Mitten im Leben

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Mitten im Leben
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Norbert Mieck

Mitten im Leben

Band 80-2 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Gott und die Welt

Abenteuer Krieg

Erlebtes

Nordische Erlebnisse

Aphorismen oder freche Sprüche

In deinen Brombeeraugen steht die Nacht

Mitten im Leben

Haiku

Der Autor

Die maritime gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Gott und die Welt

Wer Religion hat, redet Poesie

Ich las, dass die Menschen in Urzeiten, als sie noch in Höhlen lebten und sich von Kräutern, anderen Pflanzen und vom Fleisch erlegter Tiere ernährten, eine Vorstellung von einer unbegreiflichen Macht entwickelten, die Blitz und Donner, Kälte und Hitze sowie andere gewaltige Ereignisse über ihre Gegend, ihre Behausung brachte, irgendwo über den Wolken wohnte. Und Frau und Kinder erlebten, dass der Vater imstande war, die Hütte vor Wettereinbrüchen zu schützen, wilde Tiere zu jagen und zu erlegen und damit den Schutz der Familie zu gewährleisten. Konnte er aber auch Sturm, Hitze, Unwetter und anderes Ungemach von ihnen fernhalten? Da müsste eine andere Macht im Spiel sein, eine, die über alles, was geschah, verfügte.

Da der Vater imstande war, viel Bedrohliches von ihnen abzuwenden, müsste diese Macht noch größer sein als seine. Und sie nannten diese Macht Gott. Und so entstanden in den verschiedenen Erdteilen möglicherweise unterschiedliche Religionen, die aber eins gemeinsam hatten: Es musste ein „höheres Wesen“ geben.

Und wir Heutigen? Wir hier im christlichen Abendland?

Wir berufen uns auf Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden. Und uns wurden Schriften geschenkt: das Alte und das Neue Testament, die uns viele Botschaften und ein Vermächtnis hinterlassen haben.

Die Bibel ist eine Sammlung von heiteren, lebensnahen und fast unglaublichen Geschichten, voller Tragik und voller Hoffnung.

Und sie ist ein Fundus an Poesie. Psalmen wie z. B. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele“. Auch die Sprache des Apostels Paulus ist an vielen Stellen hochpoetisch, z. B. im ersten Brief an die Korinther im 13 Kapitel: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle…“ Vergessen will ich auf keinen Fall die Kirchenliederdichter, etwa Paul Gerhardt, Martin Luther, Mathias Claudius, Johannes Falck und viele andere, die sich auf die Sprache der Poesie verstanden und uns zusammen mit den Komponisten wunderbare tief berührende Lieder geschenkt haben.

Eines Tages lag ich wegen einer fiebrigen Grippe im Bett und hörte im Radio die Morgenandacht. Und da sagte der Pastor, der den Text sprach, Gott ist nicht das Gute, sondern das Ganze. Dem sann ich nach. Mit vielen anderen hatte ich in der Vergangenheit ja auch immer wieder die Frage aufgeworfen: Wie konnte Gott das alles zulassen: die Kriege, die Konzentrationslager und das ganze Elend auf dieser Welt? – Gott ist das Ganze.

Der Pastor verabschiedete sich. Sein Name wurde noch einmal genannt, und da flammte es in mir auf. Den kannte ich doch. In verschiedenen Funktionen waren wir an einer kirchlichen Hochschule als Dozenten tätig gewesen.

Immer noch elektrisiert, suchte ich im Hamburger Telefonbuch seine Telefonnummer. Und siehe da: Ich fand sie und rief ihn sofort an. Wir erkannten uns wieder, sprachen über den Inhalt seiner Morgenandacht, und er machte mich aufmerksam auf ein von ihm kürzlich erschienenes Buch mit dem Titel „Was Gott den Dichtern verdankt“ und worin er auch auf den inneren Zusammenhang von Religion und Poesie eingeht. Mein Denken und sicher auch das vieler anderer war davon geprägt, selbstverständlich anzunehmen, alles Gute, alle religiösen und frommen Gedichte sind u. a. auch selbstverständlich ein Dank an Gott.

