 24. August 2014

Montag, 25. August 2014

Ende August 2014

September 2014

Skandal um Amtsgerichte

Oktober 2014

Senatswahlen 2014

Anfang November 2014

Die Grand Jury Entscheidung

Die Inhaftierungskultur in den USA

Der Kampf des New Yorker Buergermeisters

Folterpraktiken der CIA

Die gerichtliche Aufarbeitung in Ferguson

Die Amoktat in New York

Anfang 2015

Obamas Rede in Selma zum Rassenkonflikt

Abschluss

Anhang 1 - Das Grand Jury Verfahren

Anhang 2 - Kurze Geschichte des Rassismus in den USA

Anhang 3 - Kleine Chronik der Polizeigewalt

Weitere Werke Government Shutdown USA 2013

Michael Miller

Rassistische Polizeigewalt und Diskriminierung in den USA

Die Erschießung Michael Browns und die Rassenunruhen in Ferguson 2014

Impressum

Copyright: © 2016 Michael Miller

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Ebook ISBN 978-3-7418-4041-8

Print ISBN 978-3-7375-6762-6

1. Auflage 2016

Michael Brown Shooting

In den landesweiten Medien der USA sowie in der internationalen Presse wird am Montag, dem 11. August groß über einen Fall eines erschossenen Teenagers durch einen Polizisten in der Kleinstadt Ferguson, einem Vorort von St. Louis im Bundesstaat Missouri, berichtet. Relativ schnell verbreitet sich diese Nachricht vom Wochenende über lokale auf landesweite Medien, um einen Tag später auch internationale Beachtung zu finden. Grund allein ist nicht die schreckliche Tat eines erschossenen Jugendlichen an sich, wie sie sich tausendfach im Jahr in den USA abspielt und als „gun fire“, wenn überhaupt, nur in die lokalen Nachrichtenmeldungen schafft. Interessant wird diese Meldung für die Medien, als sich einen Tag nach der Tat tumultartige Szenen vor der Polizeistation abspielen, von der der Polizeischütze kommen soll. Empörte Bürger des Stadtviertels versammeln sich zuerst am Tatort, um kurze Zeit darauf vor der Polizeistation zu demonstrieren und lautstarke Sprechchöre wie „Erschießt mich nicht“ zu skandieren. Die Stimmung ist aufgebracht und eilig gebastelte Protestschilder klagen über Polizeigewalt und alltäglichen Rassismus gegen afroamerikanische US-Bürger. Ein Protestschild mit der Aufschrift „Die Polizei hat meinen unbewaffneten Sohn erschossen!“ soll von Louis Head, dem Stiefvater des erschossenen Jugendlichen, hochgehalten worden sein. Das Polizeirevier stellt sogleich in kompletter Schutzkleidung ausgestattete und mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten vor die Polizeistation in einer Reihe ab. Der Name des Jugendlichen war Michael Brown.

Die Wut richtet sich am Anfang gezielt gegen die Polizei von Ferguson. Die Demonstranten vermuten recht schnell einen rassistisch motivierten Akt von Polizeigewalt. Michael Brown war Afroamerikaner. Die Hautfarbe des Polizisten wird in den ersten Tagen von den Behörden Fergusons noch geheim gehalten. Doch es wird anhand der Zeugenaussagen recht schnell klar, dass es sich um einen weißen Polizisten gehandelt haben soll. Auch wenn die Umstände der Tat in den ersten Tagen nebulös erscheinen und viele Zeugenaussagen sich teilweise widersprechen, wird doch grundlegendes klar. Michael Brown war am Samstagmittag, dem 9. August 2014 mit seinem Freund Dorian Johnson auf dem verbotenen Mittelstreifen einer Straße unterwegs, beim sogenannten „jay walking“, als sie von einem Polizisten, der allein im Polizeiauto unterwegs war, angesprochen wurden (“Jay walking“ bedeutet das Überqueren eine Straße, wo es anhand von Verkehrszeichen nicht erlaubt ist). Brown soll sich daraufhin in das offene Fahrerfenster des Streifenwagens gebeugt und seine Arme auf die Fahrertür abgelegt haben. Es bricht ein Handgemenge zwischen Brown und dem Polizisten aus. Dabei soll Brown den Polizisten in den Wagen zurück geschubst haben. Im Polizeifahrzeug hat sich sogleich ein erster Schuss aus der Dienstwaffe des Polizisten gelöst. Brown soll sich daraufhin rasch vom Polizeiauto entfernt haben. Nach wenigen Metern kommt er abrupt zum Stehen. Brown gibt anscheinend seine Flucht auf. Ab hier gehen jedoch die späteren Zeugenaussagen zum weiteren Tathergang weit auseinander. Nach Aussage seines Begleiters Dorian Johnson soll Brown seine Arme nach oben erhoben und sich eindeutig ergeben haben. Zudem soll er laut „OK. OK. OK“ gesagt und sich mit erhobenen Händen auf den Polizisten zubewegt haben. Andere Aussagen kommen zu dem Schluss, dass Michael Brown mit aggressiver Pose auf den Polizisten zugelaufen sein soll. Der Polizist schießt daraufhin sein gesamtes Magazin leer. Die Szene, über die sich das ganze Land in den kommenden Monaten auseinandersetzen wird, vom Anhalten des Polizeiautos, dem Gespräch zwischen den Tatbeteiligten sowie der letzten abgefeuerten Kugel aus der Dienstwaffe des Polizisten, dauerte nicht länger als 90 Sekunden.

