Loe raamatut: «Sarah Boils Bluterbe»

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Sarah Boils Bluterbe

Nicole Laue

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Nicole Laue

ISBN 978-3-8442-6150-9

Kapitel 1

Ich stellte mein Sektglas auf den Tisch, mein Blick schweifte zu Martin, der genüsslich gähnte. Mit schläfrigem Unterton murmelte er: „ Hab ich den Film verpennt?“

Ist ja nichts Neues, dachte ich mir, nickte kurz, schnappte mir die Fernbedienung und knipste den Fernseher aus. Träge Dunkelheit schwappte durch den Raum. Martin raffte sich auf, beugte sich zu mir und drückte mir flüchtig einen Kuss auf die Lippen. Dann kratzte er die letzten Chips aus der Schüssel, stopfte sie ungeschickt mit allen Fingern in seinen Mund und nuschelte kaum verständlich:

„Weiß gar nicht, warum du dir den irrealen Kram immer wieder reinziehst.“

Weil der Kerl einfach sexy ist.

Ich sprach es jedoch nicht aus, lächelte stattdessen und antwortete: „Ich geh schlafen, wird Zeit.“

Ohne Vorwarnung sprang er plötzlich mit einem Satz auf mich zu und fauchte durch die Zähne: „Dein Herr und Meister bin ich, ich bin Graf von Blutsaugermanien holde Jungfrau, lass mich an deinen zarten Hals und ich mache dich zu Meinesgleichen.“

Bevor er mir einen seiner matschigen Küsse aufdrücken konnte, presste ich ihn mit beiden Händen von mir. Genervt erwiderte ich: „In deinen Mundwinkeln kleben Chips.“

Verdutzt hielt er inne: „Ja und?“

Warum begreifen Männer nicht, dass es nicht zu unseren Freuden gehört, Speisereste zu küssen?

Seiner Frage ausweichend, drängte ich mich an ihm vorbei, tätschelte tröstend seinen Kopf und verschwand im Bad. Ich blickte in mein Spiegelbild, drückte und knautschte mit den Fingern die feine Haut unter meinen Augen zusammen und zog eine Grimasse.

Wenn man die 30 überschritten hat, geht es wirklich langsam bergab.

Hier half nur ein schneller Griff ins Regal. Anti-Falten Softcream. Na, wer sagt`s denn. Die Kosmetikindustrie konnte zwar die Zeit nicht anhalten, aber sie konnte meinen bereitwilligen Geist wunderbar manipulieren. Ich verteilte das weiße Zeug exakt so, wie es die Packungsbeilage vorgab, und betrachtete mich danach näher im Spiegel.

Geht doch. Haaa! Siehe da, die Wundercreme wirkt sofort, alle Falten sind noch da.

Ich musste über mich selbst schmunzeln. Was erwartete ich eigentlich? Ich sollte zufrieden sein. Mit zwei warmen, blauen und leuchtenden Augen, sowie mit mein markantem Gesicht und schönen Zähnen, hatte die Natur es eigentlich gut mit mir gemeint. Ich sollte endlich lernen, dass der Zahn der Zeit an niemandem vorbei nagt.

Außerdem machen Fältchen interessant! Schluss, Basta!

Ich schnappte mir mein Minta-White Tube, schmierte einen kräftigen Streifen auf die Borsten und ließ die elektrische Zahnbürste kreisen. Dabei machte ich gleichzeitig meine täglichen Dehnübungen am Badewannenrand. Während ich noch nach vorne gebeugt über der weißen Keramik hing und dabei die Zahnbürste umständlich in meinem Mund verschwinden ließ, ging plötzlich das Licht aus. Ich hielt inne. Die Tür öffnete sich kaum hörbar, nur ein kühler Luftzug strich um meine nackten Beine. Atemgeräusche näherten sich. Zwei eiskalte Hände legten sich von hinten um meine Hüften und unsanft pressten sich zwei Nikotinlippen in meinen Nacken. Martin hatte wohl mal wieder auf dem Balkon geraucht und die Frische des Abends mit hinein getragen. Ich seufzte. „Nicht jetzt, Martin. Ich bin müde.“

„Das geht vorbei", hauchte er mir ins Ohr.

