Der Terror in mir

Tekst
Autor:
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Terror in mir
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Das Wesen des Krieges besteht darin, dass er Menschen zu Taten legitimiert, die im zivilen Leben als Verbrechen eingestuft und daher von den meisten niemals, in Kriegen jedoch von den meisten ohne Zögern und ohne Schuldgefühle begangen werden.

Friedrich Hacker

1

Die Triebwerke der Maschine dröhnten gleichmäßig und monoton vor sich hin. Es war ein sehr angenehmer und ruhiger Flug. Der Himmel war ebenmäßig blau und wenn man aus dem Fenster blickte, sah man unter sich immer wieder die Erdoberfläche zwischen einigen Wolkenfetzen hervorblitzen. Wie lange waren sie schon unterwegs? Was waren das für Landstriche, die unter ihnen waren? Ganz egal, sie alle mussten überquert werden auf dem Weg nach Hause. Nach Hause, was für ein Begriff, den jeder in seinem Leben tausendfach benutzt, dessen Bedeutung man aber erst erkennt, wenn man wirklich von dort Abschied nehmen musste. Lars rieb sich über die Augen und blickte auf seine Armbanduhr: 12.10 Uhr. Er hatte tatsächlich eine halbe Stunde vor sich hingedämmert und außer dem unterschwelligen Geräusch der Triebwerke nichts von seiner Umgebung wahrgenommen. Gleich viertel nach zwölf, das hieß nur noch knapp zwei Stunden bis zur geplanten Landung. Dann hieß es aussteigen und eintauchen in die alte vertraute Welt, die es jetzt wieder galt neu zu entdecken. In ihm war eine innere Anspannung, er wusste nicht, ob er sie als reine Vorfreude deuten sollte, oder ob es nicht doch einige Anteile ängstlicher Erwartung waren, die ihn beschäftigten. Sechs Monate war er nun von zu Hause fort gewesen, sechs lange nicht enden wollende Monate, die jetzt da sie vorbei waren eigentlich der Vergangenheit angehören sollten. Das dies nicht so einfach werden würde, war ihm klar, dafür hatte er zu viel erlebt und sich zu intensiv mit Dingen beschäftigt, die so gar nicht in die normale Welt zuhause hineinpassten. Auch seine Familie hatte sicherlich nicht das schönste halbe Jahr ihres Lebens hinter sich und doch, da war Lars sich sicher, der größte Vorteil ihm gegenüber war, dass seine Frau und die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung und zusammen gewesen waren und es ihnen im Grunde nur an seiner Anwesenheit gemangelt hatte. Vielleicht, so gestand er sich ein, war diese Einschätzung von seiner Seite aus ungerecht, doch konnte er sich nicht dagegen wehren. Jetzt aber wollte er sich nur noch darauf freuen, seine geliebte Familie wieder zu sehen, mit ihnen zu reden, zu lachen, zu streiten, sie riechen und berühren zu dürfen. Wie würde es sein, seine Frau in die Arme zu nehmen, sie zu küssen, zu umarmen. Würde die ganze Familie da sein, um ihn abzuholen, oder gab es im Leben seiner fast erwachsenen Kinder Wichtigeres als den alten Vater zu begrüßen. Lars war sich so unsicher, er wusste gar nicht, wo dieses Gefühl herkam, aber er hatte einfach Angst davor in eine Welt zurückzukommen, in die er nicht mehr gehörte, da ohne ihn alles seinen gewohnten Lauf genommen hatte, da er in zahlreichen Telefonaten und E-mails erfahren musste, dass seine Lieben sehr gut ohne ihn auskamen, dass seine Frau, den Alltag stemmte, Probleme bewältigte und Lösungen fand. Dinge, die ihn vor seiner Abreise zuversichtlich und glücklich gemacht hatten, eine Frau zu haben, die durchaus in der Lage war ohne ihn auszukommen, die sich zu helfen wusste, wenn Not am Mann war, die das Zusammenleben mit den Kindern als täglich neu erlebtes Glück empfand, die ihm, der nicht eingreifen konnte, niemals das Gefühl gegeben hatte, überfordert zu sein, all dies ließ ihn jetzt ängstlich daran zweifeln, nicht mehr dazuzugehören, den Eintritt in diese vertraute Welt nicht mehr zu finden. „He, Lars, was ist denn mit dir los“, sein Sitznachbar Leon stupste ihn freundschaftlich in die Seite, „wo bist du denn mit deinem Kopf, du siehst ja aus als wolltest du zu deiner eigenen Beerdigung gehen, Junge, es geht nach Hause, nach Hause, merkst du nicht wie geil sich das anhört“. Lars schüttelte sich unmerklich, so als wolle er seine trüben Gedanken aus seinem Kopf verjagen und antwortete jovial: „ Ach, was du nicht sagst, ich dachte schon, der Flieger dreht rum, und das ganze Schlamassel fängt von vorne an“. Die beiden lachten und Leon kam ins Schwärmen: „Weißt du, was ich als erstes tue, wenn ich nach Hause komme? Ich schnappe mir meine Lena und unseren Hund und mache einen Riesenspaziergang mit den beiden. Ich werde nicht aufhören zu reden, nicht aufhören, Lena festzuhalten und nicht aufhören, den Geruch unseres Dorfes aufzusaugen, selbst der leckere Schweinegüllegestank vom alten Wender wird mir vorkommen, wie das teuerste Parfum der Welt. Mein Gott, was freue ich mich. Schreien werde ich, schreien, dass es das ganze Dorf hört: Schaut her, ich bin wieder da, schaut her ich