Asta

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Michael Reh

Asta

Ein Kriminalroman aus dem Alten Land


Reh, Michael: Asta. Ein Kriminalroman aus dem Alten Land. ­Hamburg, edition krimi 2021

Originalausgabe 2021

ePub-eBook: ISBN 978-3-948972-41-7

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print: ISBN 978-3-948972-40-0

Korrektorat: edition krimi, Hamburg

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: Foto »Asta« © Michael Reh, privat; Hintergrund­struktur © pixabay.com; Apfelbaum/Blätter: © pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© edition krimi, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Contents

1  Vorwort

2  Prolog

3  2 Zigaretten holen

4  3 Das Leben ist kein Ponyhof

5  4 Erster April

6  5 Stell dich mitten in die Welt

7  6 Rote Rosen

8  7 Frisbee

9  8 In der Borke

10  9 Asta

11  10 Barfuß im Regen

12  11 Petras unerwartete Rückkehr

13  12 Tell me why I don’t like Mondays

14  13 Goldregen

15  14 Tagebuch der Spinne

16  15 Neue Verantwortung

17  16 Die Schwester

18  17 Das erste Zeichen

19  18 Am Scheideweg

20  19 Tagebuch der Spinne

21  20 Astas Bank

22  21 DAF

23  22 Der Entschluss

24  23 Gegenüber von Aldi

25  24 Blick zurück

26  25 Schwestern

27  26 Unerwartete Begegnung

28  27 Die Falle

29  28 Spuren

30  29 Tagebuch der Spinne

31  30 Salieri

32  31 Dunkler als die Nacht

33  32 Unverhoffte Hilfe

34  33 Die Beerdigung

35  34 Wenn schon nicht im siebten Himmel, dann zumindest im siebten Stock

36  35 Kehrtwende

37  36 Neue Bekanntschaften

38  37 Mondscheinsonate

39  38 Tagebuch der Spinne

40  39 Stille Wasser

41  40 Two for Tea

42  41 Familienaufstellung

43  42 Die Halbstarken

44  43 Herbstzeitlose

45  44 Der Morgen danach

46  45 Zehn Zentimeter

47  46 Dunkelland

48  47 Modus Operandi

49  48 Tagebuch der Spinne

50  49 Was darunter liegt

51  50 Claire

52  51 Schwindel

53  52 Der Schlüssel

54  53 Im Netz der Spinne

55  54 Gewissheit

56  55 Wasser, Feuer, Luft und Erde (Der Schierlingsbecher )

57  56 Wiedergutmachung

58  Epilog

59  Dank

60  Der Autor

Landmarks

1  Cover

Vorwort

Am 24.2.2020 flog ich von Miami nach Deutschland, um ein paar Tage später meinen autobiografischen Roman »Katharsis« im Kölner Treff bei der wunderbaren Bettina Böttinger vorzustellen. An dieser Stelle mein Dank an Bettina und all die anderen mutigen Journalisten, die dabei halfen, das Thema sexuellen Missbrauch in die Öffentlichkeit zu bringen. Zwei Woche Promo-Reise standen mir bevor, die Reisetasche war klein, die Erwartung groß, als ich von Miami nach Deutschland flog. Die Reaktion auf Katharsis war überraschend, überwältigend. Dann der Lockdown und ich saß fest. In Deutschland. Meine Freunde in der Nähe von Stade im hohen Norden gaben mir ein Zuhause in dieser Zeit. Ich schaffte es noch, ein Fahrrad zu kaufen, und hatte dann viel Zeit, die Gegend um Stade mit dem Rad zu erkunden.

Der Wettergott drückte beide Augen zu, es war frisch und sonnig, so wie ich es mag! Ich radelte stundenlang, entdeckte den Kreidesee, eine alte Villa und eine Geschichte entstand in meinem Kopf. Mysteriöse Morde in der Gegend um den See und alle Spuren führen zu einem alten Gehöft nahe der Oste, dem Wohnsitz von Clara Jocke, einer verurteilten Mörderin.

Arbeitstitel war unter anderem »Die Liste« und »Der Kreidemörder«. Aber Asta ist der Angelpunkt, sie ist der Kern der Geschichte, die Ursache für die Morde, aber ich will an dieser Stelle nichts verraten, lesen Sie selbst. Und es geht auch um Familie, unsere Strukturen, um Veränderung, Herausforderungen, denen sich meine Figuren stellen müssen.