Ich versuchte mit einem Stöhnen die Last seines Gewichtes von meinem Rücken zu drücken und mich aus seiner Umarmung zu befreien. Aschenbecher küssen gehörte nicht gerade zu meinen erotischsten Fantasien. Er zuckte mit dem Schultern und verschwand beleidigt in Richtung Schlafzimmer. Ich atmete auf und schlich in die Küche. Die Wasserflasche ansetzend, blickte ich aus dem Fenster, direkt in den Hinterhof meiner Mietwohnung. Alles schien friedlich, die Nacht hatte ihre Schatten auf die Erde gelegt und der Mond schimmerte durch die Zweige einer alten Kastanie, die wenige Meter entfernt, direkt vor dem angrenzenden Nachbargrundstück stand. Ich liebte diesen alten Baum. Zuweilen beobachtete ich zwei Eichhörnchen, die dort ihr Zuhause gefunden hatten und beneidete sie um ihre Leichtigkeit. Mit ihren zarten Körpern hüpften sie von Ast zu Ast, dass einem beim Zusehen schwindelig wurde. Gerade als ich mich abwenden und ins Bett gehen wollte, fiel mir ein dunkler Schatten auf, der sich auf einem der kräftigen Äste der Kastanie langsam hin und her bewegte. Ich blinzelte. Für ein Eichhörnchen war der dunkle Fleck einfach viel zu groß. Bei genauerem Betrachten erkannte ich die Umrisse einer Gestalt.

Karlson vom Dach? Was treibt der da?

Blitzschnell, nur einen winzigen Wimpernschlag, und der Schatten verließ mit einem Hechtsprung den Baum und huschte den drahtigen Zaun entlang. In rasender Geschwindigkeit verschwand er hinter einer Häuserwand. Erstaunt wartete ich noch einen Moment, ob er zurückkommen würde, doch er war verschwunden. So begab ich mich ins Schlafzimmer und krabbelte leise zu Martin ins Bett. Er schlief schon und schnarchte selig ins Kissen. Ich wickelte die Decke um meine kalten Füße und blickte noch eine Weile durch das große Fenster, direkt in den Himmel und auf die sich im Wind wiegenden Äste der alten Kastanie. Das Schlafzimmer lag wie die Küche zum Hinterhof hinaus und so konnte ich den alten Baum gut sehen.

Das gibt es doch nicht, da ist er ja schon wieder.

Ich sprang aus dem Bett und presste die Hände gegen die Scheibe. Und wieder verschwand der Schatten genauso schnell, wie er gekommen war.

Sehr merkwürdig!

Ich fühlte mich auf seltsame Weise beobachtet und verharrte für einen Moment. Doch dann geschah nichts mehr, ich blickte in die friedliche Stille einer schlafenden Großstadt. Leise schlich ich in den Flur, von dort aus ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontüre. Ich warf einen Blick über die Brüstung und spähte über die roten Geranien, die Martin gepflanzt hatte, direkt auf die Straße. Vielleicht war er ums Haus geschlichen. Ich spähte in alle Richtungen. Keine Menschenseele! Geduldig wartete ich eine Weile. Doch die fremde Gestalt tauchte nicht mehr auf. Seufzend und zurück in die Wohnung kehrend, krabbelte ich in mein Bett zurück und fiel nach einer Weile in seltsame Träume.

„Erschrick nicht.“

Eine Stimme, die mir ganz und gar unbekannt war, bewegte sich geradewegs auf mich zu. Eine Männergestalt in dunkler Kleidung und die Hände vor dem Bauch verschränkt, schritt bedächtig näher. Sie blickte mich mit sanften und doch seltsamen, verklärten Augen an.

„Wer bist du?“ hauchte ich ihm leise entgegen.

„Bist du der Schatten aus dem Baum?“

Ich blickte an mir hinunter, ich trug keine Schuhe. Barfuß und nur spärlich bekleidet mit einem dünnen, kurzen und nicht gerade blickdichten Nachthemd, stand ich mitten auf der Wiese im Hinterhof.

Wie kam ich eigentlich hier hin? Und vor allem, was mache ich hier?

Die fremde Gestalt schritt langsam auf mich zu. Die Konturen formten sich zu einem attraktiven und sanftmütigen Gesicht. Trotz der Dunkelheit konnte ich im Schein des Mondlichts erkennen, dass seine Augen bläulich schimmerten. Sein braunes, leicht gewelltes Haar umrahmte sein markantes und blasses Gesicht. Er blieb in annehmbarem Abstand vor mir stehen und sagte: „Nein, das bin ich nicht. Aber ich bin deswegen hier.“

Unbehagen kroch an mir hoch und ich spürte, wie ein Zittern folgte und sich eine Gänsehaut, wie eine Schlange um mich bog.