Der 18-jährige Brown hatte mit 1,95 Meter und rund 135 Kilogramm Körpergewicht eine stattliche Figur. Von seinen Freunden wurde er einfach „Big Mike“ genannt. Sein Gemüt soll „sanft“ gewesen sein. Kontaktsport, wie dem American Football, soll er trotz seiner Statur abgelehnt haben. Vorstrafen hatte Brown keine. Gewalt lehnte er laut seiner Freunde ab.

Michael Brown stirbt gegen 12:00 Uhr noch am Tatort. Seine Leiche wird rund vier Stunden auf der Straße in seiner Blutlache bis 16:15 Uhr liegen gelassen, bevor sie zur Obduktion ins städtische Leichenschauhaus abtransportiert wird. Die überwiegend afroamerikanischen Bewohner des Viertels versammeln sich recht schnell am Tatort und machen trotz Absperrung durch die Polizei mit ihren Mobiltelefonen Fotos und Videos des mit einem weißen Tuch abgedeckten Leichnams. Schnell spricht sich im Viertel die Tötung des jungen Mannes herum. Immer mehr Menschen kommen zum Tatort. Auch die Großmutter, die nur zwei Blocks vom Tatort entfernt wohnt, wird am Ort eintreffen und ihren Enkel wiedererkennen. Blumen, Andachtskarten und Kerzen werden in der Nähe des Tatorts niedergelegt und in den Tagen darauf den ehemaligen Tatort großflächig überdecken. Schnell kocht die Wut der Anwohner hoch, denn die Tat wird als ein rassistisch motivierter Übergriff eines weißen Polizisten gewertet, denn Michael Brown war unbewaffnet und stand etliche Meter vom Polizeischützen entfernt. Die Sinnlosigkeit dieses genommenen Lebens macht nicht nur fassungslos.

Die Ermittlungen vor Ort erweisen sich als chaotisch. Laut Polizeiprotokolle war am Samstag nur eine Rumpfmannschaft von Ermittlern im Dienst. Um 12:10 Uhr treffen die ersten Beamten am Tatort ein. Gegen 13:00 Uhr sind auch Ermittler aus dem St. Louis County zur Unterstützung eingetroffen. Während die umstehenden Bewohner unruhiger werden, ermahnt der eingetroffene Polizeichef von Ferguson, Thomas Jackson, seine Polizisten zur Eile. Sprüche wie „kill the police“ werden von einzelnen jugendlichen Gruppen zu den Beamten gerufen. Eintreffende Einsatzfahrzeuge der Polizei und des Rettungsdienstes werden gegen 14:30 Uhr blockiert. Weitere Einsatzkräfte werden von umliegenden Polizeidienststellen angefordert. Es sollen Schüssen in der Umgebung während der Ermittlungen gefallen sein; verletzt wurde jedoch niemand. Die aufgebrachte Menschenmenge wirft vereinzelt Wasserflaschen auf die Ermittler. Die Mutter von Michael Brown, Lesley McSpadden, versucht trotz emotionalen Schockzustands zusammen mit dem Polizeichef das Publikum zu beruhigen. Doch die bewaffneten Einsatzkräfte samt ihren Polizeihunden lassen die Stimmung noch aggressiver werden. Gegen 15:00 Uhr treffen die ersten SWAT-Teams zur Sicherung des Tatorts ein. Die Untersuchung vor Ort muss mehrmals aufgrund der feindseligen Haltung der Schaulustigen abgebrochen werden. Erst nach 16:00 Uhr wird die Tatortbegehung abgeschlossen und die Leiche abtransportiert.