lebe, schaut her ich bin völlig unversehrt. Und wenn es meiner Lena noch so peinlich ist, soll sie doch merken, ihr chaotischer Freund ist wieder da, sechs Monate hat sie sich von mir erholen dürfen, da kann ich ja jetzt mal wieder so richtig Gas geben“. „Das ist ja ein super Plan, mischte sich Torsten ein, „aber irgendwie musst du deine Aktion wohl auf Morgen verschieben, denn bis du in deinem netten Schweineörtchen angekommen bist, wird es dunkel, wir haben schließlich April und nicht Hochsommer“. „Mist, daran habe ich ja nun überhaupt nicht gedacht, ich bin irgendwie völlig quer im Kopf, aber wie soll man mir das auch übelnehmen. Dann mach ich eben Plan B, ich rieche nur an meiner Lena und mehr verrate ich euch nicht“. „Ok, ok, wir haben es ja schon verstanden, aber kannst du es dir auch vorstellen, dass es für andere gerade ganz schön Scheiße ist, wenn du von deiner glücklichen Heimkehr in den Armen deiner Süßen träumst“, Kai, der bislang die immer lebhaft werdenden Gespräche seiner Kameraden schweigend verfolgt hatte, mischte sich nun gereizt ein. „Wisst ihr, ich weiß so gar nicht welche Situation mich nun konkret erwartet, wahrscheinlich kann ich mich heute Abend noch in mein Jugendzimmer bei Mutti verkriechen und das sage ich euch, das ist schlimmer als sechs Monate Container, besonders wenn du weißt, das 20 km weiter deine dich angeblich liebende Gattin in den Armen von irgend so einem Typ liegt und froh ist, dich nicht mehr in ihrer Nähe zu haben. Verdammter Mist, ich habe keine Ahnung wie ich damit umgehen soll“. Die Gereiztheit aus seiner Stimme war beim letzten Satz völlig verflogen und übrig blieb nur Resignation. Allgemeines Schweigen breitete sich aus, denn keiner wusste so recht, was er Kai sagen sollte. „Seht ihr, genau das gibt mir mal wieder zu 100 % Recht, dass mein Singledasein doch die einzig richtige Lebensweise für einen Mann ist, diese festen Beziehungskisten machen auf Dauer doch nur Ärger und schränken euch ein, wie man ja im letzten halben Jahr gesehen hat“, Torsten lachte verschmitzt und strich sich mit der Hand über seinen kurzgeschnittenen Lockenkopf. Er war, da waren sich seine Kameraden alle einig, der absolut Attraktivste unter ihnen und konnte sich in der Frauenwelt immer wieder charmant in Szene setzen. Er hatte neben einem gut trainierten Körper ein angenehm markantes Gesicht zu bieten und es gab niemanden, egal ob männlich oder weiblich, der nicht beeindruckt war von dem Ausdruck seiner blauen Augen, mit denen er so herrlich verschmitzt blinzeln konnte. Torsten war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst und machte auch keinen Hehl daraus, dies absolut zu genießen. Mit seinen nun 32 Jahren war er in der tollen Position Frauen im Alter von 20 bis 40 begeistern zu können und nutzte dies auch gerne aus. Dabei war er immer ehrlich und gab offen zu, jede kurzfristige Affäre einer langlebigen Beziehung vorzuziehen und schon so manche Frau, die ihn eines Besseren belehren wollte, wurde von ihm enttäuscht. So hatte er auch in den letzten Monaten nicht unter der sexuellen Abstinenz seiner Kameraden leiden müssen, denn es gab genug weibliche Soldatinnen im Lager, die genauso tickten wie er und für viele Späße zu haben waren. „Jedenfalls weiß ich schon wie die nächsten Tage und Wochen aussehen werden, es geht ab auf die Piste! Frühling in Deutschland, die Mädels tragen die neue Mode, schicke Pumps und lassen es so richtig krachen, und ich bin dabei“. Torsten wohnte in Kassel, auch das unterschied ihn von den meisten seiner Kameraden, denn Kassel hatte doch zumindest den Hauch einer Großstadt und Probleme mit guten Clubs und Bars gab es nicht. Hier war sein Revier und Torsten hatte genügend Selbstbewusstsein, um zu wissen, dass die nächste Zeit sicherlich spannend werden würde. „Drei Wochen Urlaub, das heißt jeden Morgen ausschlafen und abends ab ins Abenteuer. Allein der Gedanke, einfach aus dem Haus zu gehen, sich frei bewegen zu können und vor nichts und niemand Angst haben zu müssen, ist doch einfach genial, oder?“ Torsten verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und grinste erwartungsvoll vor sich hin. Die letzten Monate waren in Bezug auf Freigang einer Inhaftierung gleichgekommen, nur mit dem Unterschied, dass das Leben hinter Zäunen ihrer eigenen Sicherheit und nicht derer diente, die außerhalb des Lagers lebten. „Ja, genau darum möchte ich ja auch so schnell es geht hinaus in die Natur und einfach durch die Gegend streifen. Joggen im Wald, mit geschlossenen Augen am See liegen oder einfach nur mit dem Fahrrad durch die Gegend strampeln, alles Dinge, die wir unser ganzes bisheriges Leben lang so selbstverständlich hingenommen haben, bekommen ab heute eine ganz neue Bedeutung, das ist doch irre, oder?, Kai schüttelte den Kopf, „ich hätte mir nie vorstellen können, mich jemals über solche Selbstverständlichkeiten freuen zu können, aber jetzt kommt mir die Vorstellung mich frei bewegen zu können, wann immer ich will wie ein Sechser im Lotto vor. Allein wenn wir jetzt bald landen und einfach so aus der Maschine spazieren, unbewaffnet, ohne Schutzweste und ohne dieses verdammte Adrenalin im Hirn, Mann, da fängt das Leben noch mal an.