Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)

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Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)
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Nadja Losbohm

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Anmerkung der Autorin

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Epilog

Über die Autorin

Impressum neobooks

Anmerkung der Autorin

Ich habe für diese Geschichte Recherche betrieben, um so viele reale Fakten miteinzubauen wie möglich, angefangen bei geschichtlichen Daten über die Landwirtschaft der Bretagne bis hin zu den Sprachen, die die Familie Ryan spricht.

Dennoch: Dieses Buch und auch sein Nachfolger sind und bleiben Unterhaltungs- und keine Geschichtsbücher, in denen ich Historisches mit dem Fantastischen verbinde. Hin und wieder konnte ich zu gewissen Fragen keine Informationen finden und musste somit improvisieren. Daher gibt es keine einhundert prozentige Korrektheit.

Widmung

Für dich.

Der, du kämpfen musst.

Wisse, du bist nicht allein.

Prolog

Mein Name ist Michael Iain Ryan. Geboren wurde ich im Jahre des Herrn 982. Heute jedoch schreiben wir das Jahr 1980. Wie das möglich ist, dass ich immer noch existiere? Vor 967 Jahren hat man mich einem geheimen und schmerzvollen Ritual unterzogen, in dem ich Gott mein sterbliches Leben opferte und Er mir im Gegenzug dafür ein unsterbliches schenkte. Ich gab Ihm aber nicht nur meine Sterblichkeit, sondern auch meine Bewegungsfreiheit. Was ich damit meine? Ich bin gebunden an einen Ort: die St. Mary’s Kirche. Auf ihrem geheiligten Boden bin ich geschützt, unverwundbar. Verlasse ich sie, verliere ich diese Protektion. Und wenn ich mich für mehr als sechzig Minuten von der Kirche fernhalte, sterbe ich.

Ich habe mich an diese Situation gewöhnt. Bedenkt man die gewaltige und über das menschliche Verständnis hinausgehende Aufgabe, der ich diene, sind meine Opfer vergleichsmäßig klein. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und ich habe gelernt, mit Entbehrungen zu leben und sie zu verkraften.

Ich bin Priester und Leiter einer Gemeinde, um die ich mich kümmern muss. Diese Menschen sind besonders. Sie sind eingeweiht in das Geheimnis meiner Existenz und bewahren es.

Es gibt Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss. Nicht nur was den Dienst als Kleriker betrifft. Ich bin auch verantwortlich für die Jäger, jenen unter uns, die auserwählt sind, die Menschen vor den Kreaturen der Nacht zu beschützen, die Untiere zu jagen und zu vernichten. Für diese Ein-Mann-Armee Gottes auf Erden bin ich Lehrer, Mentor, Seelsorger und gelegentlich sogar ein wahrer Freund. Doch auch sie geben mir viel zurück: Gesellschaft, Freundschaft, ein Stück Normalität.

Zu meinem Bedauern sind mir diese so wichtigen Dinge im Leben eines jeden durch den Tod des Jägers Richard Connelly vor Kurzem genommen worden. Nicht in der Schlacht, wie er es bevorzugt hätte, wie er mir einst verraten hatte, sondern aufgrund eines Herzinfarktes starb er. Ich bin mit dem Ableben der Menschen vertraut, vermutlich besser als jedes andere Lebewesen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Trauerfeiern ich durchgeführt habe. Ich habe dabei zusehen können, wie sich meine Gemeinde mehrfach vollständig erneuert hat. So oft war ich der letzte Mensch gewesen, den die Jäger sahen, bevor sie die Augen für immer schlossen und die Heimkehr zu ihrem Schöpfer antraten. Oft genug habe ich es aber auch erleben müssen, dass Jäger nach einer nächtlichen Patrouille nicht mehr zu mir zurückkehrten, weil sie im Kampf gefallen waren. Die Unsicherheit über ihren Verbleib war eine Qual gewesen, die erst das Aufräumkommando, bestehend aus freiwilligen Gemeindemitgliedern, das sich darum kümmerte, die Überreste der Gejagten, der Monster und Vampire, zu beseitigen, damit die unwissenden Bewohner dieser Stadt nicht über sie stolperten, beendete, nachdem es das Areal nach dem Jäger durchsucht und mir die furchtbare Nachricht übermittelt hatte. Wenn so etwas geschehen war, hatte ich mir stets die gleichen Fragen gestellt: Wäre es anders verlaufen, wenn ich den Jäger begleitet hätte? Würde er noch leben, hätte ich mich nicht an die St. Mary’s Kirche binden lassen? Schwierige Fragen, die mich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifeln ließen, mit diesem Ort regelrecht eins geworden zu sein.

