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Geschlecht und Charakter

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Ist es nicht sehr auffallend, daß die Frauenemanzipationsbestrebungen in der Weltgeschichte in konstanten Intervallen, in gewissen sich gleich bleibenden zeitlichen Abständen aufzutreten scheinen?

Im X. Jahrhundert, im XV. und XVI. und jetzt wieder im XIX. und XX. hat es allem Ermessen nach viel mehr emanzipierte Weiber und eine stärkere Frauenbewegung gegeben als in den dazwischen liegenden Zeiten. Es wäre voreilig, hierauf schon eine Hypothese zu gründen, doch muß man immerhin die Möglichkeit ins Auge fassen, daß hier eine gewaltige Periodizität vorliegt, vermöge deren in regelmäßigen Phasen mehr Zwittergeburten, mehr Zwischenformen auf die Welt kommen als in den Intervallen. Bei Tieren sind solche Perioden in verwandten Dingen beobachtet worden.

Es wären das unserer Anschauung gemäß Zeiten von minderem Gonochorismus; und es würde die Tatsache, daß zu gewissen Zeiten mehr männliche Weiber geboren werden als sonst, als Pendant auf der Gegenseite verlangen, daß in der gleichen Zeit auch mehr weibliche Männer auf die Welt gebracht werden. Und dies sehen wir in überraschendem Maße ebenfalls zutreffen. Der ganze »sezessionistische Geschmack«, der den großen, schlanken Frauen mit flachen Brüsten und schmalen Hüften den Preis der Schönheit zuerkennt, ist vielleicht hierauf zurückzuführen. Die ungeheuere Vermehrung des Stutzertums wie der Homosexualität in den letzten Jahren kann ihren Grund nur in einer größeren Weiblichkeit der jetzigen Ära haben. Und nicht ohne tiefere Ursache sucht der ästhetische wie der sexuelle Geschmack dieses Zeitalters Anlehnung bei dem der Präraphaeliten.

Wenn es im organischen Leben solche Perioden gibt, die den Oszillationen im Leben des einzelnen gleichen, aber sich über mehrere Generationen hinweg erstrecken, so eröffnet uns dies eine weitere Aussicht auf das Verständnis so mancher dunkler Punkte auch in der menschlichen Geschichte, als es die prätentiösen »Geschichtsauffassungen«, die sich in der jüngsten Zeit so gehäuft haben, insbesondere die ökonomisch-materialistische Ansicht, anzubahnen vermocht haben. Sicherlich ist von einer biologischen Betrachtung auch der menschlichen Geschichte noch unendlich viel Aufschluß in der Zukunft zu erwarten. Hier soll nur die Nutzanwendung auf den vorliegenden Fall gesucht werden.

Wenn es richtig ist, daß zu gewissen Zeiten mehr, zu anderen weniger hermaphroditische Menschen geboren werden, so wäre als die Folge dessen vorauszusehen, daß die Frauenbewegung größtenteils von selbst sich wieder verlaufen und nach längerer Zeit erst wieder zum Vorschein kommen würde, um wieder unter- und emporzutauchen in einem Rhythmus ohne Ende. Es würden eben die Frauen, die sich selbst emanzipieren wollten, bald in größerer, bald in weit geringerer Anzahl geboren werden.

Von den ökonomischen Verhältnissen, welche auch die sehr weibliche Frau des kinderreichen Proletariers in die Fabrik oder zur Bauarbeit drängen können, ist hier natürlich nicht die Rede. Der Zusammenhang der industriellen und gewerblichen Entwicklung mit der Frauenfrage ist viel lockerer, als er, besonders von sozialdemokratischen Theoretikern, gewöhnlich hingestellt wird, und noch viel weniger besteht ein enger ursächlicher Konnex zwischen den Bestrebungen, die auf die geistige, und jenen, die auf die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit gerichtet sind. In Frankreich z. B. ist es, obwohl es drei der hervorragendsten Frauen hervorgebracht hat, niemals einer Frauenbewegung recht eigentlich gelungen, Wurzel zu fassen, und doch sind in keinem Lande Europas so viele Frauen selbständig geschäftlich tätig als eben dort. Der Kampf um das materielle Auskommen hat also mit dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt, wenn wirklich von Seite einer Gruppe von Frauen ein solcher geführt wird, nichts zu tun und ist scharf von ihm zu scheiden.

