Die Flüchtlinge und wir

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Die Flüchtlinge und wir
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Flüchtlinge und wir

Reportagen, Analysen und Interviews aus der NOZ zur Migration

Neue Osnabrücker Zeitung GmbH & Co. KG

Breiter Gang 10 – 16

49074 Osnabrück

Telefon 0049 (0)541 310-360

E-Mail: ebook@noz.de

Registergericht: AG Osnabrück HRA 3551

Dieser Titel ist auch auf shop.noz.de erhältlich

Sie finden uns im Internet unter: www.noz.de

1. Auflage 2015

© Neue Osnabrücker Zeitung

Redaktion: Burkhard Ewert (Ltg.), Elke Schröder, Carmen Vosgröne (Archiv/Produktion); Julia Knieps (Koordination)

Bildquellenverzeichnis: Jan Ackmann (3), Carola Alge (5), Markus Alwes (1), Katja Butschbach (2), Björn Dieckmann (2), dpa (7), dpa-Grafik (1), David Ebener (4), Familienarchiv Schürmann (3), Familienarchiv Süskind (3), Manfred Fickers (1), Jan Eric Fiedler (1), Simone Fischer (1), Dirk Fisser (4), Frederick Grabbe (4), Michael Gründel (7), Maha Hamo (1), Swaantje Hehmann (4), Dirk Hellmers (2), imago/Hoffmann (1), Jörn Martens (5), Thomas Osterfeld (1), Elvira Parton (1), Stefan Prinz (1), privat (1), Egmont Seiler (1), Gerd Schade (1), Tina Spiecker (1), Hendrik Steinkuhl (1), Marco Urban (1), Gert Westdörp (1), Stefanie Witte (3)

ISBN: 978-3-7375-7900-1

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Wer kam, wer ging? Geschichte Deutschlands als Aus- und Einwanderungsland

1. Migration in der Region: Geschichte in Geschichten

Vom Hollandgänger zum Fabrikanten: Der lange Weg der Familie Meyer aus Berge

Weit im Westen – Auswanderer und ihre Spuren in den USA

Warum der Urururonkel nach Australien ging

Verraten vom Freund des Vaters: Mit 17 kam Bernhard Süskind ins Konzentrationslager

Als 14-Jährige aus Niederschlesien vertrieben

Tröstende Frau prägte Ali Yildiz‘ Deutschland-Bild

Emsländischer Hans im Glück: Der Liebe wegen nach Dänemark

Bei ihnen steht die Bibel neben dem Koran

Almerija Delic spricht lieber über die Oper als über die Hölle im früheren Jugoslawien

Ein Leben zwischen Ost und West: Swetlana Jauk

Nihat und Mahmut Bucakli: Wie siebenjährige Dolmetscher

Irakischer Künstler Ahmed Al-Kenani malt mit Flüchtlingskindern

Nach Flucht aus Irak für andere aktiv

Landarzt im Emsland? Zusage nach zwei Monaten Bedenkzeit

Verlockendes Angebot auf der grünen Insel

Kann Osnabrück für die Hlbos eine neue Heimat sein?