 

Sonntag, 10. August 2014

Die Wut ebbt am folgenden Tag jedoch nicht ab. Abends skandieren hunderte Bewohner der Stadt Fergusons am Tatort und vor der Polizeistation „Wir sind Michael Brown“ und „Erschießen Sie mich nicht“. Dazu halten sie die Hände hoch, als würden sie sich ergeben. Die Situation spitzt sich zu, als die Polizei mit voller Kampfmontur samt Sturmgewehren und mit angeleinten Schäferhunden versucht, die Demonstranten einzuschüchtern. Doch die Demonstranten fordern „Keine Gerechtigkeit! Kein Frieden!“. Für sie ist es ein kaltblütiger Mord eines weißen Polizisten, der von seinen Kollegen geschützt wird. Denn Informationen über den betroffenen Polizisten werden von der Polizeidienststelle nicht herausgegeben. Es kommt zu einzelnen Handgreiflichkeiten zwischen der Polizei und den Demonstranten. Der Einsatz von Schäferhunden, die an der Leine bellend und schnappend von den Polizeibeamten gehalten werden, sorgt für weitere Verstimmung bei den afroamerikanischen Demonstranten. Für sie ist es ein weiteres Zeichen der Unterdrückung und ein Erbe aus der Sklavenhalterzeit, gegen unfolgsame Schwarze Hunde einzusetzen.

Die Medien machen eine erste Zeugin ausfindig, die zum Zeitpunkt des Geschehens auf dem Weg zur Arbeit war. Sie will gesehen haben, wie Michael Brown sich vom Polizeiauto entfernt und seine Hände dabei hochgerissen haben soll. Mehrere Kugeln aus der Dienstwaffe des Polizisten sollen Brown anschließend getroffen haben. Damit wird den Protestierenden klar, dass wieder einmal in den USA ein unbewaffneter Afroamerikaner vorsätzlich von einem weißen Polizisten erschossen worden war. Und das Verhalten der Polizei in Ferguson trägt auch nicht zur Beruhigung der angespannten Lage bei.

Der Polizeichef von Ferguson, Thomas Jackson, registriert die sich anstauende Wut der Protestierenden und wendet sich mit dem Fall an das größere St. Louis County Police Department. Dieses bittet auch das FBI Ermittlungen im Fall Brown einzuleiten. Der Justizminister Eric Holder bestätigt, dass es eine Bundesuntersuchung über den Tod des 18-jährigen Brown durch das FBI geben wird. An die Presse gibt Jackson jedoch nur sehr wenige Informationen heraus. Die Hautfarbe, der Name und das Alter des Polizeischützen bleiben vorerst geheim. Nur die Tatsache, dass der Officer mit vollen Bezügen vom Dienst befreit wurde, wird von der Dienststelle herausgegeben. Die Demonstranten sehen in der fehlenden Informationspolitik des Polizeichefs einen schützenden Akt zur Deckung des Polizeischützen. Allein seine Aussage, eine „gründliche Untersuchung“ angeordnet zu haben, beruhigt die Bewohner des Viertels nicht.

Der Bürgermeister von Ferguson, James Knowles III, erklärt, dass seine Stadt in Trauer sei und nennt den Tod Michael Browns eine „Tragödie“. Er mahnt zugleich zur Ruhe in seiner Gemeinde, um die laufenden Untersuchungen nicht zu beeinträchtigen sowie Vertrauen in die lokalen und bundesstaatlichen Institutionen zu haben. Für viele afroamerikanische US-Bürger klingen diese Worte wie Hohn. Ist doch das Vertrauen in die örtliche Polizei unter den schwarzen Bewohnern der Stadt seit langem nicht mehr vorhanden und das Verhältnis auf beiden Seiten gestört.

Über die sozialen Medien, wie Facebook und Twitter, werden wilde Verschwörungstheorien, aber auch Fotos vom Tatort und vom Leichnam, verbreitet. Die Empörung reicht über die Stadtteile von Ferguson hinaus und treibt weitere Menschen den Demonstrationen in die Vorstadt von St. Louis zu. Aufrufe zu Protestkundgebungen verbreiten sich unter den afroamerikanischen Jugendlichen innerhalb von wenigen Stunden. Für die kommenden Tage sind weitere Protestveranstaltungen und Aktionen gegen Polizeigewalt und gegen den alltäglichen Rassismus in den USA in Ferguson geplant.