„Was soll das alles? Wer bist du? Und was willst du von mir?“

Der Fremde sah mich geduldig an und sagte dann leise: „ Ich bin Christopher, dein Vater.“

Mir verschlug es die Sprache. Ich stand fast nackt, mitten in der Nacht, im Hinterhof unseres Mietshauses vor einem fremden Mann, der behauptete mein Vater zu sein. Die anfängliche Angst verflog sofort und kaltschnäuzig erwiderte ich: „Mein Vater ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.“

Das genutzte, persönliche „du“ verschwand aus meinem Wortschatz und das distanzschaffende `Sie` nahm seinen Platz ein.

„Und wagen Sie es sich nie wieder, mich zu beobachten. Sollte ich Sie noch einmal in der Nähe unseres Hauses sehen, rufe ich die Polizei.“

Der Fremde blickte zu Boden, dann wieder zu mir und erwiderte: „Ich begegne dir in deinem eigenen Traum. Wenn ich wieder fort bin, wirst du sofort erwachen. Aber jetzt musst du mir einfach nur zuhören. Sarah, glaube mir, ich bin dein Vater.“

Er sah erneut auf, unsere Blicke trafen sich.

„Woher kennen Sie meinen Namen", japste ich und versuchte Luft zu holen. „Und wer verdammt noch mal sind Sie?“

„Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Die nächsten Tage wird dir ein Mann begegnen, sein Name ist Lionel. Du darfst ihm auf keinen Fall vertrauen. Und Sarah…ruf Christine an, sie wird dir alles Weitere erklären.“

„Christine? Meine Mutter?“ schrie ich erschrocken und sah ihn mit großen, fragenden Augen ungläubig an. Meine Stimme versagte für den Moment und wie in Trance fügte ich kaum hörbar hinzu: „Woher kennen Sie den Namen meiner Mutter?“

„Es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Du bist nicht mehr länger sicher. Viele Dinge werden sich in deinem Leben von nun an ändern. Ich kann dir das nicht alles erklären. Ich dürfte gar nicht hier sein und muss dich nun auch wieder allein lassen.“

„Warte", rief ich ihm nach.

„Ich habe ein paar Fragen.“

Er schenkte mir ein liebevolles, fast schon fürsorgliches Lächeln, das mich auf seltsame Weise verwirrte, denn in seinen Gesichtszügen konnte ich keinerlei böse Absichten entdecken.

„Hüte dich vor Lionel!“

Seine Stimme wurde leiser und seine Gestalt verwandelte sich in eine durchsichtige, unbeschreibliche Figur, die sich langsam einfach in Nichts auflöste.

„Warte doch mal!“

Allem Anschein nach konnte er mich jedoch nicht mehr hören, er war genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Im gleichen Moment öffnete ich die Augen und starrte in Martins Gesicht.

Was war das denn jetzt?

Zeitgleich fiel mir eines von Marys Büchern ein, der Titel war mir in guter Erinnerung geblieben:

Träume - der Schlüssel zum eigenen Ich.

Tja, damit wäre dann ja wohl alles gesagt.

Ich war ein verzogenes Einzelkind, das ohne Vater aufwachsen musste. Kein Wunder, dass sich das eines Tages bemerkbar machen würde. Ich presste meinen Kopf ins Kissen und fiel trotz des seltsamen Traumes, in einen tiefen und ruhigen Schlaf.

„Guten Morgen", brummte es neben mir.

„Mmmmm“ grummelte ich zurück, blinzelte verschlafen und zwang mich, die Augen zu öffnen. Keine zehn Zentimeter vor meinem Gesicht entfernt, leckte sich Martin über seine Lippen. Blitzschnell flutschte das schlabbrige Teil zurück in seine Mundhöhle und zwei feuchte Lippen näherten sich bedrohlich meinem Mund. Ich riss den Kopf zurück, sprang aus dem Bett, rannte ins Bad, rief noch schnell durch den Türrahmen „Ich muss mal dringend", und schlug die Badezimmertüre zu.

Puh, gerade noch geschafft, Schwein gehabt. Ohne Zähneputzen, ist ja ekelhaft.

Wenig später saß ich in Jeans und Sweatshirt in der Küche an meinem Bartisch und schlürfte die erste Tasse Kaffee. Als Martin aus der Dusche kam und auf mich zusteuerte, zog ich ihn näher an mich heran und gab ihm seinen lang ersehnten Kuss. Sein Blick hellte sich auf und er schenkte mir ein liebevolles Lächeln.