Nach langer Suche: Die Hlbos finden erste eigene Wohnung

Der erste Schultag – auch für die Flüchtlingskinder Elma und Shasa

Mit Baby auf der Flucht

Büffeln für den deutschen Führerschein

Regisseur Anis Hamdoun schildert das Schicksal eines Flüchtlings

2. Angekommen 2014 – 2015: Menschen erzählen von Flucht vor Krieg und Armut

Aus OsnabrDer HRaus aus dem Kosovo, rein ins GlWarum der Afghane Maisam sich in Hesepe wohlfAlles auf Anfang: Maisams Leben in DelmenhorstDer 16-jAus dem EmslandBaby Maya Meppener Patin fBaby Mayas Familie entsetzt Zuflucht in Papenburg: Sanan Inezan hofft auf BleiberechtAus Delmenhorst und dem Oldenburger LandSyrischer Arzt lernt Deutsch in der PraxisAsylbewerber Basel Taifour unterst3. Wir und die FlDer euphorische Augenblick: Das neue deutsche SommermAus Osnabr18 Jahre nach stillem Bad Iburger Kirchenasyl: Wir werden gebrauchtWie leben FlHochschulen helfen FlEndlich mal handfest arbeiten: Begegnungstag mit FlTil Schweiger in OsnabrHesepe: Ein Dorf an seinen GrenzenLeben im Ausnahmezustand: Erstaufnahmeeinrichtung HesepeSpendenHeseper Unterkunft im UmbruchAus dem EmslandZehn Tage auf dem Weg nach MeppenTraining als Deutschstunde FlAus Delmenhorst und dem Oldenburger LandDelmenhorster Tafel kDer t4. Wie verMigrationsforscher Wolfgang Kaschuba: Kulturell keineswegs zu 100 Prozent andersDIW-PrParteienforscher JIslamwissenschaftler BGEW-Vorstand Ilka Hoffmann fordert umfassendes Recht auf Bildung fNeurobiologe Gerald HCaritas-PrKanzleramtsminister Peter Altmaier: Tausende haben Gro5. AnhangDie wichtigsten Fluchtursachen Die fDie Soziologie einer VFl

Vorwort

Nur wenige ahnten, was das Jahr 2015 bringen würde: Die größte Welle der Zuwanderung seit Jahrzehnten, und das binnen kürzester Zeit. Die Einwohnerzahl einer Kleinstadt kam über die Grenze – täglich. Eine sechsstellige Zahl von Menschen ist bis heute nicht einmal registriert. Die Probleme sind riesig – die Hilfsbereitschaft aber auch. Überall in der Region engagieren sich Bürger für die Flüchtlinge, spenden Geld und Kleidung, fassen mit an, nehmen heimatlose Menschen bei sich auf.

Täglich haben wir darüber geschrieben, sind in allen Orten der Region unterwegs gewesen, haben zweimal das Thema zum Schwerpunkt von NOZ-Agendawochen gemacht, haben Experten eingeladen, vom Innenminister bis zum Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, haben Dutzende Interviews geführt, vom Bürgermeister bis zum Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, und sind für Reportagen mehrfach selbst ans Mittelmeer und auf den Balkan gereist.

Lesen Sie in diesem Buch die wichtigsten Beiträge nach, mit denen die Neue Osnabrücker Zeitung und ihre Lokalausgaben über die Flüchtlingswelle und die Folgen im Jahr 2015 berichtet haben.

Schönes und Schreckliches liegen dabei nah beieinander.

Ihr

Ralf Geisenhanslüke

Chefredakteur, Neue Osnabrücker Zeitung


Einleitung
Wer kam, wer ging? Geschichte Deutschlands als Aus- und Einwanderungsland

Von Burkhard Ewert und Franziska Kückmann

Zehntausende Menschen auf der Flucht erreichten im Sommer 2015 die Bundesrepublik. Ein Blick auf die vergangenen Jahrhunderte zeigt: Deutschland hat eine Tradition als Aus- und Einwanderungsland. Immer wieder verließen Menschen ihre deutsche Heimat, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Andere kamen in der Hoffnung, hier eine Perspektive für die Zukunft zu finden. Die Gründe waren unterschiedlich: wirtschaftliche Not, die Furcht um Leib und Leben, die Suche nach Verwirklichung. Eine Übersicht, wer kam und wer ging.

Mittelalter/Frühe Neuzeit

Schon in früheren Jahrhunderten gab es immer wieder Menschen aus dem Gebiet des heutigen Deutschlands, die ins Ausland gingen, etwa weil sie sich dort bessere Lebensbedingungen erhofften. Ab dem 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert zog es Deutsche in den Osten, zum Beispiel ins Baltikum, nach Ungarn oder Moldawien. Missionare wagten sich für die Verbreitung des christlichen Glaubens in die Tiefen Afrikas, Asiens oder Australiens vor. Auf Einladung der russischen Zarin Katharina die Große gingen viele Deutsche im 18. Jahrhundert nach Russland. Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein zog es gerade viele Männer aus Nordwestdeutschland als Wanderarbeiter in die Niederlande: Hollandgänger wurden sie genannt.