Einfach mal andersherum gedacht als „Wir verdanken Gott unsere Lyrik, unsere Lieder“. Ich konnte allmählich sehen lernen, dass Gott den Dichtern ebenfalls vieles zu verdanken hat. Durch das kunstvoll gestaltete Wort kann der Leser ergriffen und so berührt werden, dass er eine Verbindung zu Gott herstellen kann.


© Ingrid Hochdörfer-Mieck

Abenteuer Krieg

Meine Flucht 1945 aus Pommern

Veränderungen hingen in der Luft. Große und schwerwiegende Veränderungen. Obwohl der strenge Winter 1944/45 Normalität vorzugaukeln schien, indem er uns Kinder zum Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Teich in unserer Straße in Köslin einlud. Wir gingen auch hin, ich mit den gebrauchten Schlittschuhen, die ich zu Weihnachten bekommen hatte. Ich war neun Jahre alt, das dritte Kind in unserer Geschwisterreihe, und meine Mutter war bereits hochschwanger mit ihrem fünften Spross. Mein Vater stand nun auch im Dienst dessen, von dem er nach einem Kinobesuch gesagt hatte, der trüge die Mütze immer tiefer im Gesicht, weil er den Leuten nicht mehr in die Augen schauen könnte. Die Wochenschau im Kino war für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit, den Führer „live“ zu erleben. Wie fast alle Männer war auch unser Vater inzwischen an der Ostfront. Gelegentlich erhielten wir Feldpostbriefe.

Der Schulunterricht war 1944 so gut wie eingestellt worden, um den Flüchtlingen Unterkunft in den Gebäuden geben zu können, nur einmal wöchentlich tauschten wir unsere fertig gestellten Hausaufgaben auf dem Schulhof mit den Lehrern gegen neue aus. Am meisten habe ich mich dann gefreut, meine Klassenkameraden zu treffen.

Mein Bruder, zwei Jahre älter als ich, war schon im ‚Jungvolk’ und trug eine Uniform. Da er bereits aufs Gymnasium ging, kam er sofort ins Führer-Anwärter-Fähnlein. Ich ging oft zu deren Treffen, bewunderte, wie die Pimpfe zackig stramm standen und dann Fahrtenlieder sangen. Ich lernte diese Lieder alle mit. Neben den Fahrtenliedern sangen sie aber auch „Die Fahne hoch…“ und „Ein junges Volk steht auf…“ usw. Als aber eines Tages alle Fähnlein aufmarschiert waren, und sangen „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg“, öffneten sich die Fenster im Schulgebäude, und die Frauen der geflüchteten Ostpreußen, lehnten sich hinaus und riefen „Hört bloß auf!“ und „Wartet nur, bis der Russe kommt“.

In meiner Freizeit las ich, wenn ich die Schularbeiten gemacht hatte, gern „Brehms Tierleben“ und „Durch Wald und Flur“. Außerdem interessierten mich die SCHLAG-NACH-Hefte, in denen große Dichter, aber nun auch die jeweiligen Generäle, aufgeführt waren. Außerdem lernte ich gern aus diesen Heften Tabellen, die die großen Städte Deutschlands – je nach ihrer Größe – aufzählten. Damals waren es: Berlin, Wien, Hamburg, Prag, München, Köln, Litzmannstadt, Leipzig, Essen, Dresden, Frankfurt/Main, Düsseldorf, Dortmund. Zu Hause wurde das Essen knapp und die Kohle auch. Meine Mutter hatte in der Nähe einen Zaun vor einem Kohlenlager entdeckt und ging oft allein, aber manchmal auch mit mir und holte sich unter dem Zaun Kohle hervor, die wir dann heim trugen. Später schickte sie mich auch allein dorthin. Meine jüngste Schwester wurde am 18. Februar geboren, und es herrschte in diesen Tagen bereits Aufbruchsstimmung. Wir hörten von Nachbarn und auch von unserer Großmutter, dass manche Familien schon vor der andrängenden Roten Armee geflüchtet waren. Meine Mutter war ratlos, was wir tun sollten. Wohin sollten wir bloß mit der kleinen Gesine? Sie war gerade erst 14 Tage alt. Im Kinderwagen mitnehmen auf eine Flucht? Von unserem Vater hatten wir seit längerem nichts mehr gehört. Ungewissheit prägte die Tage. Aber meine Mutter begann, Sachen zusammen zu packen.