Es sind vor allem junge Menschen, die sich mit Michael Brown identifizieren und sich über seinen Mord echauffieren. Michael Brown ist einer von ihnen. Nicht wenige Schaulustige am Tatort kannten ihn sogar. Und dieser Fall eines weiteren schwarzen toten Jugendlichen auf der Straße mobilisiert viele Schüler und Studenten, die über Twitter Nachrichten von jungen Aktivisten lesen, die zuvor keine hundert Followers hatten. Die sozialen Netzwerke werden großflächig zum Austausch von Informationen über Veranstaltungen und Demonstrationen genutzt. Die meisten Protestierenden sind politisch nicht aktiv. Sie eint allein die Wut gegenüber der Polizei und der gefühlten weißen Vorherrschaft über die größtenteils von Schwarzen bewohnten Vierteln.

Der Stiefvater von Michael Brown, Louis Head, sitzt am Sonntag am ehemaligen Tatort seines Stiefsohns, der mit vielen Blumen, Kerzen, Protestschilder, Plüschtieren und Andachtskarten bedeckt ist und spricht von einem „kaltblütigen Mord“ an Michael Brown. Am Abend versammeln sich dort viele Menschen für eine Mahnwache. Kerzen werden gehalten und Gebete gesprochen. Doch viele Anwesende sind erzürnt. Ob die Polizei mit ihrem martialischen Aussehen und ihrer ständigen Präsenz in Ferguson der ausschlaggebende Faktor ist, bleibt in der späteren Untersuchung der Geschehnisse unklar. Die ersten Flaschen und Steine werden am späten Sonntagabend auf Polizisten und Polizeifahrzeuge geworfen. Es trifft in dieser Nacht auch einen Einkaufsladen, der von mehreren Vermummten aufgebrochen, geplündert und später niedergebrannt wird. Auch in der West Florissant Avenue, der langen Geschäftszeile von Ferguson, gehen etliche Fensterscheiben von Geschäften zu Bruch. Die Polizei geht mit einem SWAT-Fahrzeug samt einem aufsitzenden Polizisten am Maschinengewehr gegen die Demonstranten und Plünderer vor. Doch scharf geschossen wird nicht. Die Polizei verschießt jedoch etliche Tränengaskartuschen in Menschenansammlungen. Auch friedliche Demonstranten mit erhobenen Händen, die zu einem Symbol der Protestierenden geworden sind, werden durch die rüde Polizeitaktik bedrängt und mit Tränengas beschossen. Die Polizei vermeldet rund 30 Festnahmen in der Nacht.

Die Armut und Segregation in den USA

Auch wenn für viele Außenstehende die Gewalt überraschend kam, für viele afroamerikanische Bewohner waren die gewaltsamen Krawalle nur ein Ventil über die nun unbändige Wut gegenüber weißer diskriminierender Unterdrückung der schwarzen Mehrheit in Ferguson. Die US-amerikanische Öffentlichkeit ist am nächsten Morgen erschüttert. Schnell werden Erinnerungen der letzten Rassenunruhen von 1991 nach dem Rodney King Fall wach, die vielen Menschen das Leben kosteten und etliche Großfeuer hunderte Gebäude in Los Angeles zerstörten oder beschädigten. Damals war das Heartland, der Mittlere Westen der USA, von Unruhen weitestgehend verschont geblieben. Auch während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre blieben St. Louis und die umliegenden Gemeinden ruhig.

In der heutigen Zeit hat St. Louis, eine knapp 320.000 Einwohner großen Stadt, sowie ihre umliegenden Gemeinden noch immer mit der Immobilienkrise zu kämpfen. Eine Stadtflucht der Bewohner aus St. Louis in die Vororte lässt die Immobilienpreise in einigen Vierteln von Ferguson sogar wieder steigen und auch die Zwangsversteigerungen von Immobilien sind rückläufig. Doch profitieren davon zumeist nur die Siedlungen der überwiegend weißen Bewohner. Die Jobs kommen nach der Wirtschaftskrise nur sehr langsam nach St. Louis und Umgebung zurück. In Ferguson entstanden in den letzten Jahren viele neue Geschäfte, darunter Bars, Restaurants und Bekleidungsgeschäfte. Der Optimismus, die Krise endlich hinter sich gelassen zu haben, steckte die meisten Bewohner von Ferguson an. Doch im Vergleich zur größeren Stadt St. Louis liegen die Durchschnittseinkommen weit auseinander. Lag das durchschnittliche Familieneinkommen in St. Louis 2012 bei 75.000 US-Dollar, lag es im selben Jahr in Ferguson nur bei 44.000 US-Dollar. Nach der letzten Volkszählung dümpelte die Arbeitslosigkeit in Ferguson bei rund 20 Prozent, während sie im gesamten Bundesstaat Missouri bei 10,7 Prozent lag.