USA-Emigration

Bis 1820 kamen etwa 150.000 Deutsche in die USA. Dann stieg die Zahl rasant an. Gründe dafür waren die stetig wachsende Bevölkerung, häufige Missernten und die daraus resultierenden Hungersnöte hierzulande. Zwischen 1820 und 1920 wanderten 5,5 Millionen Deutsche in die USA aus. Allein 1882 kamen 250.000 Deutsche. Sie versprachen sich in Nordamerika bessere Perspektiven und einen sicheren Lebensunterhalt. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts starteten die meisten Auswanderer ihre oft gefährliche Überfahrt ab Bremerhaven. Der Statistik zufolge haben heute knapp 50 Millionen US-Amerikaner deutsche Wurzeln. Sie sind demnach die zweitgrößte ethnische Gruppe nach den Hispanics.

Jüdische Flucht

 

525.000 Juden lebten 1933 in Deutschland. In den ersten beiden Jahren der Nazi-Herrschaft verließen 60.000 Juden ihre Heimat. Dann ebbte die Auswanderungswelle zunächst ab. Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 änderte sich das: Juden waren fortan Bürger minderen Rechts. Mehr als 25.000 verließen das Land. Nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 folgte eine weitere Auswanderungswelle. Dieses Mal flohen 40.000 Juden. 1939 waren es noch einmal 78.000. Bis 1945 gelang mehr als 250.000 Juden die Flucht. Die Bedingungen für die Ausreise waren oft schwierig. Viele Länder weigerten sich, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Hinzu kam, dass die Nazis es Juden 1941 verboten, das Land zu verlassen.

Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge

Schätzungen von Historikern zufolge waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 etwa zwölf bis 14 Millionen Menschen von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlung und erzwungener Auswanderung aus den sogenannten Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reichs betroffen. Unmittelbar nach Kriegsende gab es zunächst vor allem wilde Vertreibungen. Zudem irrten auch unzählige Landverschickte und zuvor verschleppte Zwangsarbeiter durch Deutschland. Ab 1946, infolge der Potsdamer Konferenz der Alliierten, setzte der Versuch der geordneten Umsiedlung ein. Doch auch dabei kam es oft zu Gewalt, Lagerinhaftierungen und Zwangsarbeit. Die bekanntesten Regionen, aus denen die Menschen nach 1945 vertrieben wurden, waren Ost- und Westpreußen, Schlesien, Pommern, das Baltikum sowie die Sudeten- und Wolgagebiete.

Gastarbeiter

In den 1950er-Jahren kam Deutschland wirtschaftlich langsam wieder auf die Beine. Es begann, Anwerbeverträge zur Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte zu schließen. Den Auftakt bildeten die Vereinbarungen mit Italien im Jahr 1955. Es folgten Verträge mit Spanien und Griechenland (beide 1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte kamen auf diesem Weg bis 1973 nach Deutschland; elf Millionen kehrten wieder zurück. Die Arbeitsverträge waren in der Regel auf ein bis drei Jahre befristet. Die ausländischen Arbeitskräfte waren überwiegend in un- oder angelernten Bereichen tätig.

Die Suche nach Sinn

Die großen Wellen der Auswanderung dominieren die Wahrnehmung der Emigration. Während der Nazi-Herrschaft, davor in die USA, im Mittelalter Richtung Nordost- und Südeuropa. Bis in die neueste Zeit gab und gibt es aber auch immer wieder Menschen, die sich in kleinerem Rahmen auf den Weg gemacht haben, etwa einer Überzeugung oder der Liebe wegen. Zahlenmäßig sind sie kaum zu erfassen. Hippies gehören dazu, die auf der Suche nach sich selbst zum Yoga-Meister nach Südostasien zogen. Auch Kommunisten, die ihr Glück im Ostblock suchten, oder verfolgte Wiedertäufer wie die Mennoniten, die Enklaven in Nord- und Südamerika schufen. Und ebenso jene, die heute in der globalisierten Welt im Ausland ihre große Liebe gefunden haben.