“ Lars hatte der lebhaften Unterhaltung stumm zugehört und sich bei den Ausführungen seiner Freunde seine eigenen Gedanken gemacht. Immer wieder musste er feststellen, dass er Torsten um seine unbeschwerte Lebenseinstellung ein wenig beneidete, denn er selbst war eher pessimistisch veranlagt und oftmals fiel es ihm schwer, Dinge locker anzugehen und auf einen positiven Ausgang zu hoffen. Torsten war auch während des Einsatzes immer der gewesen, der die Gruppe aufmunterte, der Späße machte, wenn es wirklich wenig zu lachen gab und der es einfach verstand, die Kameraden ein wenig abzulenken und neu zu motivieren. Er war keinesfalls oberflächlich, dies zu behaupten wurde seiner Person nicht gerecht, aber er hatte einfach die Art ein Glas immer halb voll und nie halb leer zu sehen. Bewundernswert, dachte Lars, das ist mir nun wirklich nicht in die Wiege gelegt. Darüberhinaus, da war sich Lars sicher, hatte Torsten die letzten Monate einen wirklich guten Job gemacht, allerdings mit dem immensen Vorteil, sich nicht in unmittelbare Gefahr begeben zu müssen. Torsten war Hubschraubermechaniker und hatte mit seinem Team immer dafür gesorgt, dass die Maschinen einsatzbereit und völlig intakt waren. Er stand in engem Kontakt zu den Piloten, musste aber aufgrund seiner Tätigkeit das Lager so gut wie nie verlassen. Ein einziges Mal hatte ein technisches Problem an einer der Maschinen dazu geführt, eine ungeplante Außenlandung vornehmen zu müssen und hier war die Technik gefordert, die Angelegenheit außerhalb des Lagers in Ordnung zu bringen. Die Situation war brenzlig gewesen, denn einen Kampfhubschrauber der ISAF manöverunfähig im Gebiet der Taliban stehen zu haben, ist nun wirklich nicht der Wunsch eines Einsatzkommandos. Torsten und seine Leute hatten die Situation aber gut im Griff und selbst hierbei verlor er nicht den Humor und scherzte noch über die Bewachung der Aktion durch die Bodentruppen. „Mann Leute, sind wir wichtig, wir haben ja mehr Bodyguards als der Präsident von Amerika.“ Nach der Rückkehr ins Lager war allerdings auch ihm die Anspannung unter der er und seine Männer gestanden hatte deutlich anzumerken und er suchte das Gespräch mit Lars „Weißt du nach diesem Erlebnis von heute und obwohl ja Gott sei Dank gar nichts geschehen ist, ist mir erst einmal absolut bewusst geworden, was ihr da draußen für einen Scheißjob habt und wie froh ich sein kann nicht zu fliegen sondern nur zu schrauben. Ich habe euch Flieger, ja ehrlich gesagt, immer um euren Job beneidet, aber jetzt und hier möchte ich wirklich nicht mit euch tauschen. Da steh ich doch lieber Tag für Tag hier in der Halle und sorge dafür, dass eure Vögelchen keinen Schnupfen bekommen.“ Er lachte, und Lars hatte trotz des Lachens das Gefühl, Torsten selten so ernsthaft erlebt zu haben. „Ok, natürlich ist es hier im Lager ruhiger als draußen, aber selbst uns dort oben in der Luft geht es doch noch wesentlich besser als Kai und seinen Leuten, die ständig auf diesen verfluchten Straßen unterwegs sein müssen, wo du nie sicher sein kannst, ob mal wieder so ein ferngesteuerter Selbstmordattentäter auf seinem Moped vorbeirattert oder ob nachts mal wieder Minen unter dem Straßenbelag versteckt wurden. Die Jungs haben wirklich einen Scheißjob und bekommen dafür auch noch weniger Geld als wir. Die Bodentruppen sind natürlich heil froh, dass wir da sind und einige Gefahren von oben früher und besser einschätzen können als sie, letztendlich ein hundertprozentiger Schutz können wir aber nicht sein. Die Gefahr für die Jungs am Boden bleibt am größten. Wir haben immer noch eine ausreichende Distanz zu irgendwelchen geplanten Angriffen und sollten sich diese direkt auf uns richten auch die Chance schneller weg zu sein als die Fahrzeuge am Boden. Insgesamt muss man aber doch immer wieder das Gefüge betrachten. Jeder von uns hier ist wichtig, nur zusammen können wir unseren Auftrag erfüllen, jede Einheit für sich alleine gelassen, kommt nicht zum Ziel. Deshalb habe ich auch absolut etwas gegen die Leute, die ihren Dienst wichtiger nehmen als den anderer, wir gehören alle zusammen und so soll es sein“. Torsten nickte zustimmend und stellte zum wiederholten Male fest, wie gerne er sich mit Lars unterhielt. Im Grunde genommen zwei Männer mit zumindest im privaten Bereich völlig unterschiedlichen Ansätzen, deren Denkweise vor allem in Bezug auf ihr Dienstverständnis aber sehr parallel verlief. So wie Lars Torsten um seine Leichtigkeit beneidete, so bewunderte Torsten die Souveränität des anderen, seine ausgeglichene Art und seine Fähigkeit immer wieder das Gespräch mit den Kameraden