Sehr deutlich werden solche Zahlen, wenn Armutsberichte der US-Regierung veröffentlicht werden. Demnach leben über 45 Prozent der afroamerikanischen Kinder in Missouri in Armut. Eine solch hohe Rate, die fast jedes zweite schwarze Kind betrifft, ist für Missouri, wie auch für die restlichen USA eine blamierende Tatsache. In der Schule fallen diese Kinder später ebenfalls aus dem Raster, wie eine US-Studie belegt. Unter den mehr als 16.200 landesweiten Schulsuspensionen sind fast 6.200 schwarze Kinder, obwohl sie prozentual einen geringeren Bevölkerungsanteil ausmachen. Erschreckend kommt hinzu, dass rund 30 Prozent aller afroamerikanischen Schüler im Laufe ihres Lebens verhaftet werden. Selbst während des Studiums machen afroamerikanische Studenten rund 27 Prozent aller Verhaftungen auf dem Campus aus, obwohl sie nur 16 Prozent der Studentenschaft darstellen. Viele gehen direkt durch kriminelle Taten von der Schulbank in den Strafvollzug. Für eine Wirtschaftsmacht wie den USA ist das ein extrem kostspieliger Faktor. Experten warnen seit Jahren, dass dadurch kriminelle Karrieren geschaffen werden, aus denen es später kein Entkommen gibt. Hilfsangebote für Ex-Häftlinge und Aussteigerprogramme für Kriminelle sind in den USA rar. Einen Schulabschluss schafft nur rund die Hälfte aller afroamerikanischen Schüler in Ferguson. Landesweit sind es 52 Prozent, während es in Missouri sogar 56 Prozent sind. Diese erstaunlich hohe Anzahl an jungen Bürgern ohne Schulabschluss kostet dem US-amerikanischen Staat später in Form von sozialstaatlichen Transferleistungen viel mehr, als notwendige Investitionen in die Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten.

Die Armut in Ferguson ist allgegenwärtig. Die Schulen im Bezirk sind unterfinanziert und haben einen schlechten Ruf. Ein geplanter Zusammenschluss von vier Schulbezirken soll Schulschließungen aufgrund hoher Finanzmangel verhindern. Doch das in der Verfassung verbriefte Recht auf Bildung wird am Beispiel Ferguson nur schwer umgesetzt. In den mehrheitlich afroamerikanischen Gemeinden fehlt es an Lehrern und Sozialarbeitern. Die Ausstattung der Schulen grenzt an absoluter Sparsamkeit und die Instandhaltung wird auf das Nötigste heruntergefahren. Von klein auf haben die afroamerikanischen Kinder einen Nachteil zu erdulden, der ihnen im späteren Leben weitere Nachteile auf dem Arbeitsmarkt einbringen wird. Ohne grundlegende Bildung fehlt es den zukünftigen Erwachsenen an Jobchancen und sozialem Aufstieg.

Eine Ungleichbehandlung fängt schon in der Finanzierung der Schulen an. In Missouri gibt es unterfinanzierte Schulbezirke, die pro Schüler mit knapp 6.400 US-Dollar auskommen müssen, während wohlhabendere Schulbezirke das Dreifache des Budgets, nämlich knapp 19.000 US-Dollar pro Schüler, verwenden können. Auch die Lehrer erhalten in den Schulbezirken unterschiedliche Gehälter, sodass reichere Schulbezirke eine bessere Auswahl an Lehrerbewerbungen haben. Die Leistungsstärke der Schüler spiegelt sich klar in der finanziellen Ausstattung der Schulen wider.

Michael Brown ging in einem der schlechtesten Schulbezirke von Missouri zur Schule. Rund 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen erhalten staatliche Unterstützungen, wie in Form von kostenlosem Mittagessen. Es ist ein Grundfehler im US-amerikanischen Bildungssystem, dass gerade die Armenviertel die wenigsten finanziellen Zuwendungen erhalten. Die soziale Ungleichheit wird damit von Grund auf in der Gesellschaft fest zementiert.