Aussiedler

Ab 1989 stieg die Zahl der Aussiedler aus Osteuropa in der Bundesrepublik an. Zwischen 1950 und 1992 kamen 2,8 Millionen, davon 1,4 Millionen aus Polen. Allein zwischen 1993 und 2001 kamen dann knapp 1,4 Millionen sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland, davon mehr als 1,3 Millionen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ihre historischen Wurzeln lagen in der östlichen Siedlungswanderung aus dem deutschen Sprachraum während vergangener Jahrhunderte, die 1763 mit dem Anwerbemanifest der russischen Zarin Katharina die Große begann. Die Zuwanderung war deshalb eine Art „Rückwanderung“ nach vielen Generationen, weshalb diese Menschen auch Russlanddeutsche genannt werden.

Asylbewerber in den 1990ern

Bis Ende der 1980er-Jahre stammten zwei Drittel der Asylbewerber in Deutschland aus Staaten der sogenannten Dritten Welt. Wenig später sah das anders aus: 1993 stammten 72 Prozent der Asylanträge vor allem aus Südosteuropa. Gründe waren Krisen wie die Jugoslawienkriege von 1991 bis 1999. Die Zahl der Asylanträge erreichte 1992 ihren Höchstwert von fast 440.000. Untergebracht wurden die Flüchtlinge vor allem in Wohnheimen, Containern oder Zelten. Parallel nahm die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu. Die teils tödlichen Gewalttaten – darunter in Hoyerswerda (1991), Rostock, Mölln (beide 1992) und Solingen (1993) – häuften sich und lösten in weiten Teilen der Bevölkerung Entsetzen aus.

Fach- und Arbeitskräfte

Schon jetzt fehlen in Deutschland viele Fachkräfte – und aufgrund der demografischen Entwicklung wird sich dieser Trend noch verschärfen. Die Wirtschaft setzt deshalb zum einen gezielt auf die Zuwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte, zum anderen auf die Unterstützung durch billige Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Zwei Drittel der Zuwanderer kommen laut Bundesregierung aus EU-Staaten. Seit Mai 2011 gilt in Deutschland volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bürger der zehn im Jahr 2004 zur EU beigetretenen Länder Ost- und Südeuropas, darunter Estland, Lettland, Polen oder Ungarn. Anfang 2014 fielen die Zuzugsbeschränkungen für Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Nach beiden Stichtagen blieb die befürchtete Zuwanderung ins deutsche Sozialsystem aus.

Neue Flüchtlinge

Seit 2014 häufen sich die Asylanträge in Deutschland wieder. Von 2013 auf 2014 stieg die Zahl der Anträge um 60 Prozent auf 202.834. Im Jahr 2015 rechnet die Bundesregierung mit bis zu einer Million Asylbewerbern. Grund für die große Zahl sind viele ungelöste Konflikte, allen voran der seit vier Jahren wütende Krieg in Syrien. Unsicherheit und Instabilität nehmen in vielen Teilen der Welt zu. Auch aus Afghanistan, Eritrea und den Balkanstaaten kamen zuletzt viele Flüchtlinge nach Deutschland. Vielerorts werden sie mit großer Hilfsbereitschaft empfangen, aber auch Fremdenfeindlichkeit und Skepsis gegenüber den Neuankömmlingen nehmen spürbar zu. Im ersten Halbjahr 2015 kam es zu 202 Übergriffen auf Flüchtlingsheime.

1. Migration in der Region: Geschichte in Geschichten
Vom Hollandgänger zum Fabrikanten: Der lange Weg der Familie Meyer aus Berge

Von Jürgen Ackmann und Christoph Otten

„Lappiespop.“ Johann Gerhard Meyer wird dieses verächtliche Wort gekannt haben. Als „stinkende Lappen“ bezeichneten viele Niederländer anfänglich im 19. Jahrhundert die deutschen Tuchhändler, die durch ihr Land zogen. Von der langen Reise gezeichnet und arm wie Kirchenmäuse machten sie wohl tatsächlich keinen guten Eindruck. Johann Gerhard Meyer, der Heuermann aus der Berger Bauerschaft Dalvers, war einer von ihnen.