Doch als Richard Richard Connelly unter meinen Händen starb, war all das nicht wichtig gewesen. Denn ich war bei ihm gewesen und hatte ihn trotzdem nicht beschützen und auch nicht retten können. Ich hatte alles getan, was ich konnte. Man hatte mich gut in medizinischen Angelegenheiten ausgebildet. Nun, zumindest hatte ich es bis dato gedacht. Aber das Leben belehrte mich eines Besseren und Richard Connelly verließ diese Welt und auch mich. Obwohl bereits Wochen seit seinem Tod vergangen sind, stelle ich mir immer noch die Frage, was ich falsch gemacht habe und ob ich sonst noch etwas hätte tun können, um meinen Freund zu retten? Ich suchte deswegen Hilfe bei Gott und bat ihn, mir die Augen zu öffnen für das, was ich nicht sah. Ich musste mich tagelang gedulden, bis ich eine Antwort von Ihm erhielt und sie lautete: „Du hättest nichts tun können. Seine Zeit war abgelaufen.“ Damit hörte ich auf, mich mit Fragen nach dem Warum zu geißeln, aber ein gewisses Gefühl der Schuld nagt immer noch an mir. Doch was weit schlimmer ist als das, ist die Tatsache, dass Richard nun in den Straßen der Stadt fehlt, um des Nachts seinen Dienst zu tun. Niemand ist mehr da, um die Menschen zu beschützen vor Vampiren und Monstern, deren grüne Haut mit Pocken übersät ist und stinken wie die von Unrat verdreckten Straßen in mittelalterlichen Städten. Für die Ausgeburten der Hölle ist das Ableben des Jägers ein Grund, um zu feiern. Sie können ungestört ihr Unwesen treiben und haben nichts zu befürchten. Ich hingegen trauere und ärgere mich. Eine lange Zeit wird vergehen müssen, bis der nächste Jäger sein Schicksal erfüllt. Diese Auserwählten schlüpfen nicht einfach so aus dem Boden. Sie werden nicht so oft geboren, wie sie es vielleicht sollten. Auch darüber verspüre ich großen Unmut und fühle mich hilflos, aber es ist nichts, was ich ändern kann. Ich habe die Regeln nicht gemacht, muss sie jedoch akzeptieren und befolgen, auch wenn es mir schwerfällt. Ich habe die Jahre durchgerechnet, wie lange es dauert, bis es einen neuen Kämpfer geben wird. Es sind achtundzwanzig, die ins Land ziehen müssen. Erst dann gibt es einen neuen Auserwählten, der sich den Kreaturen der Nacht entgegenstellt.

 

Ehrlich gesagt habe ich bereits überlegt, mich selbst hinauszuwagen und den Kampf weiterzuführen. Vor vielen Jahren habe ich es schon einmal getan. Damals war ich selbst ein Beschützer der Menschen vor der Dunkelheit gewesen und hatte den ersten Jäger Allistair McFarlan begleitet. Gemeinsam waren wir durch die Welt gezogen, hatten die Untiere aufgespürt und sie getötet, bevor sie sich an den Menschen hatten gütlich tun können. Aber all das ist schon sehr lange her, und damals war ich noch nicht der, der ich heute bin. In jenen Tagen war ich ein Sterblicher gewesen und hatte mich frei bewegen können. Nun ist mir dies nicht mehr möglich, und selbst wenn ich es wagen würde, die Kirche zu verlassen, wie weit würde ich in sechzig Minuten schon kommen? Die Schreckgestalten halten sich nicht unbedingt direkt vor den Türen meines Zuhauses auf. Sie sind verteilt über die gesamte Stadt und diese ist groß, sehr groß.