zu suchen, ein Gespür für aufkommende Missstimmungen zu haben und durch geschickte Gesprächsführungen immer wieder dazu beizutragen, Streitigkeiten zu vermeiden und Standpunkte zu klären. Lars war ein erfahrener und guter Pilot, einer der sich auf seine Laufbahn vielleicht etwas einbilden konnte, dies aber niemals tat, denn so wie er es eben im Gespräch mit Torsten erläutert hatte, so lebte er auch. Er machte seinen Dienst so gut er konnte, suchte seine engeren Bekannte und Freunde nicht nach Rang und Namen aus und war einfach ein sympathischer Typ. Das einzige was ihm widerstrebte, waren Menschen egal ob im dienstlichen oder privaten Bereich, die Dinge nur halbherzig angingen, die sich mit ständigen Entschuldigungen um Arbeiten herumdrückten oder einfach nicht in die Pötte kamen. Von solchen Menschen distanzierte Lars sich, höflich aber bestimmt. Streit zu suchen war absolut nicht seine Art, sich einer aufkommenden kriseligen Situation nicht zu stellen aber eben so wenig. Dieses Gesamtbild führte dazu, dass Lars sowohl bei Vorgesetzten als auch bei Untergebenen (wobei dies ein Begriff war, den er selbst nie benutzte) sehr beliebt war und man ihn schon wiederholt zur Vertrauensperson gewählt hatte. „Lagermutti“ war sein aktueller Spitzname, mit dem er aber gut leben konnte. In dieser Funktion hatte er auch mehrere Gespräche mit Kai geführt, der im Laufe des Auslandseinsatzes in eine schwere persönliche Krise gestürzt war. Lars beobachtete ihn auch jetzt. Kai saß mit starrer Mine im Flugzeug und Lars hatte das Gefühl, als könne er die angeregte Unterhaltung kaum mehr ertragen. Er tat ihm aufrichtig Leid. Kai war 38 Jahre alt und seit sieben Jahren verheiratet. Wenn er ehrlich war, war seine Ehe nicht wirklich gut gewesen als er in den Einsatz ging, doch Kai hatte gehofft, dass seine Frau Sandra, in dieser Zeit merken würde, dass sie ihn vermisste, aber leider war das Gegenteil eingetreten. Kai hatte schon lange vor der Abreise das Gefühl gehabt, seine Frau mehr zu lieben als sie ihn, aber Sandra hatte immer wieder beteuert, dass dies nicht so sei und ihm ihre Liebe geschworen. Pläne hatten sie gemacht, die Zeit nach dem Einsatz zu nutzen, endlich eine Familie zu gründen, vielleicht sogar ein Haus zu kaufen. Mit dieser Vorstellung war Kai in den Flieger nach Afghanistan gestiegen und vom ersten Tag an auf seine Rückkehr und auf die Umsetzung dieser Pläne fixiert. Seine Euphorie dauerte ca. 3 Monate an, dann spürte er eine deutliche Veränderung in den Telefonaten mit seiner Frau. Sie wurden seltener, kürzer und immer inhaltsloser. Er wusste, es musste ein lebensbeeinflussendes Ereignis im Leben seiner Frau gegeben haben und hatte auf der einen Seite Angst es zu erfahren, konnte aber auf der anderen Seite die Ungewissheit nicht mehr aushalten. Er erinnerte sich genau, es war ein Donnerstag als er völlig überraschend einen Hand geschriebenen Brief von Sandra erhielt und allein die Tatsache diesen in den Händen zu halten, lies bei ihm alle Alarmglocken klingeln. Er zog sich zurück in seinen Container legte sich auf sein Bett und öffnete mit zitternden Händen den Brief. „Mein lieber Kai, ich denke, du ahnst bereits beim Anblick dieses ungewöhnlichen Schriftverkehrs, dass etwas passiert sein muss, was uns beide und unser gemeinsames Leben betrifft, und ich möchte dich auch gar nicht lange im Ungewissen lassen, du hast Recht damit.“ Kai ließ das Blatt für einen Moment sinken, er wusste was kam, traute sich nicht weiter zu lesen und starrte für einen Moment an die Decke. Tränen stiegen ihm in die Augen, er zwang sich ruhig zu bleiben und richtete seinen Blick wieder auf den Brief. „Ich weiß, dass du gerade in einer wirklich schwierigen Situation bist, und dass ich dir dein Leben mit diesem Brief sicherlich nicht vereinfache, aber glaube mir, ich habe sehr lange darüber nachgedacht, wie ich mich verhalten soll und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ehrlich zu dir sein möchte. Was macht es für einen Sinn, Telefonate zu führen wie in den vergangenen zwei Wochen, in denen du deutlich spürst, dass etwas nicht stimmt, in denen ich dir wenig bis gar nichts zu sagen habe, da ich dich nicht anlügen möchte. Telefonate in denen ich spüre, dass du Dinge von mir hören möchtest, die ich nicht mehr bereit bin zu sagen und nach denen du dich sehnst. Kai, du bist mir bei allem Geschehenen immer noch sehr wichtig und ich weiß, dass ich dich fürchterlich verletze, aber ich möchte dich nicht mehr quälen als unbedingt nötig.