Das Leben als Heuermann war perspektivlos und wirtschaftlich kaum auskömmlich. Kein Wunder, dass im 19. Jahrhundert der Spruch „Besser ein Kind stirbt als die Kuh“ die Runde machte. Auch in Berge. Johann Gerhard Meyer, geboren am 18. August 1788, wollte jedoch diesen Kreislauf aus Armut und Resignation durchbrechen – wie viele andere auch. Ausgerechnet den feuchten und eher kargen Böden des Berger Landes gewann Johann Gerhard Meyer eine Zukunftsperspektive ab. Dort wuchs nicht viel, wohl aber der Flachs. Aus dem machten er und die Berger zunächst feines Leinen. Das verwebten sie später mit der Wolle der in den Mooren weidenden Schafe. Das Ergebnis: ein die Feuchtigkeit abweisender Stoff – Wolllaken genannt. Im armen Osnabrücker Nordland kaum verkäuflich, entwickelte sich das Produkt in den reichen Niederlanden zum Verkaufsschlager und machte viele Berger wohlhabend.

Die Wolllaken produzierte Johann Gerhard Meyer zusammen mit seinen Halbbrüdern. Der Verkauf in den Niederlanden erfolgte zunächst zu Fuß mit Kiepe, später – als die Gulden flossen – auch mit Fuhrwerken. Im Laufe der Jahre gewann Johann Gerhard Meyer als Tuchhändler Ansehen. Die holländischen Bäuerinnen freuten sich über die gute Qualität der Ware, zudem erfuhren sie vom weit gereisten Wolllakenhändler interessante Neuigkeiten.

Dann kam der Tag, an dem Johann Gerhard Meyer beschloss, seinen Halbbrüdern ganz die Produktion zu überlassen. Er selbst zog 1822 im Alter von 34 Jahren zu Handelszwecken mit seiner Frau Anna Margaretha nach Burgerbrug, einem kleinen Dorf zwischen Alkmaar und Den Helder. Dort eröffnete er in einem kleinen Haus am Schifffahrtskanal ein Textilgeschäft. Die Verhältnisse waren beengt, zumal das Ehepaar vier Kinder hatte. Auch sonst war Burgerbrug offenbar nicht das Paradies, wie später Gerhard Lucas Meyer, einer der drei Söhne von Johann Gerhard Meyer, schrieb: „Im Übrigen ist die Landschaft hier schrecklich einförmig. Der scharfe raue Seewind lässt den Baumwuchs nur im Schutz der Häuser zu.“ Und doch lebte Gerhard Lucas Meyer in einem der wirtschaftlich mächtigsten Länder jener Zeit, wie er in der Schule täglich aufs Neue von seinen strengen Lehrern erfahren sollte.

Geld hin, Geld her. Margaretha Meyer fühlte sich in Burgerbrug zunehmend unwohl. Sie sehnte sich nach ihrer Heimat. 1841 war es so weit. Der Umzug war vorbereitet. Es ging zurück nach Berge. Die Brüder von Johann Gerhard Meyer waren inzwischen gestorben. Gleichwohl machte er erneut eine Weberei auf, beschaffte Handwebstühle und führte das Unternehmen mit seinem Sohn Rembert. Gerhard Lucas Meyer, dem das einförmige Land nicht gefallen hatte – besuchte unterdessen in Berge die erste Privatschule in der Osnabrücker Region. Händler, die in den Niederlanden zu Wohlstand gekommen waren, hatten sie gegründet, um kommende Generationen auf das Kaufmannsleben vorzubereiten.

Das Leben der Familie nahm zunächst seinen erfolgreichen Gang. Dann folgte ein Schicksalsschlag. Rembert Meyer erschoss sich. Gerhard Lucas Meyer sprang 1849 ein und kümmerte sich um Buchhaltung und Verkauf. Mit seinem Vater vergrößerte er den Betrieb. 60 Weber arbeiteten in der Blütezeit für die Familie. Die Meyers waren nun nicht mehr Hollandgänger. Sie waren Fabrikanten.

1852 änderten sich die Rahmenbedingungen. Das Königreich Hannover, zu dem Berge gehörte, trat dem deutschen Zollverein bei und bildete mit Preußen ein Wirtschaftsgebiet. Dort gab es bereits Maschinenwebereien. Sie waren der Handweberei von Johann Gerhard Meyer überlegen.