Die Prognose, welche dieser letzteren Bewegung, der auf dem geistigen Gebiete, gestellt wurde, war keine erfreuliche; sie ist wohl noch trostloser als die Aussicht, die man ihr auf den Weg mitgeben könnte, wenn mit einigen Autoren eine fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechtes zu völliger sexueller Differenzierung, also einem ausgesprochenen Geschlechts-Dimorphismus entgegen, anzunehmen wäre.

Die letztere Meinung scheint mir aus dem Grunde unhaltbar, weil im Tierreich durchaus nicht eine mit der höheren systematischen Stellung zunehmende Geschlechtertrennung sich verfolgen läßt. Gewisse Gephyreen und Rotatorien, viele Vögel, ja selbst unter den Affen noch der Mandrill tun einen viel stärkeren Gonochorismus kund, als er beim Menschen, vom morphologischen Standpunkte aus, sich beobachten läßt. Während aber diese Vermutung eine Zeit voraussagt, wo wenigstens das Bedürfnis nach der Emanzipation für immer erloschen sein und es nur mehr komplette Masculina und komplette Feminina geben würde, verurteilt die Annahme einer periodischen Wiederkehr der Frauenbewegung das ganze Streben der Frauenrechtlerinnen in grausamster Weise zu einer schmerzlichen Ohnmacht, es läßt ihr gesamtes Tun unter dem Aspekte einer Danaidenarbeit erscheinen, deren Erfolge mit der fortschreitenden Zeit wieder von selbst in das gleiche Nichts zerrinnen.

Dieses trübe Los könnte der Emanzipation der Frauen gefallen sein, wenn diese immer weiter ihre Ziele nur im Sozialen, in der historischen Zukunft der Gattung suchte und ihre Feinde blind unter den Männern und in den von Männern geschaffenen rechtlichen Institutionen wähnte. Dann freilich müßte das Korps der Amazonen formiert werden, und es wäre nie ein Dauerndes gewonnen, wenn jenes geraume Zeit nach seiner Bildung immer wieder sich auflöste. Insoferne bietet die Renaissance und ihr spurloses Verschwinden den Frauenrechtlerinnen eine Lehre. Die wahre Befreiung des Geistes kann nicht von einem noch so großen und noch so wilden Heere gesucht werden, um sie muß das einzelne Individuum für sich allein kämpfen. Gegen wen? Gegen das, was im eigenen Gemüte sich dawiderstemmt. Der größte, der einzige Feind der Emanzipation der Frau ist die Frau.

Dies zu beweisen, ist Aufgabe des zweiten Teiles.

ZWEITER ODER HAUPTTEIL.
DIE SEXUELLEN TYPEN

I. Kapitel.
Mann und Weib

»All that a man does is physiognomical of him.«

Carlyle.

Freie Bahn für die Erforschung alles wirklichen Geschlechtsgegensatzes ist durch die Erkenntnis geschaffen, daß Mann und Weib nur als Typen zu erfassen sind und die verwirrende Wirklichkeit, welche den bekannten Kontroversen immer neue Nahrung bieten wird, allein durch ein Mischungsverhältnis aus jenen zwei Typen sich nachbilden läßt. Die einzig realen sexuellen Zwischenformen hat der erste Teil dieser Untersuchung behandelt, und zwar, wie nun hervorgehoben werden muß, nach einem etwas schematisierenden Verfahren. Die Rücksichtnahme auf die allgemein biologische Geltung der entwickelten Prinzipien führte das dort mit sich. Jetzt, da, noch viel ausschließlicher als bisher, der Mensch das Objekt der Betrachtung werden soll und die psychophysiologischen Zuordnungen der introspektiven Analyse zu weichen sich anschicken, bedarf der universelle Anspruch des Prinzipes der sexuellen Zwischenstufen einer gewichtigen Restriktion.