“ Na, Bravo, komm endlich zum Punkt, Kai knäulte das Blatt in seiner Hand, es ist wirklich nicht der Moment mir Honig um den Bart zu schmieren, ich will wissen was los ist. Er strich das Blatt wieder glatt und las weiter: „Du bist jetzt seit fast vier Monaten von hier fort und schon so voller Vorfreude auf das, was nach dem Einsatz kommt, in den Flieger gestiegen, dass mir schon damals Zweifel kamen. Natürlich haben wir gemeinsam beschlossen, ein Kind zu haben und unsere Wohnsituation zu verbessern, aber je mehr ich in deiner Abwesenheit darüber nachgedacht habe, kam ich zu dem Entschluss, dass dies mehr dein Wunsch war als meiner und eine solche Zukunftsplanung in mir eher Angst wenn nicht sogar Panik auslöst als Vorfreude. Diese Gedanken haben mich selbst erschreckt, das kannst du mir glauben, aber ich konnte und kann sie nicht verdrängen, sondern muss mich ihnen stellen. Ich verstehe, wenn du jetzt beim Lesen wütend wirst, und ich sehe dich direkt vor mir, aber ich möchte jetzt einfach nur ehrlich sein und hoffen, dass du mich dann ein bisschen verstehst. Du hast schon seit längerem behauptet, mich mehr zu lieben als ich dich. Ich habe das immer bestritten, wollte dich glücklich machen, mit dir leben und alt werden. Jetzt weiß ich, dass du Recht hattest. Jetzt, da ich ein Gefühl kennengelernt habe, was so stark, so intensiv ist, wie ich es mir nie vorstellen konnte, weiß ich das. Kai, du musst mir glauben, ich habe nicht nach einem Abenteuer gesucht, auch nicht nach einem anderen Partner, es ist einfach so passiert. Du kennst ihn nicht und ich möchte auch solange du so weit weg bist, nicht mehr über ihn Preis geben, aber durch ihn habe ich Dinge über mich erfahren, die ich vorher nicht kannte und die mich selbst erstaunen. Ich möchte dich so sehr bitten mir zu verzeihen, aber bitte glaube mir, ich kann und möchte dich nicht anlügen, auch wenn ich mir durchaus darüber bewusst bin, das dies garantiert nicht der ideale Zeitpunkt ist, dich zu verlassen. Bitte Kai versuche mich zu verstehen, du bist der, der schon immer ahnte, dass du unsere Liebe mehr lebst als ich. Jetzt hat sich diese Ahnung bestätigt und das tut mir sehr sehr Leid für dich. Aber bitte, ich weiß du bist stark, du wirst es schaffen und wenn du nach Hause kommst, reden wir. Bitte ruf mich die nächsten Wochen nicht an, auch keine E-mails, lass es einfach erst mal sacken, wir reden später. Verzeih mir, ich habe wirklich geglaubt meine Liebe zu dir reicht für ein Leben Sandra Kai lag auf dem Rücken, der Brief sank auf seinen Bauch und Tränen liefen ihm über das Gesicht. In seinem Kopf schwirrte es und er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Sandra, verdammt, wie kannst du mir das antun und wer zur Hölle ist der Typ. Sitzt dick und breit in Deutschland und spannt mir meine Frau aus, während ich mir hier den Arsch aufreiße und die Freiheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidige. Toller Spruch! Hilft mir gerade ungemein weiter. Wenn diese Scheiße hier nicht wäre, hätte meine Frau auch keinen anderen Kerl, oder? Er wusste nicht mehr was er fühlen und denken sollte. Er spürte nur, dass Wut in ihm aufstieg, eine Wut die sich mehr gegen seinen Beruf und seinen Einsatz hier richtete als gegen seine Frau. Er fühlte sich so ohnmächtig, so völlig hilflos und zum Nichtstun verdammt. Er saß hier noch für 9 Wochen fest, konnte nicht um seine Frau kämpfen, konnte noch nicht einmal den Mann kennen lernen, der ihm seine Sandra geraubt hatte. Und dann diese unverschämte Aufforderung von ihr, nicht mit ihr in Kontakt zu treten, alles erst mal „sacken zu lassen“. Hatte sie auch nur die geringste Vorstellung davon, wie es hier war. Bislang hatte ihn die Vorfreude auf eine kleine Familie täglich neu motiviert, denn jeder Tag der verging, brachte ihn diesem Ziel näher. Wenn er draußen auf Patrouille war, hatte er immer ein Bild von Sandra in seiner Schutzweste und bekam er ein mulmiges Gefühl, so legte er die Hand auf diese Stelle und dies gab ihm Kraft. Bei dem Gedanken daran stand er auf, ging zu seiner Weste und nahm das Bild heraus. Sandra lächelte ihn an, ihre blauen Augen leuchteten, ihr mittellanges Jahr war zum Zopf gebunden. Sie sah glücklich aus. „Alles nur ein fake, oder was soll ich jetzt glauben?“, Kai war in seiner verzweifelten Wut kurz davor, das Photo einfach zu zerreißen. Er hielt es schon in seinen beiden Händen zum Zerstören bereit. Im letzten Moment hielt er inne, besann sich anders und verstaute das Bild zurück an seinem Platz. „Egal was du denkst und fühlst, liebe Sandra, du hast mich schwer getroffen und vielleicht habe ich dich für immer verloren, aber jetzt und hier werde ich eine Trennung nicht akzeptieren, ich liebe dich und solange ich keine Möglichkeit habe, um dich zu kämpfen, wird sich daran auch nichts ändern. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird, zuhause können wir reden, zuhause wird sich manches klären und bis dahin wirst du mir weiter beistehen, ob du nun willst oder nicht!