Es ist auch eine Hommage an ältere Frauen, die die Gesellschaft oft vergisst. Ich mag meine Figuren sehr, halfen sie mir doch ein Jahr lang, die Einsamkeit des Lockdowns, den wir alle kennen, gut zu überstehen. Clara, Heiko, Gisela und Tom, gerade diese Figuren machen einen wichtigen Wandel durch. Und natürlich Schoko, dessen lebendes Vorbild mich auf meinen langen Spaziergängen an der Oste begleitete. Asta ist ein Produkt meiner Fantasie und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind entweder zufällig oder, in zwei Fällen, beabsichtigt.

 

»Asta« ist nicht nur ein Krimi, es geht, wie in »Katharsis«, um Familie und um Veränderung! Ich liebe Stade, ich mag die Landschaft, die Menschen, Norddeutschland, das Klima, die Rauheit. Ich habe in Hamburg studiert, komme aus dem Ruhrgebiet und lebe in Amerika, aber mein Herz, meine Liebe gehört dem deutschen Norden, immer schon … und das wird auch so bleiben! Ich hoffe, die Stader sehen »Asta« als das, was es ist: Ein Kompliment, eine Hommage an eine Stadt, die mir viel bedeutet. An mein emotionales Zuhause.

Zum Schluss noch eines! Der Mörder ist nicht immer der Gärtner! Viel Spaß bei der Lektüre!

Michael Reh

Fire Island, im August 2021

Prolog

Ich will, dass er stirbt! Er muss sterben! Er hat es nicht anders verdient!

Er steht auf meiner Liste! Ich habe Jahre gebraucht, um alle zu finden! Und keinem wird vergeben.

Es war einfach, er schöpfte keinen Verdacht, als er mich heute besuchte. Ein dummes Schaf! Er trank den Tee und freute sich über den Kuchen, den ich im angeboten hatte. Er kam zu mir, ohne zu ahnen, dass er den Tag nicht überleben würde. Nach einer halben Stunde wirkte die Substanz, so wie ich es geplant hatte. Kurze Zeit später fuhr ich durch den schon fast dunklen Spätnachmittag. Es war ein Sonntag, es regnete und ich begegnete keinem Auto. Er lag bewegungsunfähig im Kofferraum. Sie hatten einen Sturm mit Starkregen vorausgesagt und das war gut so. Die Reifenspuren meines Wagens würden somit nicht mehr zu erkennen sein. Alle Bemühungen, ihn zu finden, werden ins Leere führen.

Er atmete noch. Gut so! Er sollte alles mitbekommen, er sollte leiden. Es war nicht einfach, ihn aus dem Kofferraum zu holen. Er fiel in den Schlamm, die Spritzer landeten nicht nur auf meinen Gummistiefeln, sie flogen bis zu meinem Gesicht hinauf. Er starrte mich an. Sprechen konnte er nicht, das Gift hatte sich bereits in jede Muskelfaser ausgebreitet.

Der Regen wurde stärker und der Wind schlug mir mit Gewalt ins Gesicht, zerrte an meinem Regenmantel. Es war inzwischen vollkommen dunkel, das nächste Dorf Kilometer entfernt. In diese Einöde kam niemand, denn das Moor war tückisch und hatte vor einigen Jahren zwei Opfer gefordert. Irgendwelche dummen Touristen, die sich nicht auskannten, sie konnten nur noch tot geborgen werden. Die Zeitung hatte darüber ­berichtet. Ich stülpte den schwarzen Plastiksack über seine Beine und legte ein paar große Steine hinein. Ich musste sicher sein, dass ihn das Gewicht nach unten zog. Das Moor war tief hier. Ich zog den Sack höher hinauf bis zu seinem Hals. Seine Todesangst konnte ich trotz des Regens und der Dunkelheit schmecken.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben, mein Freund«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Leider warst du die ganze Zeit auf der falschen Fährte, schade eigentlich. Du bist genauso erbärmlich und unfähig wie dein Vater. Du allein bist schuld daran, dass du hier liegst!« Ich spuckte ihm verächtlich ins Gesicht. »Aber keine Angst, du wirst nicht der Einzige sein, das schwöre ich dir. Du warst nicht der Erste und bist weiß Gott nicht der ­Letzte. Ihr werdet alle büßen für das, was ihr uns angetan habt.«