Und somit sitze ich an dem alten Schreibtisch, dessen Holz bei jedem Aufstützen meiner Arme knarzt und ächzt und mir das Liebste in dem geräumigen Wohnzimmer ist, das nur einen kleinen Teil der gewaltigen unterirdischen Anlage ausmacht, die sich unterhalb der St. Mary’s Kirche befindet. Jahrhunderte ist es her, dass die Vorfahren meiner heutigen Gemeinde mir mein Zuhause erbauten, das tief in die Erde reicht. Mit viel Liebe haben sie mir und allen Jägern, die es seitdem gegeben hat, ein einzigartiges Heim geschaffen. Es ist ein Wunderwerk, gegraben in Stein, gestützt durch mächtige Pfeiler. Die Ausmaße des Ganzen sind gigantisch! Die Räumlichkeiten ebenso bemerkenswert wie nützlich: eine Küche, zwei Schlafzimmer mit Bad, ein medizinischer Raum, um Verletzungen zu versorgen, ein Labor samt Werkstatt, in der ich Pfeile und Silberkugeln für die Jagd herstellen kann, ein Trainingsraum sowie ein Wohnzimmer mit einem atemberaubenden Deckenfresko und einer der größten Bibelsammlungen, die es auf der Welt gibt. Doch nichts von all dem kann es mit der Herrlichkeit der Bibliothek aufnehmen, die hier ebenfalls angelegt wurde. Ihre Gänge sind mehrere hundert Meter lang. Das Ende der Regalreihen ist somit von ihrem Eingang nicht auszumachen. In der Gesellschaft von so vielen Werken des geschriebenen Wortes konnte ich mühelos Stunden, ach was, Tage verbringen. Mit seinen schwarzen Dielenbrettern, dem dunkelroten Teppich, dem warmen Licht und den gemütlichen, weichen Sesseln lädt dieses Zimmer zum Verweilen ein.

Doch der Komfort, den ich genießen darf und für den ich dankbar bin, kann mir nicht helfen, meine Einsamkeit zu überwinden. Ich habe niemanden zum Reden, niemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen kann. Nur das Papier vor mir ist greifbar für mich, und somit entschließe ich mich dazu, mein Leben aufzuschreiben. Zum einen für mich selbst, um mich zu beschäftigen, und zum anderen für einen möglichen Finder, in dessen Hände diese Zeilen vielleicht eines Tages geraten. Ich hoffe, Sie haben Zeit, viel Zeit. Sowohl mir als auch Ihnen steht eine gewaltige Aufgabe bevor, denn ich bin beinahe eintausend Jahre alt.

1. Kapitel

Geboren wurde ich am 29. September im Jahre 982 in der Bretagne als einziger Sohn meiner Mutter Rosalie Cadoret und meines Vaters Iain Ryan. Zwei Jahre vor meiner Geburt war er aus Irland nach Frankreich gekommen. Durch die zwei unterschiedlichen Kulturen meiner Eltern wuchs ich mehrsprachig auf, lernte Französisch, Englisch und Irisch. Letzteres habe ich gänzlich verlernt, da ich es nicht benötigte. Wieso mein Vater seine Heimat verließ - diese Umstände sind mir bis heute verborgen geblieben, aber er wird seine Gründe gehabt haben. Schon recht bald lernte er meine Mutter kennen, eine sehr gottesfürchtige Frau, der ich wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Mit ihr teile ich die olivfarbene Haut, die braunen Haare, die tiefbraunen beinahe schon schwarzen Augen, ja selbst meine Nase und meinen Mund habe ich von ihr. Sie erzählte mir einmal, sie habe mich nach dem Erzengel Michael benannt. Sie sagte, mit meiner Geburt wäre das Licht in ihr Leben gekommen, das Gute, das das Böse vertreibt. Ich weiß nicht, ob sie damit andeuten wollte, dass es ihr vor meiner Geburt schlecht ging oder ob sie schon damals ahnte, dass ich zu mehr bestimmt bin. Ich selbst tippe auf Letzteres. Denn wie sollte man es anders erklären, dass sie mich ausgerechnet nach dem Engel benannte, der der Patron der Krieger und Soldaten ist? Auch ich sollte eines Tages der Beschützer der Krieger werden, der Auserwählten, die den Kampf gegen die Dunkelheit führen.

Was meinen Charakter angeht, bin ich mir nicht sicher, nach wem ich schlage. In der Vergangenheit habe ich von beiden Elternteilen Eigenschaften an mir entdeckt, sowohl gute als auch weniger gute. Ich konnte aufbrausend sein wie mein Vater, aber auch mitfühlend und verständnisvoll wie meine Mutter. Ich war hin und wieder stur und unnachgiebig wie er, hatte aber auch kein Problem damit, Kompromisse einzugehen wie sie. Was aber beide gemeinsam hatten, war ihre große und unerschütterliche Liebe zu Gott, die sie an mich weitergaben. Gott war das Wichtigste in unserem Leben auf dem Hof, der umgeben war von Buchen- und Eichenwäldern. Mein Vater hatte unser Holzhaus mit eigenen Händen gebaut. Es war sehr klein und im Grunde nur ein Raum mit einem Dach darauf. Die einzelnen Abschnitte, wie die Kochstelle, der Schlaf- und Essbereich, gingen nahtlos ineinander über, und man konnte sie nur an den wenigen einfachen Möbelstücken erkennen, die wir besaßen und die mein Vater ebenfalls eigenhändig gezimmert hatte. Die Kochstelle im vorderen Bereich des Hauses diente nicht nur zur Zubereitung unserer Mahlzeiten. Wir nutzten sie auch zum Beheizen des Hauses in kühlen Nächten. Richtige Winter gibt es in der Bretagne nicht. Oft wird es nie kälter als zehn oder acht Grad über Null, aber als sonnenverwöhnte Bretonen ließen uns diese Werte schon zittern. Auch Frost oder gar Schnee gibt es in diesem Teil des Landes nicht. Den ersten weißen Niederschlag sah ich erst mit Anfang zwanzig, als mich mein Weg nach Großbritannien führte. Aber ich greife zu weit vor. Eines nach dem anderen.