“. Er hängte die Weste zurück an seinen Platz und ging zurück zu seinem Bett. Heute würde er es nicht mehr verlassen, sollten die anderen doch denken was sie wollten, er hatte keine Lust mehr auf ein gemeinsames Abendessen und den geplanten DVD-Abend, nein, er wollte nur noch seine Ruhe haben, abschalten, schlafen und einfach nicht mehr nachdenken. Für heute war es genug. In den folgenden Tagen war allen die Veränderung ihres Kameraden aufgefallen, er wich aber allen Gesprächen aus und ließ keinen an sich heran. Er zog sich zurück wann immer es ging, machte Dienst nach Vorschrift, ging darüber hinaus aber jeglicher Kontaktaufnahme aus dem Weg. Jeder ahnte, dass seine Veränderung nur mit einer Hiobsbotschaft aus der Heimat zu tun haben musste, denn hier vor Ort war es im Moment eher ruhig und es hatte keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Lars war ehrlich besorgt und suchte nach einigen Tagen das Gespräch mit Kai. Kai reagierte völlig genervt auf die Frage nach seinem Befinden und unterstrich damit die Vermutung, dass etwas völlig im Argen lag. „Lasst mich doch einfach alle in Ruhe, kann man denn nicht einfach mal schlechte Laune haben?“ Sein Ton war ungewohnt heftig, er drehte Lars den Rücken zu und wollte verschwinden. „Schlechte Laune haben darf jeder“, antwortete Lars, „da brauchen wir wohl nicht zu diskutieren, schlimm ist nur, wenn sie nicht mehr verschwindet und man deutlich sieht, dass es dem Betroffenen einfach nur schlecht geht. Für schlechte Laune, und ich glaube damit untertreibst du in deinem Zustand maßlos, gibt es immer einen Grund. Also komm, lass es raus, egal was es ist, es bleibt unter uns und vielleicht geht es dir einfach besser, wenn du darüber reden kannst“. Kai drehte sich um und blickte Lars gequält an: „Lars, ich weiß du meinst es ehrlich und ich vertraue dir, aber ich kann nicht darüber reden. Mir kommt es vor, wenn ich es ausspreche, ist es nicht mehr ein Albtraum der mich zermürbt sondern die nackte bestätigte Wahrheit. Ich kann nicht!“ „Aber wie willst du weiter machen, warten, dass das was dich bedrückt einfach wieder so aus deinem Leben verschwindet wie eine Gewitterwolke am Sommerhimmel. Du weißt, dass dies nicht funktioniert. Du kannst viel mit dir alleine ausmachen, aber im Moment geht es dir offensichtlich so schlecht, dass du Hilfe brauchst. Ich bin nicht hier, weil ich mich an deinem Elend erfreuen will oder eine gute Story brauche, damit die anderen eine Abendunterhaltung haben, ich bin hier damit es dir besser geht, also komm schon pack aus.“ Lars spürte, dass seine Worte in Kai etwas auslösten, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht einschätzen, ob er die um sich errichtete Mauer fallen lassen würde, oder nicht. So war er auch erstaunt als Kai einfach nur sagte: „Komm mit!“. Lars folgte Kai in dessen Unterkunft und beobachtete ihn wie dieser einen Brief aus seinem Nachttischchen nahm und ihn Lars zögernd überreichte. „Lies selbst, dann wirst du mich verstehen, ich kann nicht darüber reden, aber du hast recht, es mit niemandem zu teilen, bringt mich um.“ Er ließ sich aufs Bett fallen, stützte seinen Kopf in seine Hände und erstarrte förmlich in dieser Haltung. Lars hielt den Brief in seinen Händen, unschlüssig, ob er ihn wirklich lesen sollte, denn bei einem Blick auf den Absender war ihm bereits klar, was ihn erwarten würde. „Kai, wenn du dir wirklich sicher bist, dass ich diesen Brief lesen soll, dann werde ich es tun, aber um ehrlich zu sein mir wäre lieber du würdest mir sagen was darin steht“. „Nein, verdammt noch mal, lies diesen Brief, ich bitte dich darum und dann sehen wir weiter“. Lars setzte sich neben Kai auf das Bett. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut, denn wie sollte er wissen, ob Sandra damit einverstanden wäre. Doch blieb ihm eine andere Wahl? Kai würde nicht reden, da war er sich sicher und wenn er helfen wollte, so musste er dem Wunsch seines Freundes folgen. Langsam faltete er das Blatt auseinander und las. Minutenlanges Schweigen folgte. Kai verharrte in seiner Haltung und Lars fehlten einfach die Worte. Das Gelesene hatte ihn tief getroffen, Ängste in ihm aufgerissen und ihn unfähig gemacht zu agieren. Er fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn ein solcher Brief an ihn gerichtet gewesen wäre, wenn seine geliebte Claudia ihm eine solch niederschmetternde Mitteilung gemacht hätte. Jetzt konnte er Kais Verhalten der letzten Tage nicht nur verstehen sondern er bewunderte ihn sogar dafür. Wie hatte er nur täglich seinen Dienst tun können, ohne zusammen zu brechen, wie hatte er nur die lockeren Sprüche seiner Kameraden, besonders die von Torsten aushalten können, ohne um sich zu schlagen, wie konnte er überhaupt einfach weiter arbeiten, ohne den Wunsch zu haben zu desertieren. Lars realisierte, dass Kai ihm in gewisser Weise sehr ähnlich war und diese Erkenntnis half ihm auch nach einer Weile der Sprachlosigkeit ein gutes Gespräch mit ihm zu führen. Auch in den folgenden Wochen kamen sie noch häufiger zusammen und tauschten sich aus. Lars wusste, dass er Kai keine Lösungsvorschläge geben konnte, aber er konnte versuchen ihm beizustehen und ihm zuzuhören, wann immer Kai es