Ich verfolgte das Frontgeschehen, indem ich jeden Tag den Wehrmachtsbericht im Volksempfänger hörte, und steckte die kleinen Fähnchen auf meiner Landkarte neben dem Bett neu. Ich sah, wie weit die Rote Armee schon in Ostpreußen vorgerückt war. Neben dem Gefühl der Ungewissheit über die Zukunft packte mich aber auch die Abendteuerlust auf das Unbekannte.

Eines Tages, während wir am Tisch saßen, heulten die Sirenen, aber es war nicht der vertraute Ton wie bei Flugzeugangriffen, sondern, wie wir später erfuhren, Panzeralarm.

Neugierig geworden, ging ich am Nachmittag mit meinem ältesten Bruder an den Stadtrand. Unterwegs erzählte er mir, es gäbe am Ostseestrand bei Großmöllen ein Schild mit der Aufschrift: „Wer sich uns nähert mit platten Füßen und Haaren kraus, der darf nicht unsern Strand genießen, der muss hinaus, der muss hinaus“. Er erklärte mir, dass damit Juden gemeint seien. Ich hatte schon gelegentlich geflüsterte Worte über Juden gehört und wusste, dass sie unerwünscht waren, viele seien auch in Lagern untergebracht. Und unsere Mutter hatte mir in Köslin in einer Grünanlage eine Ruine gezeigt und mir erklärt, das sei eine Synagoge gewesen. Die sei niedergebrannt worden.

 

Irgendetwas Geheimnisvolles, das zugleich unheimlich war, blieb in mir als rätselhaftes Gefühl zurück und hatte mit den Juden zu tun. Aber es blieb irgendwie im Halbdunkel.

Am Stadtrand angekommen konnten wir auf den Gollenturm (Gollen ist ein großes Waldgebiet östlich der Stadt) sehen. Wir staunten nicht schlecht, als wir Gestalten auf der Brüstung des Turms stehen sahen. Mein Bruder machte mich darauf aufmerksam, dass sie durch Feldstecher auf die Stadt schauten. Ich wurde ganz aufgeregt und glaubte fest, dass das russische Soldaten sein mussten. Schnell gingen wir zurück nach Hause und erzählten unserer Mutter, dass wir auf dem Gollenturm Russen gesehen hätten. Sie wurde noch nervöser als vorher, hektischer als vorher, holte hektisch Sachen aus den Schränken und forderte uns auf, Kleidung in die Schulranzen zu stopfen.

Mein Bruder sollte die Hitler-Bilder von den Wänden nehmen und im Keller verstecken, auch das Porträt, das über dem Sofa hing und auf dem das Zitat zu lesen war: „Ich glaube an Deutschland, heute und in der Zukunft, bis unser der Sieg ist“. Signiert mit: Adolf Hitler.

Unsere Mutter hatte inzwischen erfahren, dass am nächsten Tag der allerletzte Zug aus Köslin gen Westen fuhr. Den mussten wir haben.

Gut vermummt gingen wir am nächsten Morgen zum Bahnhof. Unsere Mutter schob den voll beladenen Kinderwagen. Das Gesicht unserer kleinen Schwester konnten wir kaum erkennen. Sie lag in Decken und Tüchern, fast vermummt. Die Straßen füllten sich mit Menschen, die auch so schwer bepackt waren wie wir.