In diesem vorderen Abschnitt des Hauses wurde gekocht, gegessen und gelebt. Im hinteren Bereich schliefen meine Eltern. Mein Nachtlager hingegen befand sich in einer Art Hohlraum zwischen der Stube und dem Dach. Es war kein richtiger Dachboden, nur ein schmaler Bereich, wo ich nicht einmal sitzen konnte, sondern nur auf dem Bauch hineinkriechen und mich schlafen legen konnte. Es war aber nicht schlimm für mich, da ich mich ohnehin viel lieber draußen aufhielt. Bei allem, was getan werden musste, banden wir Gott mit ein und ließen Ihn an unserem Leben teilhaben. Wir priesen Ihn oft und beteten häufig. Wir baten Ihn um alles, egal um was es dabei ging: Regen für die Ernte, Heilung von Krankheiten, Kraft, um die Arbeit zu bewältigen. Und davon gab es reichlich. Wir bauten Buchweizen, Artischocken, Speiserüben und Rosmarin an. Außerdem standen auf unserem Grund zahlreiche Apfel- und Quittenbäume, und wir besaßen zwei Kühe, drei Schweine, zehn Schafe und noch einmal so viele Hühner. Ich bat Gott aber nicht nur darum, mir zu helfen, die Hühner zu füttern oder die Quitten, die vom Baum gefallen waren, einzusammeln, was nur zwei meiner Aufgaben waren. Ich erinnere mich auch daran, dass ich Ihn darum bat, mir zu helfen, ein Geschenk für meine Mutter zu finden, das ich ihr von einem meiner Streifzüge durch die umliegenden Wälder mitbringen konnte, einfach um ihr etwas Gutes zu tun. Gott half mir tatsächlich und ließ mich an dem Bach, der durch die Wälder floss und in dem wir unsere Wäsche wuschen und Wasser zum Trinken für uns und die Tiere holten, auf einen Stein stoßen. Es war ein etwa Handflächen großer runder Stein, dessen Oberfläche von der Natur glatt geschliffen worden war und alle Farben eines Regenbogens in sich eingeschlossen hatte. Dankbar, dass Gott ihn mir gezeigt hatte, nahm ich ihn aus dem klaren Wasser und trug ihn überglücklich zu meiner Mutter. In meinem kindlichen Glauben, dass es ein wunderbares Geschenk war und es sie freuen würde, überreichte ich ihr den Stein. Und wie die gute Mutter, die sie war, freute sie sich auch angemessen über dieses einfache Geschenk. Der Stein war einfach, und unser Leben war es auch. Einfach, aber gut. Es gab zwar viel Arbeit zu verrichten: Tiere füttern, Schafe scheren, Felder bestellen, ständige Reparaturen an unserer simplen Holzhütte und vieles mehr. Wir waren nur zu dritt; es gab keinen Nachbarn, den wir um Unterstützung bitten und mit einspannen konnten. Das nächste Haus stand eine halbe Tagesreise entfernt von uns, ganz zu schweigen von der nächsten Ortschaft. Somit mussten wir alle mitanpacken. Während meine Mutter nie vergaß, mich bei allem auch Kind sein zu lassen, verlangte mein Vater, je älter ich wurde, mehr von mir. So auch an dem Tag, als er sich mit unserer Wolle auf den Weg machte, um sie in der Stadt zu verkaufen.