„Ich fahre heute zu Technico, den Laptop umtauschen, danach wollte ich die Rechnungen fertig machen. Kommst du auf der Baustelle allein zurecht?“

Martin nickte, drückte mich näher an seine kräftige Brust und antwortete: „Sicher, aber solltest du mich ablenken wollen, habe ich nichts dagegen einzuwenden.“

Ich ignorierte seinen erhöhten Testosteronspiegel und blickte über seine Schulter durch das Fenster in den Hinterhof. Eines der Eichhörnchen flitzte in Windeseile den dicken Stamm der Kastanie hoch und versteckte sich im Geäst. Sein wuscheliger Schwanz verschwand als Letztes hinter den grünen Blättern. Wie friedlich die Welt dort draußen in solchen Augenblicken schien. Bevor ich den Gedanken weiter entwickeln konnte, weiteten sich plötzlich meine Pupillen.

Da ist er ja schon wieder!

Kaum mit dem bloßen Auge erfassbar, zischte ein dunkler Schatten hinter dem dicken Baumstamm hervor. Wie ein geölter Blitz schien er die Hürde des Zaunes zum Nachbargrundstück ohne Probleme zu überwinden und verschwand irgendwo zwischen den gegenüberliegenden Häusern.

„Das gibt es doch nicht, das ist das dritte Mal, dass ich jetzt einen dunklen Schatten in unserem Hinterhof sehe. Jedes Mal wenn ich aus dem Fenster schaue, fliegt er vor meinem bloßen Auge vorbei und verschwindet irgendwo.“

Martin schob mich ein Stück von sich weg, kam mit seiner Stirn nah an mein Gesicht, blickte in meine Augen und überlegte: „Vielleicht bekommst du einen grauen Star, oder so was in der Art, geh mal gleich zum Augenarzt.“

„Ja, vielleicht", erwiderte ich unsicher und mir fiel der seltsame Traum von letzter Nacht ein. Er verschwamm jedoch vor meinem geistigen Auge und ich hatte Mühe, ihn noch einmal zu rekonstruieren. Alles was meine Erinnerung hergab, war der Anblick dieses Mannes, der mir gegenüberstand und behauptete, er sei mein Vater.

Himmel, und ich war fast nackt gewesen!

Vielleicht sollte ich mir wirklich endlich eine Therapeutin suchen. Ich seufzte und sprang auf.

„Ich fahr los, sonst wird es mir bei Technico zu voll, dann sitze ich stundenlang in der Reklamationsannahme.“

„Denk an den Arzt, oder ich mach dir gleich einen Termin“ gurgelte Martin mir, mit einem Rest Kaffee im Mund hinterher.

„Nein, nein, ich kümmere mich selbst darum.“

Ich schnappte mir meine Jacke, presste ihm einen Kuss auf den Mund, schlüpfte in meine Schuhe und verließ das Haus.

Warum muss man immer gleich zu einem Arzt rennen?

Kapitel 2

Als ich meinen Wagen geparkt und endlich die Zugangstüre zum Elektrofachhandel gefunden hatte, klingelte mein Handy. Hektisch wühlte ich in der Jackentasche.

„Ja, hier Sarah Boil.“

Die Stimme am anderen Ende quiekte mit piepsigem Ton:„Hallo Sarah, ich bin’s , Meike. Martin hat eben bei uns in der Praxis angerufen, er meinte, ähm……du würdest Schatten sehen? Es ist nicht viel los heute, du kannst am Nachmittag gleich rein kommen.“

Ja klasse, dieser Blödmann!

Ich schnaubte verärgert: „Unsinn, ganz so ist es ja nicht. Er muss da was falsch verstanden haben.“

Meike unterbrach mich freundlich aber bestimmt: „Damit ist nicht zu spaßen, wenn du Schatten siehst, also….ich meine, könnte ja auch bloß die Hornhaut….“

Weiter kam sie nicht, ich unterbrach genervt das Telefonat mit den Worten: „Ja ja, ich weiß schon, ich habe jetzt leider keine Zeit, ich hab noch ein Kundengespräch vor mir. Du weißt ja, Termine, Termine Termine.“

Die kleine Praxishelferin ließ sich nur schwer abwimmeln und quiekte seelenruhig weiter: „Komisch, Martin meinte, ich könnte anrufen, du bist auf den Weg zu Technico.“

Blödmann? Nein, er war ein Vollidiot!

Ich versuchte die peinliche Situation zu retten und erwiderte ebenso höflich: „Ja, da bin ich ja auch. Aber ein Kunde hat mich eben angerufen. Ich muss jetzt Schluss machen.“

Ich atmete tief ein und aus. Der Tag versprach richtig gut zu werden.