Bei Pflanzen und Tieren ist das Vorkommen des echten Hermaphroditismus eine gegen jeden Zweifel erhärtete Tatsache. Aber selbst bei den Tieren scheint oft das Zwittertum mehr eine Juxtaposition der männlichen und weiblichen Keimdrüse in einem Individuum als ein Ausgeglichensein beider Geschlechter in demselben, eher ein Zusammensein beider Extreme denn einen gänzlich neutralen Zustand in der Mitte zwischen denselben zu bedeuten. Vom Menschen jedoch läßt sich psychologisch mit vollster Bestimmtheit behaupten, daß er, zunächst wenigstens in einer und derselben Zeit, notwendig entweder Mann oder Weib sein muß. Damit steht nicht nur im Einklang, daß fast alles, was sich für ein Masculinum oder Femininum schlechtweg hält, auch sein Komplement für »das Weib« oder »den Mann« schlechthin ansieht.12 Es wird jene Unisexualität am stärksten erwiesen durch die in ihrer theoretischen Wichtigkeit kaum zu überschätzende Tatsache, daß auch im Verhältnisse zweier homosexueller Menschen zueinander immer der eine die körperliche und psychische Rolle des Mannes übernimmt, im Falle längeren Verkehres auch seinen männlichen Vornamen behält oder einen solchen annimmt, während der andere die des Weibes spielt, seinen weiblichen Vornamen entweder bewahrt oder einen solchen sich gibt oder noch öfter – dies ist bezeichnend genug – ihn vom anderen erhält.

Also es füllt in den sexuellen Relationen zweier Lesbierinnen oder zweier Urninge immer die eine Person die männliche, die zweite die weibliche Funktion aus, und dies ist von größter Bedeutung. Das Verhältnis Mann-Weib erweist sich hier als fundamental an der entscheidenden Stelle, als etwas, worüber nicht hinauszukommen ist.

Trotz allen sexuellen Zwischenformen ist der Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib. Auch in dieser ältesten empirischen Dualität steckt (nicht bloß anatomisch und keineswegs im konkreten Falle in regelmäßiger genauer Übereinstimmung mit dem morphologischen Befunde) eine tiefe Wahrheit, die sich nicht ungestraft vernachlässigen läßt.

 

Hiemit scheint nun ein Schritt gemacht, der von der größten Tragweite ist, und allem Ferneren so segensreich wie verhängnisvoll werden kann. Es ist mit einer solchen Anschauung ein Sein statuiert. Die Bedeutung dieses Seins zu erforschen ist freilich eben die Aufgabe, welche der ganzen folgenden Untersuchung anheimfällt. Da aber mit diesem problematischen Sein an die Hauptschwierigkeit der Charakterologie unmittelbar gerührt ist, wird es gut sein, ehe daß eine solche Arbeit in naiver Kühnheit begonnen werde, über dieses heikelste Problem, an dessen Schwelle aller Wagemut bereits stockt, eine kurze Orientierung zu versuchen.

Die Hemmnisse, mit denen jedes charakterologische Unternehmen zu kämpfen hat, sind allein schon wegen der Kompliziertheit des Stoffes enorme. Oft und oft ereignet es sich, daß der Weg, den man durch das Waldesdickicht bereits gefunden zu haben glaubt, sich verliert im undurchdringlichen Gestrüppe, der Faden nicht mehr herauszulösen ist aus der unendlichen Verfilzung. Das schlimmste aber ist, daß betreffs der Methode einer systematischen Darstellung des wirklich entwundenen Stoffes, anläßlich der prinzipiellen Deutung auch erfolgreicher Anfänge, sich wieder und wieder die ernstesten Bedenken erheben und gerade der Typisierung sich entgegentürmen. In dem Falle des Geschlechtsgegensatzes z. B. erwies sich bis jetzt die Annahme einer Art Polarität der Extreme und unzähliger Abstufungen zwischen denselben als die einzig brauchbare. Es scheint so auch in den meisten übrigen charakterologischen Dingen – auf einige komme ich selbst noch zu sprechen – etwas wie Polarität zu geben (was schon der Pythagoreer Alkmaion von Kroton geahnt hat); und vielleicht wird auf diesem Gebiete die Schellingsche Naturphilosophie noch ganz andere Genugtuungen erleben als die Auferstehung, welche ein physikalischer Chemiker unserer Tage ihr bereitet zu haben vermeint.