Ich sah das mir vertraute weiße Band über dem Bahnhofseingang mit dem Spruch: „Räder müssen rollen für den Sieg! Erst siegen, dann reisen“. Ich war überzeugt, wir könnten doch gar nicht mehr siegen.

Auf dem Bahnsteig hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Fast alle in dunkle Mäntel eingehüllt. Die meisten stampften mit den Füßen auf das Pflaster, um sich warm zu halten. Wohin würde die Reise wohl gehen? Alles war unbekannt. Auch meine Mutter konnte darüber nichts sagen. Sie meinte nur, Hauptsache gen Westen, denn der Russe kommt von Osten.

Irgendwann fuhr ein langer Güterzug ein. Die Menschen drängten bis zur Bordsteinkante vor. Unruhe kam auf. Unsere Mutter hatte Mühe, den Kinderwagen Zentimeter um Zentimeter vorzuschieben. Irgendwann wurden die Waggontüren aufgeschoben. Ich sah gleich, dass es Viehtransportwagen waren, ausgelegt mit Stroh und getrocknetem Pferdedung. Es roch irgendwie wohlig, und Wärme kam aus den Waggons.

Gedränge trat ein. Jeder wollte schnell einen Platz ergattern. Meine Mutter hatte mit dem Kinderwagen Mühe, vorwärts zu kommen. Koffer und andere Gepäckstücke wurden uns in die Beine oder gegen den Rücken gestoßen. Alles war hektisch und unruhig.

Irgendwie schafften wir es, in der Ecke eines Waggons einen Platz zu ergattern. Auf der Stroh-Dung-Streu konnten wir sitzen. Aber Aufatmen ging durch die Reihen der Flüchtlinge, man hatte es geschafft. Ich staunte: Der Zug konnte doch nicht all die Menschen aufgenommen haben, die vorher auf dem Bahnsteig gestanden hatten. Wir saßen in einer Ecke dicht neben dem Kinderwagen. Menschen hatten Taschenlampen mit, so dass man ein wenig sehen konnte. Unsere Mutter packte für jeden eine Stulle aus, die sie für die Flucht vorbereitet hatte. Bald schlief ich im Sitzen ein. Ich lehnte mich gegen den Kinderwagen.

Später erwachte ich vom Wimmern und Schreien unserer kleinen Schwester im Kinderwagen. Im Halbdunkel des Waggons war wenig zu erkennen. Ringsumher hörte ich ein Flüstern von helleren und dunklen Stimmen, ein Husten und Raunen. Es waren einige Taschenlampen eingeschaltet worden. Unsere Mutter legte Gesine, in Windeln und Luren gehüllt, an ihre Brust. Die Kleine saugte und rülpste. Dann schrie sie erst leise, dann lauter. Unsere Mutter nahm sie von der Brust, klopfte ihren Rücken, aber sie wimmerte und schrie. Eine junge Mutter, die auch ihr Baby angelegt hatte, war bereit, mit ihren Vorräten, die so reichlich aus ihr heraus flossen, auszuhelfen und legte unseren kleinen Säugling an ihre pralle Brust. Ich staunte über die Schnelligkeit, mit der Gesine nun saugte und aufstieß. Fast gierig. Irgendwann erschlaffte sie, und die Frau gab das offenbar satte Baby an uns zurück. Danach konnte ich wieder einschlafen.