Schwarze Bewohner profitieren von den wirtschaftlichen Aufschwüngen ihres Landes nicht mehr. Das Wirtschaftswunder unter dem damaligen Präsidenten Bill Clinton kam bei den Armen größtenteils nicht an. Es machte nur die wohlhabender, die schon gut bezahlte Jobs hatten, auch unter den Schwarzen. Der Unterschied im Vermögensaufbau zwischen Weißen und Schwarzen wird in den mittleren Haushaltseinkommen zudem sehr deutlich. Weiße US-Bürger verdienten 2014 in den gesamten USA durchschnittlich rund 59.000 US-Dollar, während Afroamerikaner nur knapp 30.500 US-Dollar verdienten. Schwarze Familien leben mit einem Anteil von 30,6 Prozent viel häufiger in Armut als weiße Familien mit 9,2 Prozent. Sie beziehen auch häufiger Sozialhilfe und Lebensmittelmarken als weiße Familien. Auch die Kindersterblichkeit ist unter afroamerikanischen Kleinkindern um 3,6-mal höher als bei weißen Kindern. Das liegt vor allem an der schlechten und teuren Gesundheitsversorgung in den USA, die Obama in seiner zweiten Präsidentschaftszeit mit seiner Gesundheitsreform verbessern wollte. Denn gerade die schlechter verdienenden Afroamerikaner haben zumeist keinen Versicherungsschutz, wie sie zumeist besser bezahlte Jobs haben. Die Diskussion um Polizeigewalt und Rassismus in den USA dreht sich zunehmend auch um Themen, wie Wohlstandskluft, Bildung und Diskriminierung auf den lokalen Arbeitsmärkten. Afroamerikanische Bürgerrechtler fordern schon länger einen verbesserten Zugang zu besser bezahlten Jobs, die durch Diskriminierung den qualifizierten Afroamerikanern vorenthalten sein sollen.

 

Die Teilung der USA in einen wohlhabenden weißen und einen armen schwarzen Bevölkerungsanteil wurde schon von einer Kommission im Jahr 1968 befürchtet. Der von der „Kerner Kommission“ veröffentlichte und viel Aufmerksamkeit erzeugende Bericht warnte vor einer „permanenten Teilung unseres Landes in zwei Gesellschaften“. Darin würde sich der afroamerikanische Bevölkerungsanteil von seiner größtenteils prekären finanziellen Situation nicht selbst befreien können und Generationen von Sozialhilfeempfängern den Weg ebnen. Schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war eine wirtschaftliche Segregation zwischen beiden Bevölkerungsanteilen deutlich zu erkennen gewesen, auch wenn die bürgerlichen Rechte stückweise bei den Afroamerikanern verbessert wurden. In den Ballungszentren der USA wurde in den letzten Jahrzehnten laut dem Pew Research Center die Lücke zwischen den Einkommen von Armen und Reichen immer größer. Dieser Trend hat sich auch in der Trennung der Wohnverhältnisse widergespiegelt. Heute gibt es mehr Stadtviertel und Gemeinden mit großer Armut und hoher Kriminalität sowie reichen Vororten mit wenigen Delikten als noch vor 30 Jahren. Während die schwarze Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend in Slums lebte, wohnt der überwiegende Teil der schwarzen US-Bürger heute in Getto ähnlichen Sozialbausiedlungen. Zwischen 1980 und 2010 stieg der Anteil der bildungsfernen und verarmten Bezirke in den USA von 12 Prozent auf 18 Prozent an. Die Tendenz ist weiter steigend.

Ferguson, mit seinen rund 21.000 Einwohnern, ist ein durch Segregation geteilter Ort. Etwa zwei Drittel der Bewohner sind Afroamerikaner. Rund ein Viertel der Bewohner lebt unterhalb der Armutsgrenze, im Bundesstaat Missouri leben rund 15 Prozent der Bewohner unterhalb der staatlich festgelegten Armutsgrenze. Die starke Segregation ist durch die Gentrifizierung, dem Wegzug der weißen gut saturierten Mittelschicht und dem Zuzug der afroamerikanischen finanzschwachen Bewohner, die aufgrund der sinkenden Mieten angezogen wurden, entstanden. Diese Entwicklung läuft seit den letzten Jahrzehnten und verschärft sich, sobald ein Bezirk „kippt“ und überdurchschnittliche Armut auch die Kriminalität anzieht.

Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur in so kurzer Zeit ist für US-amerikanische Städte und Gemeinden nicht ungewöhnlich. Zwischen 1950 und 1960 wuchs die Bevölkerung von Jefferson County, das südwestlich von St. Louis liegt, um 75 Prozent an. Es war vor allem die weiße Arbeiterschicht, die hier durch die Industrie angelockt wurde. Zur Jahrtausendwende war Ferguson schon eine Stadt mit einem Anteil von 52 Prozent an afroamerikanischen Bewohnern sowie einem Anteil weißer Bewohner von nur noch 45 Prozent. Vierzehn Jahre später ließ die sogenannte „white flight“, die Abwanderung der weißen Bewohner und der Zuzug von Afroamerikanern, die Bevölkerung von Ferguson weiter segregieren, auf nun 67 Prozent Schwarze und 29 Prozent Weiße. Innerhalb von nur zehn Jahren wuchs die afroamerikanische Gemeinde um mehr als 150 Prozent an und sie konzentrierte sich nur auf bestimmte Wohngebiete. Mehr als 90 Prozent aller 230.000 afroamerikanischen Bewohner verteilen sich im gesamten St. Louis County auf Gemeinden, die in oder um Ferguson liegen. In diesen Ballungsgebieten wird wiederum der Kreislauf aus schlechter Bildung, hoher Kriminalität, wenigen Jobs und schlechter Perspektive fortgesetzt. Aber auch Einwanderer aus China, Bosnien und Indien kommen verstärkt nach St. Louis. Diese multikulturelle Gemeinschaft verbirgt jedoch eine soziale Spaltung der Bewohner, weil sie alle eine selbstgewählte Form der Isolation wählen. Es sind Parallelgesellschaften, die sich gegenseitig misstrauisch beäugen.

Die Segregation ist jedoch nicht auf „natürliche“ Weise entstanden. Viele Hausbesitzer in Ferguson sind hochverschuldet, weil ihre Hypotheken nicht den wahren Preis ihrer Häuser widerspiegeln. In der Vermögensbewertung kommen die Bewohner von Ferguson nur auf ein Drittel des Wertes im Vergleich zu den Bewohnern von St. Louis County. Niedrige Mieten ziehen finanzschwache Mieter an. Doch liegen die Gründe der ausgeprägten Segregation auch in der Lokalpolitik sowie diskriminierenden Maklerpraktiken, die kinderreiche zumeist schwarze Familien von innerstädtischen großen Wohnungen fernhalten. Vielmehr werden schon in finanzschwachen Stadtteilen weitere Sozialbauapartments gebaut, die zu einem Sog weiterer Armutszuzüge führen. Dieses Ungleichgewicht an sozialer Durchmischung von finanzstarken und finanzschwachen Bewohnern lässt solche Stadtviertel kippen und die Kriminalität markant anschwellen.

Der Bundesstaat Missouri selbst wird noch von der konservativen weißen Mittelschicht geprägt, die mit großer Mehrheit Abtreibungsgegner sind und den Gewerkschaften nahe steht. Es sind zumeist bodenständige, stark religiöse Weiße, die keine Gemeinsamkeiten mit den afroamerikanischen Vorstadtbewohnern sehen. Zumal die Kriminalität laut Statistik und nach dem „Gefühl“ der weißen Bewohner überwiegend aus den ärmeren afroamerikanischen Gemeinden kommt.

Auch der Stadt St. Louis hat die langanhaltende Wirtschaftskrise stark zugesetzt. Viele Häuser stehen leer, Ruinen säumen manche Straße. Nicht wenige Bewohner sehen die viertgrößte Stadt des Bundesstaats Missouri im Niedergang. Ihre Vorstädte und Gemeinden haben ebenfalls mit Arbeitsplatzverlusten und Wegzug ihrer Mittelschicht zu kämpfen. Der Staat investiert vielerorts nicht mehr in die Infrastruktur, wie in Straßen und Brücken. Im öffentlichen Nahverkehr fehlen Gelder für Instandhaltungen und dem Ausbau von neuen Strecken in urbane Gebiete. Auch wenn sich der Blick durch die Rassenunruhen auf St. Louis und Ferguson richtet, so werden die wirtschaftlichen Grundprobleme der Bewohner nach wie vor übersehen, von denen viele weiter von der Hand in den Mund leben werden.