wünschte. Auch jetzt, wo die Heimkehr unmittelbar bevorstand, tat Kai ihm unendlich Leid. Es war wie eine Ironie des Schicksals, dass Kai seinen Container mit dem 27jährigen Jan teilen musste. Die beiden kamen aus dem gleichen Heimatbatallion und kannten sich schon seit Jahren. Sie verstanden sich prächtig und hatten sich gemeinsam dafür entschieden, die Zeit in Afghanistan in einer Unterkunft zu verbringen. Jan hatte seine Freundin in Deutschland zurück gelassen. Es war eine recht junge, aber sehr intensive Beziehung, der Jan auch nach seiner Rückkehr eine lange Zukunft wünschte. Die Männer waren gerade drei Wochen von zu Hause fort gewesen, als Jan eines Abends voller Euphorie durch die Unterkünfte gestürmt war und jedem dem er begegnete die unglaubliche Nachricht aus der Heimat mitgeteilt hatte. „Stellt euch vor, ich werde Vater, ich glaub das einfach nicht, aber Kristin hat mir ein Ultraschallbild per Mail geschickt. Ein winzig kleiner Punkt in ihrem Bauch, mein Kind, es ist nicht zu fassen“. Kristin war zu diesem Zeitpunkt gerade mal in der 8. Woche schwanger und auch sie freute sich unbändig über die ihren Zustand. „Lass mich mal rechnen, 25 Wochen sind wir hier, zur Zeit unserer Abreise war Kristin gerade mal acht Wochen schwanger, das heißt wenn ich zurückkomme, ist sie in der 33. Woche. Ich werde also die beschwerlichste Phase der Schwangerschaft mit ihr verbringen und sollte alles normal verlaufen auch bei der Geburt dabei sein. Wenn das keine Motivation ist, die Zeit hier hinter mich zu bringen, dann weiß ich es wirklich nicht. Das ist echt der absolute Hammer, ich komme aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus“. Die Männer hatten sich alle mit ihm gefreut und besonders Kai, der seine Familienplanung für die Zeit nach dem Einsatz im Auge hatte, war fast ein bisschen neidisch geworden beim Anblick des überglücklichen Jans. Die folgenden Wochen und Monate hatte es bezüglich der Schwangerschaft nur positive Meldungen aus der Heimat gegeben, Kristin ging es blendend und das Baby entwickelte sich prächtig. Die beiden zählten nur noch die Tage bis zu Jans Rückkehr und konnten den Tag des Wiedersehens kaum mehr erwarten. Mitten in Jans Vorfreude kam dann die Hiobsbotschaft für Kai und ab diesem Moment wurde das Zusammenleben der beiden schwierig. Die Situation war für beide nicht einfach und ihre Freundschaft litt hierunter deutlich. „Weißt du“, hatte Jan eines Abends zu Lars gesagt, „es ist so schwer, zu wissen, dass es deinem Kumpel total dreckig geht, man selbst aber gerade wahnsinnig glücklich ist. Ich habe echt ein schlechtes Gewissen Kai gegenüber, obwohl ich ja noch nicht einmal weiß, was 100 %ig bei ihm los ist. Er möchte ja nicht darüber reden und ist einfach nur genervt, wenn ich ins Erzählen gerate. Am besten ich halte ihm gegenüber einfach die Klappe, aber auch das ist schwer, denn schließlich sitzen wir ja auf einer Bude“. Lars konnte die Schwierigkeiten der beiden absolut nachvollziehen, doch er wusste auch, dass die beiden sich arrangieren würden, es blieb ihnen für die verbleibende Zeit auch nichts anderes übrig. Jetzt war es geschafft. Jetzt saßen alle zusammen in diesem Flieger auf dem Weg nach Hause. Mit jeder Minute die verstrich näherten sie sich der Heimat und ihren Familien und die angeregten Gespräche verstummten mehr und mehr. Jeder hing seinen Gedanken nach. Sie alle stellten sich das Wiedersehen mit ihren Freunden und Familien vor und warteten auf den Moment der Landung. Kai saß stumm auf seinem Sitz und schaute ausdruckslos vor sich hin. Auf der einen Seite wollte er so schnell es ging dieses Flugzeug verlassen, seinen Kameraden adieu sagen und sich zurück in seine Heimat begeben, auf der anderen Seite graute es ihm davor nach Hause zu kommen aber im Grunde genommen kein zu Hause mehr zu haben. Wochenlang hatte er auf diesen Moment gewartet, gewartet auf seine Chance endlich mit Sandra reden zu können, endlich denjenigen kennenzulernen, der sich zwischen die beiden gedrängt hatte, endlich der veränderten Situation real gegenüber treten zu können und zu versuchen, zu retten was zu retten war. Während der letzten zwei Monate hatte er sich Sandras Wunsch gebeugt und jeden Wunsch nach einer Kontaktaufnahme zu ihr unterdrückt, auch von ihr hatte er wie erwartet nichts mehr gehört. Jetzt drängte es ihn zu erfahren was wirklich los war. Seinen Kameraden gegenüber mit Ausnahme von Lars hatte er sich weitesgehend in Stillschweigen gehüllt, sie wussten zwar, dass es ein massives Problem mit Sandra gab, aber auch nicht mehr. Kai hatte einfach noch viel zu viel Hoffnung, sie zurückzugewinnen, als dass er über seine gescheiterte Ehe reden wollte. In weniger als einer halben Stunde würden sie nach Aussage des Captains in Köln/Bonn landen und hier hieß es erst einmal Abschied nehmen. Abschied nehmen von guten Kameraden, die in einigen Fällen während der Dauer des Einsatzes zu