Mit dem Messer ritzte ich ihm den Buchstaben auf die Wange, klein, aber unübersehbar, dann zog ich den Plastiksack über seinen Kopf und verschloss ihn mit einem Kabelbinder. Ein paar grelle Blitze zuckten auf. Die jungen Birken am Rand des Moores bogen sich gefährlich und drohten zu brechen. Doch Birken brechen nicht, sie sind biegsam. Genau wie ich! Mit all meiner Kraft stieß ich den schwarzen Sack in das schlammige Wasser und sah ihn langsam, aber sicher untergehen. Ein paar Minuten später war er verschwunden. Der Regen prasselte mit einer ungeahnten Stärke auf mich und das Moor. Es ist alles gut. Der Regen wird mich reinigen!

1 Hamburger Abendblatt vom 30. September 1985

Ehefrau schuldig gesprochen.

Von Brigitte Frey

Ein Prozess, der Hamburg, ja ganz Deutschland seit ein paar Monaten in Atem hielt, ist zu Ende. Gestern Nachmittag um 16:30 Uhr verurteilte das Hamburger Land­gericht die 35-jährige Clara J. zu 20 Jahren Haft. Sie war des Mordes an ihrem Mann Johann J. und dessen Freund Reiner F. angeklagt und für schuldig befunden worden. Die Angeklagte behauptete während der gesamten Verhandlungs­zeit bis zur letzten Minute, dass sie unschuldig sei, obwohl Augenzeugen sie zur Tatzeit am Tatort gesehen hatten. Sie war von Beamten unter Leitung von Kommissar Christian Cordes noch am Tatort fest­genommen worden. In einem Indizienprozess sah das Gericht es als bewiesen an, dass Clara J. ihren Mann und seinen Liebhaber im Affekt und aus Eifersucht am Abend des 6 Februar 1985 erschossen hatte.

2 Zigaretten holen

Es war kalt an diesem grauen Spätnachmittag Ende Januar in Berlin. Jene Kälte, die so feucht ist, dass sie durch die Kleidung bis auf die Knochen dringt und sich daran festklammert wie ein Ertrinkender, unabdinglich.

Berlin, Hauptstadt! Heute politisches Zentrum des Landes, das man jahrelang in Ost und West geteilt hatte, nachdem es im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, verfeindet durch fremde Machthaber, getrennt durch die Mauer, entfremdet durch eine Ideologie, die inzwischen nicht mehr aktuell war. Berlin nach 1945, die Jahre der Teilung nach 1949. Lichtjahre entfernt von dem Leben des Mannes auf der Parkbank.

Für Tom war die DDR in seiner Kindheit ein fremdes Land. Dann kam die Wiedervereinigung. Und für einen Augenblick die Hoffnung, dass es so etwas wie Menschlichkeit gab, zumindest Gerechtigkeit oder Selbstbestimmung. Tom war im November 1989 ein Junge, gerade mal neun Jahre alt.

Er wuchs im kleinbürgerlichen La Salle, Illinois, als letzter männlicher Erbe einer untergehenden Industriellen­familie auf. In einem Amerika, das noch als gelobtes Land galt, als Polizist des Weltfriedens und Sinnbild anderer geschickt vermarkteter Mythen, wie die vom Tellerwäscher zum Millionär. Bullshit! Die Bilder der jubelnden, scheinbar in die Freiheit entlassenen Ostberliner aber hatten sich in seine kindliche Seele gebrannt. Berlin, die Stadt der Freiheit.

Jetzt war er seit zwei Jahren in der Stadt seiner kindlichen Träume.

Berlin. Eine große alte Nutte, dreckig, freche Schnauze. Tom hatte Kunst studiert, war nach New York gegangen, um Maler, Bildhauer, Künstler zu werden. Sein Talent lag in der Skulptur. Marmor, Stein, Holz, ja selbst Zement wurden wie Wachs in seinen Händen und so formte, schlug und meißelte er aus totem Gestein die wunderbarsten Formen. Keine abstrakten, nein, Frauenkörper flossen aus seinen Händen, die toten Elementen Leben geben konnten. Seine Begabung war nicht vererbt, keiner wusste, woher dieses Kuckucksei der Familie gekommen war. Alle Vorfahren bis hin zum Urgroßvater William waren Handwerker und Industrielle! William, eigentlich Wilhelm Morten, hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das heimische Dorf in der Nähe von Stade in Norddeutschland verlassen und war nach Illinois ausgewandert, wo er zunächst im Bergbau arbeitete. Zusammen mit seinem Sohn Edmund, der später die Firma übernahm, war es ihm aber gelungen, ein Imperium zur Gewinnung von Kohle und Zink aufzubauen.