Einige Zeit später wachte ich auf, weil der Zug angehalten hatte. Mehrere Taschenlampen leuchteten auf. Ich bekam mit, dass der Zug nicht weiterfahren konnte, es seien feindliche Flugzeuge am Himmel und wahrscheinlich nähmen sie Kurs auf Berlin. Unsere Mutter weckte meinen etwas älteren Bruder, gab ihm eine Milchkanne in die Hand und wies auf die inzwischen leicht geöffnete Waggontür, an der einige Neugierige standen, und sagte: „Dahinten brennt ein Licht. Das ist bestimmt ein Bauernhof. Lauf schnell hin und bitte um etwas Milch.“ Ich schaute aus der Waggontür, sah durch das Dunkel der Nacht über kahle Felder und erkannte dann das Licht und den vermeintlichen Hof, um den herum einzelne Bäume standen. Mein Bruder lief über das Feld. Ich hatte Angst, dass jeden Moment der Zug weiterfahren könnte und mein Bruder zurück bliebe. Ich wartete an der Waggontür mit wild schlagendem Herzen und hoffte, dass ich bald meinen Bruder zurückkommen sehen würde. Er kam, aber mit leerer Kanne zurück. Niemand hatte ihm geöffnet.

Kolberg – und auf dem Schiff

Am nächsten Morgen kamen wir in Kolberg (Hafenstadt an der Ostsee) an, etwa 42 km westlich von Köslin. Menschenmassen strömten aus dem Zug. Wie wir dann zum Hafen kamen, weiß ich nicht, bekam aber mit, dass wohl der einzige Weg weiter nach Westen nur noch über die Ostsee möglich war. Auf dem Hafengelände gab es ein Gebäude, in das die meisten Menschen strömten. Unsere Mutter ging dort hinein, um einen Platz auf einem Schiff zu organisieren. Wir blieben bei dem Kinderwagen und den Koffern stehen. Ringsumher eine unübersehbar große schwarze Menschenmenge. Irgendwann schlug auf dem Kai eine Granate ein. Wir erschraken und sahen uns um. Irgendwo weit weg von uns schob sich eine Menschenmenge zusammen. Ich hörte Schreie und vermutete, dass dort Menschen von der Granate getroffen waren. Es war auch zu weit weg.

Bald kam unsere Mutter mit heiterem Gesicht zurück und verkündete stolz: „Wir haben einen Platz!“ Und sie erzählte weiter, dass sie im Hafenbüro, als sie endlich drankam, gebettelt habe, sie brauche unbedingt einen Platz. Sie sei mit fünf Kindern unterwegs, das jüngste sei gerade mal gut 14 Tage alt. So hatten wir auf einem Rheindampfer, der dort eingesetzt war, die Kapitänskajüte bekommen! Irgendwann stapften wir auf dieses kleine Schiff. Wir waren richtig glücklich!

In dem einen Bett, das es dort gab, schliefen wir quer, nur unsere kleine Schwester lag im Kinderwagen. Nachdem wir unser Gepäck abgestellt hatten, lockte mich sofort die Neugier. Ich lief auf das Deck, das bereits dicht von wenigen Männern, vielen Frauen und Kindern gefüllt war, die sich alle an die Bordwand drängten. Ich mich auch. Bald stand ich dort neben einem alten Mann aus Ostpreußen, der sich gern mit mir unterhalten wollte. Er erzählte mir, als ich nach den Masten, die dort aus dem Meer ragten, fragte, dass das alles untergegangene Fischkutter waren mit Flüchtlingen aus Ostpreußen an Bord. Ich konnte das gar nicht richtig begreifen und merkte nach einer Weile des Erschreckens, dass in mir ein Glücksgefühl aufstieg, weil wir nun offenbar auf sicherem Boden angekommen waren, auch wenn der im Meer schwamm.

Nach unruhiger Nacht lief ich am nächsten Morgen wieder aufs Deck, wo jetzt weniger Menschen standen und erkannte den Mann von gestern wieder. Ich erblickte auf dem Wasser – dicht unter der Wasseroberfläche – längliche graue Gegenstände und fragte den Mann, was das denn sei. Er fragte zurück, ob mir nicht aufgefallen sei, dass das Schiff ganz langsam fuhr. Der Kapitän schleuse uns ganz vorsichtig durch Minenfelder. In der Nacht sei er sogar wegen der Gefahr einmal umgekehrt. Aber kurz vor Kolberg habe er gesehen, dass die Stadt inzwischen angegriffen worden sei und in Flammen stand. Also sei er wieder umgekehrt, aber wir wären nun bald in Swinemünde. Ich war neugierig, wie unser Abenteuer weitergehen würde.