Aber Gerhard Lucas Meyer – der Sohn – war inzwischen ein mit allen Wassern gewaschener Kaufmann. Er überzeugte seinen Vater 1853, den Betrieb schnell zu verkaufen. Ein Kapitel bewegter Familiengeschichte fand so sein Ende – aber nur, um ein noch erfolgreicheres zu schreiben. Gerhard Lucas Meyer übernahm Anteile an einer chemischen Fabrik in Osnabrück, war Mitbegründer der Ilseder Hütte und des Peiner Walzwerkes, aus denen die Salzgitter AG hervorgehen sollte. Am 30. Dezember 1916 starb der Nachfahre einer Hollandgängerfamilie als ein in Deutschland hoch angesehener Industrieller und kaiserlicher Kommerzialrat. All das ist dokumentiert im Haus seiner Eltern in Berge, das sich als Museum der Hollandgängerei widmet. Das Meyer-Haus zeigt, dass Menschen immer Grenzgänger waren.


Gerhard Lucas Meyer: Der Sohn von Hollandgängern war einer der erfolgreichsten Industriellen seiner Zeit. (Jan Ackmann)


Hollandgänger, die es zu etwas Wohlstand gebracht hatten, leisteten sich eine Hundekutsche für ihre Fahrten. Christoph Otten vom Meyer-Haus zeigt ein Bild von Bernhard Tepe. Er kam aus der Berger Bauerschaft Anten. (Jan Ackmann)


Das Haus der Familie Meyer in Berge ist inzwischen ein Museum. Schwerpunkt: die Hollandgängerei. (Jan Ackmann)

Weit im Westen – Auswanderer und ihre Spuren in den USA

Von Dirk Fisser

Der Nordwesten Deutschlands zieht heute Tausende Arbeitsmigranten aus Osteuropa an. Die Hoffnung auf besseren Verdienst bringt die Menschen an die Schlachtbänke und in die Werkshallen der Region. Dabei reichten hier in den vergangenen beiden Jahrhunderten lange Zeit Land und Arbeit nicht, um die Menschen zu ernähren. Zu Zehntausenden kehrten sie ihrer Heimat den Rücken. Das Ziel: die USA. Bis heute finden sich auf der Landkarte Spuren der norddeutschen Auswanderer.

 

46 Millionen US-Amerikaner haben ihre Wurzeln nach Angaben der US-Statistikbehörde in Deutschland. Es handele sich hinter den Hispanics um Amerikas größte ethnische Gruppe, stellte kürzlich der „Economist“ fest. Weil sich die Menschen aber so gut assimiliert hätten, fielen sie kaum noch auf. Die deutschen Einwanderer seien für die amerikanische Kultur so etwas wie die Prise Zimt für den Apfelkuchen.

Es folgt eine Aufzählung mit den unweigerlichen Exportschlagern wie Bratwurst, Bier und dem Kindergarten. Unübersehbare Abdrücke der Teutonen im amerikanischen Alltag, befand der „Economist“. Um Spuren der Einwanderer aus Nordwest-Deutschland zu finden, muss man schon etwas genauer hinschauen. Oder im Fall von Bunde etwas langsamer fahren.

Denn tatsächlich hat die Gemeinde im Landkreis Leer einen kleineren Zwilling im weit entfernten US-Bundesstaat Minnesota. Genauso geschrieben, nur anders ausgesprochen, nämlich „Bandie“. An der Verbindungsstraße zwischen den Kleinstädten Montevideo und Hutchinson gelegen, deutet nicht viel mehr als ein kleines Ortseingangsschild darauf hin. Und das überdimensionierte Schild der örtlichen Kirche. „Heute schon gebetet?“, werden die Vorbeifahrenden gefragt. Bunde ist nicht viel mehr als das Schild, die Kirche und fünf Wohnhäuser.

In einem davon befindet sich eine Art Museum, das an die Anfänge der Ortschaft erinnert. Es klingt ein bisschen nach der Weihnachtsgeschichte: Demnach kam in den 1880ern der gebürtige Rheiderländer Wübbe Dirk Ammermann nach Minnesota, um hier im Auftrag einer Landgesellschaft eine Siedlung mit ostfriesischen Einwanderern aufzubauen. Ammermann, so heißt es im Museum, habe sich zunächst in einem Kuhstall niedergelassen und von hier aus Kundschaft akquiriert.