Mit Anfang zwanzig floh Tom aus der amerikanischen Provinz nach Williamsburg in Brooklyn, dem neuen Mekka der Kunst. New York, das selbst ernannte Zentrum des Universums. Es war die einzige Stadt, die ihm jemals vermittelt hatte, dass sein Leben allein durch seine Anwesenheit dort einen Sinn machte. Für lange Jahre galt allein: Du bist New Yorker und nur deswegen schon etwas Besonderes. Allerdings war das Gefühl schnell verpufft, nachdem er hinter die Kulissen geschaut hatte. Doch zunächst kamen Erfolg, Geld, Frauen! Der Absturz war vorprogrammiert, die Welle brach. Der Markt verlangte nach neuen Ideen und Inputs, die Tom allerdings nach einer durchzechten Dekade nicht mehr liefern konnte. Er hatte New York durchschaut und die Finger nicht mehr in der universellen Steckdose der Kreativität. Wie viele Künstler vor ihm machte auch er den fatalen Fehler, nicht die Kreativität in sich zu finden, sondern Inspiration in der Außenwelt zu suchen. Wohin also? In das Epizentrum der angeblichen Kreativität, in die falsche Hoffnung aller Instagrammer der Meme-Generation! Ab ins coole Berlin. Es reichte, da zu sein.

Berlin. Wieder dieser Hunger, hier die Energie zu finden, die seine Batterie neu aufladen konnte. Aber Berlin war nicht New York und würde es nie sein. Berlin war nur noch Kommerz, denn die Künstler waren längst geflohen, wohin, wusste niemand so recht. Wo war es nun, das Berlin des neuen Millenniums, das sich in seinen Kopf geschlichen hatte, jene Vorstellung von einer Stadt, genährt von seiner Jugend, Träumerei und Dummheit?

Tom saß auf der feuchten Holzbank im Kleistpark, im Westen, wo er sich immer so fühlte, als würde er etwas verpassen. Ab und zu fuhr er »rüber« in den Ostteil der Stadt. Er kam immer mit leeren Händen und kaltem Kopf zurück, was nicht daran lag, dass er das Fahrrad nahm. In Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln waren alle hip und cool, dort vermischten neue Liedermacher und Rapper ihre Erfahrungen um und durch Berlin zu einem massenkompatiblen Brei, egal ob auf Instagram, bei Snapchat, in Podcasts.

Tom fielen die Augen auf der Parkbank zu. Der Novemberblues hatte ihn vor zwei Monaten erwischt und seither nicht wieder verlassen. Berlin im Winter, eine kalte, deprimierende Angelegenheit. Tom wusste, dass er an einem Punkt angelangt war, der drastische Maßnahmen forderte.

Er horchte in sich hinein, während die kalte, feuchte Januarluft durch seine Jeansjacke drang, aber er hörte nichts. Gar nichts. Ausgelaugt. Verbrannte Erde.

Es antwortete keiner mehr und er war auch nicht Michael Douglas, der in so einem Moment in dem Film ­»Falling down« die Knarre nahm und Amok lief. Der deutsche Titel des Films fiel ihm ein: »Ein ganz normaler Tag«. Ja, das war es: Ein ganz normaler Tag im Januar in Berlin, an dem er herausfand, dass sein Leben so nicht mehr weiterzuleben war. Er konnte sich nicht mehr belügen. Er musste raus.

Zigaretten holen gehen. Ein Satz seiner Kindheit, zu einer Zeit, in der Männer auf diese Art und Weise durchaus noch verschwinden konnten. In einer Zeit, bevor das Internet, Handys und Kreditkarten, das digitale Zeitalter, das menschliche Verhalten dauerhaft verändert hatten. Man konnte nicht verschwinden, da man immer digitale Spuren zurückließ.

Er schaute auf sein Handy. Es war 17:30 Uhr. Der Regen war stärker geworden. Er hatte es kaum bemerkt. Tom stand auf und nahm sich vor, nie wieder im Januarregen auf der Bank im Kleistpark zu sitzen.