Swinemünde/Usedom

In Swinemünde wurden wir sehr schnell durch Rotkreuz-Schwestern zu einem langen Zug geleitet, in dem verwundete, meist recht junge Soldaten lagen. Wir bekamen ein kleines, aber offenes Abteil zugewiesen, in dem wir uns nach der Enge auf dem Schiff irgendwie wohl fühlten. Die Rotkreuzschwestern versorgten uns gut mit belegten Broten. Wenn ich durch die Gänge des Zuges wanderte und mich umschaute, sah ich viele Soldaten, die auf ihren Betten lagen. Sie hatten meist blutige Verbände an den Schultern oder Beinen. Alle waren sehr freundlich zu uns.

Mein Bruder und ich studierten eine Landkarte von Deutschland, die im Durchgang eines Zugabteils angebracht war. Wir wussten nicht, wohin der Zug uns bringen würde und spekulierten, was für uns besser wäre: gen Norden oder gen Süden. Einmal sahen wir ein Bahnhofsschild, auf dem Anklam stand. Wir waren also noch in Vorpommern. Bald verbreitete sich das Gerücht, dass der Zug bis Flensburg fahren würde. Und so war es auch.

Flensburg

In Flensburg landeten wir mit allen anderen Flüchtlingen in einem Flüchtlingslager, das bereits überfüllt war. Wir wurden in einer großen Halle untergebracht, und wir erhielten einen Platz in dem Gedränge. Ich weiß nicht mehr, ob es Strohsäcke oder Matratzen waren. Auch hier wurden wir wieder verpflegt.

Bald sprach sich herum, dass Familien mit kleinen Kindern sehr schnell bei Bauern in der Umgebung untergebracht werden sollten, da Flensburg immer noch befürchten musste, bombardiert zu werden.

Eines späten Abends, als ich mich noch durch den dicht belegten engen Saal drängte, hörte ich von fern ein furchtbares Schreien. Mein ältester Bruder erzählte mir, dass sich eine Frau dort die Pulsadern mit einer Rasierklinge aufgeschnitten hätte, und das Blut sei bis zur Decke gespritzt. Ich sollte mir das nicht ansehen.

Nach sehr kurzer Zeit in diesem Lager wurden wir eines Tages von einem Bauern in seiner Kutsche abgeholt. Wir packten unsere Koffer, Taschen und Schulranzen auf die Kutsche. Es ging nach Gelting im Kreis Flensburg. Der Bauer war nicht gerade freundlich und auch sehr wortkarg. Aber wir fühlten uns irgendwie „angekommen“. Wir würden eine Bleibe erhalten.

Gelting

Vor uns lag ein recht schmuckes Bauernhaus, im rechten Winkel dazu ein großes Scheunen-Stall-Gebäude und etwas abseits dann das Altenteil.

Der Bauer führte uns durch eine geräumige Diele ins Innere des Hauses. Rechts und links der Diele gab es je ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Wir wurden in den rechten Teil eingewiesen. Im hinteren Teil des Hauses war die geräumige Küche, in der die Bauersleute und auch unsre Mutter jeweils ihre Mahlzeiten kochten. Wir aßen dann aber in „unserem Wohnzimmer“. An die Toilette kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich vermute, es gab ein gemeinsames „Plumps-Klo“.

Die Schlafplätze waren beengt, so dass wir zu zweit in einem Bett, aber zum Teil in einem unbequemen Notbett geschlafen haben. Unser Baby hatte natürlich den Kinderwagen für sich allein.

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