echten Freunden geworden waren. Männer, mit denen man in diesen sechs Monaten mehr Zeit verbracht hatte als mit guten Bekannten und Freunden in einem halben Leben, Männer, die alle Facetten der Menschlichkeit miteinander geteilt hatten: Wut, Trauer, Angst, Sehnsucht und die Freude auf die Heimkehr. Lars tat es besonders Leid um Torsten, Kai und Jan, aber er hoffte, dass diese Freundschaften nicht vom Alltag aufgefressen werden würden, nicht dass man einfach abtauchte in seine eigene Welt und die anderen darüber vergaß. Er schaute sich nach Jan um, der still im hinteren Teil des Flugzeuges saß und vor sich hin blickte. Er blickte ernsthaft und doch voller Vorfreude und Lars ahnte was ihn bewegte. Ihre Blicke kreuzten sich für einen Moment und sie nickten sich stumm zu. Zwischen ihnen gab es eine Verbindung, die weit über das kameradschaftliche Miteinander hinaus ging, aber darüber wollte Lars zu diesem Zeitpunkt, da die Heimkehr unmittelbar bevorstand, nicht weiter nachdenken, denn das gemeinsam Erlebte gehörte ab heute der Vergangenheit an und hierin sollte es auch, wenn es nach Lars ging, beerdigt werden, auch wollte er sich an einige Dinge die geschehen waren nie mehr erinnern. Ein Rucken ging durch die Maschine und das Ausfahren der Landeklappen war deutlich zu hören. Lars schaute aus dem Fenster, ein freudiges Kribbeln erfasste seinen Körper. Ihre Reisehöhe hatten sie längst verlassen und unter ihnen sah man nun deutlich die Landschaft. Die Bäume zeigten bereits sehr viel Grün und auf einigen Feldern blühte bereits der Raps. Das Wetter schien gut zu sein. Die Sonne schien, und nur ein paar Wölkchen zierten den blauen Himmel. „Mein Gott ist das herrlich“, Tränen stiegen Lars in die Augen, „wir sind wieder daheim!“ Der Airbus setzte geschmeidig auf der Landebahn auf und rollte gemächlich in die Halteposition. Die Ruhe im Flugzeug war verflogen. Die Männer standen ungeduldig auf und sortierten ihr Handgepäck. Ihr gesamtes Hab und Gut würde später in einer Transportmaschine der Bundeswehr seinen Weg nach Deutschland finden, so dass sie sich jetzt und hier nicht lange mit ihrem Gepäck beschäftigen mussten. Fast alle Insassen hielten ihre Handys in der Hand und eine Flut von SMS verlies die Maschine mit der freudigen Nachricht, endlich wieder deutschen Boden unter den Füßen zu haben. Endlich öffneten sich die Türen der Maschine und die Männer stiegen die Gangway herab. Lars nahm jede Stufe mit Bedacht und genoss dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Hier und jetzt war keine Vorsicht geboten. Er trug keine Schutzweste und keine Waffe, alles war so einfach und normal und das war ein gutes Gefühl. Die Pass- und Zollkontrollen verliefen problemlos und schon 20 Minuten später stand die Truppe auf dem Busparkplatz vor dem Flughafengebäude. Hier hieß es nun erst einmal Abschied nehmen, denn die verschiedenen Einheiten wurden nun mit unterschiedlichen Fahrzeugen zu ihren Heimatstandorten gebracht. „Lars, alter Junge, komm her und lass dich noch mal knutschen, wer weiß, wann wir uns das nächste Mal sehen“, Torsten kam auf Lars zu und umarmte ihn herzlich, „vielen Dank für deine Freundschaft und lass dich daheim schön verwöhnen, du hast es verdient“. „Danke, dir auch nur das Beste und schon dich ein wenig, überfalle die Frauenwelt nicht allzu brutal mit deinem Charme!“. „Geht klar, ich freue mich erst mal auf mein eigenes Bett und schaue mal wann ich mich nach einem anderen sehne“: Die beiden lachten und Torsten wandte sich ab um von den anderen Abschied zu nehmen. Auch Lars machte die Runde und stand als letztes vor Jan. „Jan, ich wünsche dir alles erdenklich Gute und ganz, ganz viel Spaß mit Kristin und deinem Nachwuchs. Bleib schön locker, alles wird gut und du wirst bestimmt ein toller Vater“. Jan blickte Lars tief in die Augen: „Danke, Lars, spätestens bei der Taufe unseres Zwerges sehen wir uns, denn dass du Pate wirst, steht fest. Ich werde nie vergessen was du für mich und meine kleine Familie getan hast.“ Die beiden Männer standen noch einen Moment schweigend voreinander, dann umarmten sie sich innig. Jeder der beiden wusste, was in dem anderen vorging und es fiel ihnen beinahe schwer sich voneinander zu lösen. „Mach´s gut und halt die Ohren steif, wir sehen uns bald.“ Lars wandte sich ab und ging zu seinem Bus. Jetzt nicht mehr zurückschauen sondern nur noch nach vorn, nach vorn und nach Hause. In ca. drei Stunden würde er seiner Frau gegenüberstehen. Eine nervöse Erwartung, gemischt mit einer immensen Vorfreude erfasste ihn. Die Busfahrt schien endlos und obwohl wenig Verkehr war, hatte Lars das Gefühl nicht voran zu kommen. Seine Gefühle spielten Achterbahn, er war hin und hergerissen zwischen freudiger Erwartung und ängstlichen Empfindungen. Das in den letzten Monaten Erlebte mischte sich mit den Gedanken an seine Lieben und er konnte den Moment des Wiedersehens immer weniger erwarten.