3 Das Leben ist kein Ponyhof

Sie hatte gestrichen die Schnauze voll. Von allem. Seit Langem!

Seit fünfzehn Minuten starrte sie an die alte wurmstichige Holzdecke des Hauses, das seit 1782 hier in der Flussbiegung stand, und zählte, wie jeden Morgen, die Furchen des mittleren tragenden Balkens. Erst wenn sie bei 93 angekommen war, erhob sie sich seufzend aus dem Bett. Heute stoppte sie bei 54. Jeder Knochen tat weh. Warum aufwachen, warum das Leben weiterleben, so tun als ob, für wen, wie lange noch? Verdammt, heute war der Himmel grauer als sonst, genau wie ihre Seele. Am besten gleich in die Oste springen und ertrinken, das Leben war keine Alternative mehr zu ihren Albträumen. Seit den 3500 Tagen und Nächten in einer Gefängnis­zelle war es eh mit ihrer Nachtruhe dahin, auch noch nach zwei Jahrzehnten. Der Regen trommelte an das Fenster. Es war erst 7 Uhr an diesem nassen Aprilmorgen. Viel stand heute nicht auf dem Zettel, das Übliche: Kaffee kochen, die erste Zigarette, die Katzen füttern, die Küche wischen, die zweite Zigarette. Gott sei Dank liefen die neuen Folgen von »Rote Rosen« wieder, ihre einzige Ablenkung bis zum Abend.

Es war Donnerstag, der erste im Monat, da mussten die Pillen geordnet werden. Einen Schlaganfall hatte sie vor fünf Jahren gut überstanden, aber Diabetes war kein Zucker­schlecken. Sie lachte bitter auf, kein Zuckerschlecken! Zucker war neben den dreißig Zigaretten und zwei Litern Kaffee pro Tag das Einzige, das sie wachhielt. Scheiß auf die Gesundheit. Vierundzwanzig Pillen am Tag hielten sie fit genug. Heute Nachmittag galt es alle 720 Pillen für den Monat in 30 kleine Behälter zu sortieren.

Sie kotzte sich selbst an.

Verdammter erster April!

Das Haus lag am Deich, aber den hatte sie vor Jahren das letzte Mal betreten. Dahinter floss die Oste. Das Land um Claras Gehöft gehörte zur Apfelplantage des neuen Bauern, der alles auf Demeter machte. Sie hasste den Typen, denn er hielt sie mit seinen stundenlangenTraktor­fahrten in der Nacht wach. Schwefelbestäubung nannte er es. Für sie war es reine Schikane! Das machte er nur, um sie zu ärgern! Man sollte ihn einfach in seine Kühlhalle einschließen und verenden lassen.

 

Ihr Blick glitt von der Decke an die Zimmerwand. Es nutzte nichts, das Kopfkino war an und drehte sich so lustig wie das Rad einer Windmühle bei Windstärke acht. Zeit, sich abzulenken, irgendwie weiterzumachen. Sie würde nicht in den Fluss springen.

Damals, im Gefängnis, hatte sie oft davon geträumt. Aber die Wirklichkeit war anders als ihre Träume, die immer unerfüllt geblieben waren. Sie stand auf, nahm die Zähne aus dem Wasserglas auf dem Nachttisch und schob sie sich in den Mund. Dann ging sie in die Küche, um Kaffee zu kochen.

4 Erster April

Der Hund wedelte nicht mit dem Schwanz oder mit dem, was von ihm übrig geblieben war. Tat er selten. Besonders nicht am Morgen. Als ob es ihm peinlich wäre. Er schaute auf, schien Tom kurz zuzunicken, drehte sich einmal auf dem alten Sessel im Kreis und rollte sich wieder zusammen. Schoko.