„Du bist nun der Mann im Haus, Michael. Ich erwarte von dir, dass du dich auch so verhältst, während ich fort bin.“

Solche Reden richtete er oft an mich, und ich gestehe, dass ich nicht traurig war, wenn er uns für mehrere Tage verließ. Er war ein strenger Vater, und ich weiß, dass ich ihn nur selten herzhaft lachen sah, auch nicht dann, wenn meine Mutter und ich Albernheiten vollführten, um uns bei Regen und Kälte bei Laune zu halten. Leider ist auch das etwas, was ich in späteren Jahren von ihm übernommen habe: die Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung, was das Zeigen von Gefühlen angeht. Vielleicht dachte er auch, dass sich für einen Mann solche Ausbrüche der Heiterkeit nicht schickten und zu viele Emotionen einen schwach machten. Wie auch immer. Ich freute mich darauf, meine Mutter für eine Weile für mich allein zu haben. Natürlich bedeutete es nicht, dass ich meine Aufgaben vergessen und nachlässig sein konnte. Nein. Ich erledigte meine Arbeit so, wie man es mir beigebracht hatte. Auch um meiner Mutter Freude zu bereiten und sie stolz darauf zu machen, was für einen tüchtigen Sohn sie hatte. Aber ohne die bohrenden Blicke meines Vaters, der jeden meiner Griffe beäugte, ging mir alles wesentlich leichter von der Hand. Doch während seiner Abwesenheit war es in unserem Haus viel lauter als sonst. Wir sangen und lachten, tanzten und sprangen umher. Wir spielten Fangen, dachten uns Geschichten aus und plantschten, wenn es heiß war, in dem Bach. Wenn wir dann zurück im Haus waren, die brennende Sonne unsere Kleider getrocknet hatte, buk mir meine Mutter meinen Lieblingskuchen aus Buchweizenmehl, Eiern und reichlich Äpfeln. Diese Köstlichkeit gab es nur selten, da mein Vater Äpfel nur in Form von Cidre, Apfelwein, mochte. Quitten hingegen mochten wir alle gern. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und konnte aus allem ein Festessen machen. Sie scherzte oft darüber, dass sie glaubte, mein Vater wäre nur wegen ihrer Kochkünste bei ihr geblieben. Ich glaubte es ihr jedoch nicht, denn sie war auch eine wunderschöne und attraktive Frau. Ich war mir ziemlich sicher, dass eher dies der Grund dafür war, wieso er sie gewählt hatte. Ich vergötterte sie jedenfalls und blickte zu ihr mehr auf als zu meinem Vater. Und wenn sie den Apfel-Buchweizenkuchen machte, war sie meine Heldin. Aber auch Galettes, eine Art Fladen, die ebenfalls aus Buchweizen hergestellt werden, gehörten zu meinen Leibspeisen, ebenso wie ein Eintopf mit Schweinefleisch, Artischocken und kleinen Buchweizenklößchen, Huhn mit Quitten oder Buchweizengrieß mit Quitten. Was ich so gar nicht mochte, war Steckrübeneintopf. Damit konnte mich meine Mutter über den Hof jagen und ich würde ihn immer noch verweigern, was man von dem Apfelkuchen nicht behaupten konnte. An jenem Tag aß ich dreiviertel des Kuchens auf. Meine Mutter warnte mich noch, ich würde später Bauchschmerzen bekommen. Aber das war mir egal. Ich schaufelte mir noch mehr in den Mund, sah sie glücklich und zufrieden grinsend an und wischte mir mit dem Handrücken Krümel von Kinn und Wangen. Natürlich behielt meine Mutter Recht, und in der Nacht hatte ich fürchterliches Bauchweh. Ich dachte, ich müsse sterben, so schlecht war mir! Meine Mutter meinte: „Ich habe dich gewarnt, chéri.“ Sie sagte es aber nicht auf eine strenge Art, sondern auf eine sanftmütige, mitfühlende Weise, und hielt meine Haare zurück, während ich den ganzen Kuchen von mir gab, wobei sie immer wieder zärtlich chéri flüsterte, wie nur eine Mutter es vermag. Ich mochte es, wenn sie mich so nannte: chéri. Manchmal sagte sie auch étoile, Stern, zu mir. Schon damals trug ich die Lichtpunkte in meinen Augen, die meine geliebte Mutter zum Schwärmen brachten, mir aber eines Tages zum Verhängnis werden sollten. Inwiefern? Dazu später mehr.

 

Am Morgen nach dem Apfelkuchen-Erlebnis ging es mir wieder blendend, und als ich an den Resten des Kuchens vorbeilief, die noch auf dem Tisch standen, hatte ich schon wieder Appetit und naschte von ihnen. So schlimm kann diese Nacht also nicht gewesen sein. Dennoch war es das letzte Mal, dass ich diesen Kuchen aß und mit meiner Mutter darüber staunte, dass sich an meiner Versessenheit auf diese Leckerei rein gar nichts geändert hatte.