Den Aufzeichnungen zufolge war der Rheiderländer 1864 mit seiner Frau Trientje und Sohn Dirk ausgewandert. 37 Jahre war Wübbe damals wohl alt. Von Bremerhaven ging es auf dem Dampfschiff „Bremen“ nach New York und von dort aus weiter nach Illinios. Einige Monate zuvor hatte sich hier die Familie von Trientjes Bruder niedergelassen. Nach fast zwei Jahrzehnten als Farmer zog Ammermann dann im Auftrag der Landgesellschaft in den Nachbarstaat Minnesota und warb hier um ostfriesische Siedler.

Kuper, Freese und Lutjens hießen den Aufzeichnungen zufolge die ersten Landkäufer – allesamt Ostfriesen. Im Sommer 1886 hätten täglich 16 bis 20 Männer bei Ammermann vorgesprochen. 45 ließen sich schließlich in dem Ort Bunde nieder, benannt nach Ammermanns deutscher Heimat. Die dazugehörige Township, eine amerikanische Verwaltungseinheit, nannte der 1894 im Alter von 66 Jahren gestorbene Ostfriese Rheiderland.

Die Gründung fiel mit dem Auslaufen der ersten großen Auswanderungswelle von Ostfriesland nach Amerika zusammen. Mehrere Tausend Menschen verließen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mangels Arbeit und Land ihre Heimat. Im Vergleich zur Auswanderungsbewegung in Gesamtdeutschland ist das recht spät. Migrationsforscher und Historiker nennen die Hollandgängerei als Grund. Die Männer entlang der niederländischen Grenze konnten im Nachbarland Geld als Wanderarbeiter verdienen. Die Motive waren also ähnlich wie die der Auswanderung. Nur der Weg war kürzer. Und so blieben Emsländer, Grafschafter oder aber Ostfriesen länger in ihrer Heimat.

Wenn es dann über den Atlantik ging, war der Mittlere Westen das bevorzugte Ziel. Wie beispielsweise Minnesota. Auswanderer aus dem Osnabrücker Land, die tendenziell einige Jahrzehnte früher aufbrachen, zog es bevorzugt in den Bundesstaat Ohio. Und siehe da: Hier findet sich auf der Landkarte ein zweites Glandorf, gegründet 1833 von einem Osnabrücker Geistlichen. Mit dabei hatte er eine Reihe von Siedlern aus dem deutschen Glandorf. Dies sprach sich in der Heimat herum, und prompt folgten weitere. Kettenwanderung nennen Migrationsforscher dieses Phänomen.

Gleiches lässt sich für Meppen feststellen, einen kleinen Ort im Bundesstaat Illinois. Hier siedelten sich vor allem Deutsche aus dem emsländischen Börger an. Oder New Melle in Missouri mit Familien aus dem Umfeld von Melle im Osnabrücker Land. Es gibt unzählige weitere Beispiele. Viele sind bedeutend größer als das kleine Bunde in Minnesota. 20 Einwohner wurden bei der Volkszählung im Jahr 2012 noch gezählt. Allein die „Christian Reformed Church“ sorgt für Betrieb. Etwa 300 Mitglieder zählt die Gemeinde. Bis in die 1930er-Jahre wurden die Messen noch auf Deutsch abgehalten.

Gut möglich, dass die Einwanderer aus Deutschland auch hier wie im gesamten Rest der USA ihre Herkunft lieber verbargen angesichts der kriegerischen Auseinandersetzung und Gräueltaten im Ersten und später auch im Zweiten Weltkrieg. Und so geriet in Vergessenheit, wie deutsch die USA eigentlich sind. Erst langsam scheinen sich viele Amerikaner ihrer Wurzeln wieder zu besinnen. „Deutschland war noch nie so populär wie heute“, zitiert der „Economist“ die Leiterin eines Museums in Washington D.C., das an das deutsch-amerikanische Erbe erinnert.


Man muss schon genau hinschauen: Eine Straße im Mittleren Westen der USA – hier befindet sich die Ortschaft Bunde, ein Ableger der Gemeinde aus dem Rheiderland. (Dirk Fisser)