Vor drei Wochen hatte Tom den Labrador-Vizsla-Mischling aus dem Tierheim und in die alte Bauernkate am Ende des Deichs geholt. Es schien dem Hund völlig selbstverständlich, mit stolzen sechs Jahren noch adoptiert zu werden und nun ein Landleben zu führen. Er ließ sich zwar streicheln, war aber unabhängig, nicht dauernd nach Liebe und Aufmerksamkeit hechelnd wie so manche anderen gebrannten Hunde, die aus Heimen kamen. Er schaute gerne Fernsehen und verfolgte aufmerksam die ersten Schafe auf dem Deich, ohne zu bellen. Er beobachtete alles mit intensivem Interesse: nicht nur die Schafe, die Fasane, die Möwen auf dem Deich. Auch die Serien auf Netflix, die Tom abends schaute. Am liebsten beobachtete er Tom. Anfangs hatte es ihn gestört, inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass ihm zwei dunkelbraune Augen folgten. Es gab ihm irgendwie ein Gefühl von Sicherheit hier in der Einöde der norddeutschen Tiefebene. Das war auch Voraussetzung für sein neues Leben in einem Haus, zu dem ein Feldweg führte und wo das Internet nicht immer reibungslos funktionierte.

Seit sechs Wochen lebte Tom dieses Leben fern von Berlin. Jeden Morgen prasselte der Regen auf das reetgedeckte Dach des ehemaligen Gesindehauses. Er machte den beiden nichts aus. Das kleine Haus hatte vor vielen Jahren zu dem Gutshof gehört, der in der alten Apfelplantage im Ostebogen lag. Der Vormieter war ein besessener Hobbyrestaurator und hatte im Einverständnis mit dem Eigentümer große Glastüren einbauen lassen, wohl wissend, wie dunkel die Winter im Norden waren und wie lange sie dauern konnten. Tom hatte das Häuschen per Zufall im Internet gefunden, seine Vorfahren kamen aus dieser Gegend und sein Ururgroßvater Wilhelm Morten, durch dessen Firma in Illinois die Familie Morton zu Reichtum gekommen war, hatte hier für kurze Zeit auch mit einer norddeutschen Zementfabrik aus der Nähe zusammengearbeitet. Toms Vater war schon lange tot, wie so viele Männer in seiner Familie war er nicht alt geworden. Stockard, Toms versteinerte Mutter, hatte den Nieder­gang der Firma in den späten Neunzigerjahren dann nur noch aus ihrem Alkoholnebel verfolgt und war vor zehn Jahren mit einer kaputten Leber an Krebs gestorben. Tom weinte ihr und dem Rest seiner seltsamen Familie nicht unbedingt eine Träne nach. Geerbt hatte er genug, eine vermögende Schwester seines Vaters hatte sich großzügig gezeigt und zusammen mit einem bei seiner Geburt angelegten Trust Fond hatte er sich erst sein Atelier in New York und dann später in Berlin einrichten können.

Seitdem er sich an jenem nassen Novembertag im Kleistpark entschlossen hatte, Berlin zu verlassen, erfasste ihn immer wieder eine seltsame Lethargie, die er interessiert beobachtete. Er wusste, dass sich sein Leben geändert hatte. Er hatte nicht mehr vor, sich selbst zu belügen. Seine Kreativität war geblockt, er konnte nichts mehr erschaffen aus den Materialien, die ihn umgaben. Seine fünfzehn Minuten in der Berliner Kunstszene waren vorbei. Wohin die Reise gehen sollte? Die Frage konnte er sich nicht beantworten. Noch nicht! Kreativität und Druck war keine passende Kombination. Eine Auszeit würde ihm guttun. Er spürte es jeden Tag trotz Kälte, Matsch, Regen und Schokos Blick.

Tom fiel das Franzbrötchen im Brotkorb ein und stand auf, ging die alte Stiege hinunter und setzte Wasser auf. Landleben pur, dachte er. Keine Jura-Kaffeemaschine, sondern ein alter Porzellanfilter von Melitta. Er hatte das Haus voll eingerichtet vom detailbesessenen Besitzer angemietet, hatte nichts mitnehmen wollen aus Berlin, aus seinem alten Leben. Kaffee schmeckte auch, ohne durch eine tausend Euro teure Maschine auf Knopfdruck zu fließen!

Nach zwanzig Jahren Hetze durch die Welt, die ihn von New York über einige Zwischenstationen nach Berlin und schließlich hierhergebracht hatte, genoss es Tom, als er auf den nassen Deich schaute, während sein Franzbrötchen im Ofen warm wurde und einen Zimtgeruch im Haus verströmte, dass er nichts weiter hörte als das Tropfen des Kaffees, der durch den Filter drang, und das leise Schnarchen seines vierbeinigen Freundes über ihm.

Es war genug in diesem Moment.