Ich stand vor einem schwarzen, abgenutzten, mit Bedienungsanleitung beklebten Automaten, drückte die Taste B für Reklamation und hielt zwei Sekunden später einen Zettel mit Nummer in der Hand. Rechts über mir prangte an der Wand eine schwarze Tafel, auf der der Reihenfolge nach die Nummern in grüner Leuchtschrift angezeigt wurden.

Ich schlenderte an den bereits besetzten Stühlen vorbei und steuerte den letzten freien Stuhl an. Vor mir befanden sich fünf Annahmestellen, jedoch war lediglich eine besetzt. Das kleine, dicke Kerlchen mit fettiger Sturmfrisur wetzte ständig in das Lager linker Hand und kam mit irgendwelchen Austauschgeräten zurück. Jedes Mal, wenn er hechelnd den langen Gang zurück gelaufen kam, rief er den wartenden Kunden mit piepsiger Stimme zu: „Noch einen Augenblick Geduld, wir sind unterbeseeeeeetzt.“

Das letzte Wort zog er so schrecklich in die Länge, dass ich Angst hatte, seine Lungen würden kollabieren. Irgendwie tat er mir sogar leid. Die Schweißperlen, auf seiner Stirn wischte er ständig mit dem Ärmel seines Pullovers ab und ich hoffte, dass er mir nicht gleich die Hand zum Gruße reichen würde. Ich blickte auf die Uhr und seufzte.

Das kann ja noch dauern!

Neben mir saß ein junger Freak mit eisernen Ohren. Ähnlich wie bei einem Mutanten, glitzerten seine Ohrmuscheln, als hätte er sie gerade frisch auf dem Schrottplatz einbauen lassen. Ich konnte die vielen Ringe nicht zählen ohne ihn endlos lang anzustarren. Seine Hände waren mit ebenso vielen Ringen bestückt, dass sie aussahen wie gruselige Totschläger eines Bandenmitgliedes aus einer Gettogang. Mit schmutzigen und verklebten Fingernägeln musste er ein ganzes Fußballfeld umgegraben haben. Schwarze Ränder und abgebrochene Ecken und Kanten hinterließen ein Bild des Grauens. Der Gestank von altem Schweiß und Körperfett verteilte sich langsam wie eine Wolke um die wartende und genervte Menschenmenge. Schmatzend kaute er lautstark auf einem grünen Kaugummi herum und machte knallende Geräusche. Mir jagte ein Schauder nach dem anderen über den Rücken.

Wie kann jemand so leben?

Ich rutschte soweit ich konnte, auf die linke Kante meines Sitzplatzes.

Gut, dass ich noch nicht gefrühstückt habe.

Die Luft war stickig und die Zahlen auf der Tafel veränderten sich nicht im Wesentlichen. Es drohte der absolute Freitagskoller, meine Nerven lagen blank. Ich beobachtete den Eingangsbereich und versuchte mir und meinen Augen ein neues Bild zu schenken. Eine dicke Frau mühte sich vor mir mit einem großen Karton ab, wobei ihr fettiges und strähniges Haar ständig in ihr Gesicht fiel und ihre verquollenen Augen verdeckte. Ihre pink geschminkten Lippen plusterten sich immer wieder flatternd auf und die ungepflegten Haarsträhnen klatschten regelrecht von links nach rechts und blieben auf ihrer Stirn kleben. Dann betrat ein Angestellter des Technicomarktes mit einem Kunden den Wartebereich, indem ich saß und Trübsal blies. Er schob einen Einkaufswagen vor sich her, auf dem sich ein Plasma-Bildschirm befand. Gefolgt von einem jungen, attraktiven Mann im Nadelstreifenanzug.

Na, das war doch mal ein schmuckes Kerlchen!

Sein Körper passte brillant in das schöne Stöffchen. Meist hatten Anzüge bei Männern nicht wirklich überall einen guten Sitz, entweder waren die Beine zu kurz, oder die Arme zu lang. Dieser schien jedoch auf seinen Körper maßgeschneidert zu sein. Sein dunkles Haar trug er recht kurz und jede Strähne saß nahezu perfekt. Fast schon zu perfekt. Ich schätze ihn auf Ende dreißig. Sein Profil wirkte recht markant und die hohen Wangenknochen waren stark ausgeprägt. Seine Augen waren blau. Ein seltsames, sehr intensives, helles Blau. Seelenruhig unterhielt er sich mit dem Fachangestellten über sein defektes Gerät, wobei seine Mimik merkwürdig ausdruckslos wirkte. Er war trotz der sichtbar schlechten Laune des Verkäufers die Ruhe in Person. Seine Körperhaltung war grazil und seine Bewegungen waren harmonisch und viel zu sexy.

8,99 €