Ferguson und andere Ballungsräume, die überwiegend von verarmten Familien und kriminellen Gangs bewohnt werden, sind tickende Zeitbomben in den USA. Neben den Großstädten wie Detroit, Los Angeles und Oakland sind es nun auch die kleinen Vorstädte, die gewaltsame Unruhen auslösen können. Denn rund 40 Prozent der landesweit 46 Millionen Armen der USA leben in Vororten von größeren Städten und Metropolen. Sie alle verbindet eine hohe Arbeitslosigkeit, grassierende Obdachlosigkeit, Gangkriminalität und polizeiliches Fehlverhalten. Und ihre ethnische Zusammensetzung besteht überproportional häufig aus afroamerikanischen und hispanischen Bewohnern. In der Kommunalpolitik haben sie jedoch aufgrund ihrer unterdurchschnittlich schwachen Wahlbeteiligung keine Interessenvertretung und werden daher schlichtweg ignoriert. Diese Unterrepräsentanz ihrer Belange spiegelt sich negativ in allen Lebensbereichen ihres Wohnumfeldes wider. Vom sozialen Wohnungsbau und öffentlichen Nahverkehr über die Schulbildung bis hin zu einfachen Infrastrukturmaßnahmen werden diese Stadtviertel übergangen. Die Ausgrenzung dieser Gemeinden geht soweit, dass ihre Bewohner keine direkte öffentliche Anbindung an Gewerbegebiete und arbeitsplatzintensive Regionen haben. Vielmehr erhalten die Regionen Fördermittel und Subventionen, die schon zu den wohlhabenderen Regionen zählen und eine hohe Wahlbeteiligung aufweisen. Und dort leben zumeist weiße Bewohner.

Michael Browns Lebenslauf gleicht dem eines typischen afroamerikanischen US-Bürgers aus einer Sozialbausiedlung. Brown wohnte in einem Neubauviertel mit überwiegend einkommensschwachen Familien. Die Armut sowie die Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen sind hoch. Der Cannabiskonsum unter den arbeitslosen Jugendlichen, die in Gruppen in den Wohngebieten lungern und nicht selten die Bewohner belästigen, ist höher als im US-Durchschnitt. Wohnungseinbrüche, Autodiebstähle, Drogenhandel, Gewaltdelikte wie schwerer Raub, Körperverletzung mit Todesfolge sowie Vergewaltigungen kommen in den Armutsrevieren der Vorstädte überproportional häufig vor. In den dicht bewohnten Häuserschluchten sind Konflikte vorprogrammiert, die nicht selten auch mit der Schusswaffe ausgetragen werden. Gemeindepfarrer beklagen den fehlenden Zusammenhalt in diesen Gemeinden, doch wollen die Bewohner zumeist in den Sozialbauwohnungen häufig nur wieder wegziehen.

Die Polizei hat solche Gebiete speziell auf dem Radar. Ein ungeschriebenes Gesetz sagt aus, dass jeder Bewohner dieser Sozialsiedlungen ein potentieller Krimineller sein könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Sozialbausiedlungen ist sehr hoch und viele Jugendliche werden aufgrund fehlender Einkommensmöglichkeiten kriminell. Die vorhandenen Stereotype werden dann von den Polizisten nur bestätigt und auf alle Bewohner dieser Stadtviertel übertragen. Damit ist der Grundstein der Diskriminierung der gesamten überwiegend afroamerikanischen Bewohner gelegt. In den schwarzen Sozialbausiedlungen ist der Anteil von legalen und illegalen Waffenbesitzern hoch und ein erschossener männlicher Jugendlicher ist fast schon keine Nachrichtenmeldung in der Lokalpresse mehr wert. Die Gangkriminalität ist ein ernsthaftes Problem, doch der überwiegende Teil der schwarzen Jugendlichen hält die Polizei für den eigentlichen Feind. Nicht wenige halten sie für die größte Bedrohung ihrer Gesundheit und nicht die eigentlich bedrohlich grassierende Gangkriminalität. Die regelmäßigen grundlosen Kontrollen von Autofahrern und das Filzen von Schülern auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg durch die Polizei, macht sie zu einem großen Feindbild. Es suggeriert den Bewohnern, dass sie ständig mit Kontrollen zu rechnen haben und beobachtet werden. Wer ständig von den Strafverfolgungsbehörden als möglicherweise kriminell eingestuft wird, ohne jemals in Konflikt mit dem Gesetz gekommen zu sein oder nur aufgrund des Tragens von szenetypischen Kleidungsstücken, wie dem Hoodie, wird einfach kein Verständnis für diese Polizeitaktiken entwickeln. Vielmehr lernen die Kinder und Jugendlichen von der Polizei, sie zu meiden und Informationen an sie nicht weiterzuleiten. Selbst bei den Ermittlungen im Fall Michael Brown, gibt Justizminister Holder während der Bundesuntersuchungen zu, dass viele afroamerikanische Zeugen nicht mit der Polizei kooperieren wollen und ihre Aussagen verweigern. Sie haben einfach zu viel Misstrauen und Hass gegenüber der Polizei.