Aber ist die Hoffnung berechtigt, durch die Festlegung des Individuums auf einem bestimmten Punkte in den Verbindungslinien je zweier Extreme, ja durch unendliche Häufung dieser Verbindungslinien, durch ein unendlich viele Dimensionen zählendes Koordinatensystem das Individuum selbst je zu erschöpfen? Verfallen wir nicht, nur auf einem konkreteren Gebiet, bereits in die dogmatische Skepsis der Mach-Humeschen Ich-Analyse zurück, wenn wir die vollständige Beschreibung des menschlichen Individuums in Form eines Rezeptes erwarten? Und führt uns da nicht eine Art Weismannscher Determinanten-Atomistik zu einer Mosaik-Psychognomik, nachdem wir uns von der »Mosaik-Psychologie« eben erst zu erholen beginnen?

In neuer Fassung stehen wir hier vor dem alten und, wie sich zeigt, noch immer lebendig zähen Grundproblem: Gibt es ein einheitliches und einfaches Sein im Menschen, und wie verhält es sich zu der zweifellos neben ihm bestehenden Vielheit? Gibt es eine Psyche? Und wie verhält sich die Psyche zu den psychischen Erscheinungen? Man begreift nun, warum es noch immer keine Charakterologie gibt: Das Objekt dieser Wissenschaft, der Charakter, ist seiner Existenz nach selbst problematisch. Das Problem aller Metaphysik und Erkenntnistheorie, die höchste Prinzipienfrage der Psychologie, ist auch das Problem der Charakterologie, das Problem »vor aller Charakterologie, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Wenigstens aller erkenntniskritisch über ihre Voraussetzungen, Ansprüche und Ziele unterrichteten und aller über Unterschiede im Wesen der Menschen Belehrung erstrebenden Charakterologie.

Diese, sei's drum, unbescheidene Charakterologie will mehr sein als jene »Psychologie der individuellen Differenzen«, deren erneute Aufstellung als eines Zieles der psychologischen Wissenschaft durch L. William Stern darum doch eine sehr verdienstvolle Tat war; sie will mehr bieten als ein Nationale der motorischen und sensorischen Reaktionen eines Individuums, und darum soll sie nicht gleich zu dem Tiefstand der übrigen modernen psychologischen Experimentalforschung herabsinken, als welche sie ja nur eine sonderbare Kombination von statistischem Seminar und physikalischem Praktikum vorstellt. So hofft sie mit der reichen seelischen Wirklichkeit, aus deren völligem Vergessen das Selbstbewußtsein der Hebel- und Schraubenpsychologie einzig erklärt werden kann, in einem herzlichen Kontakte zu bleiben und fürchtet nicht, die Erwartungen des nach Aufklärung über sich selbst dürstenden Studenten der Psychologie durch Untersuchungen über das Lernen einsilbiger Worte und den Einfluß kleiner Kaffeedosen auf das Addieren befriedigen zu müssen. So traurig es als Zeichen der übrigens allgemein dumpf empfundenen prinzipiellen Unzulänglichkeit der modernen psychologischen Arbeit ist, so begreiflich ist es doch, wenn angesehene Gelehrte, die sich unter einer Psychologie mehr vorgestellt haben als eine Empfindungs- und Assoziationslehre, vor der herrschenden Öde zu der Überzeugung gelangen, Probleme wie das Heldentum oder die Selbstaufopferung, den Wahnsinn oder das Verbrechen müsse die reflektierende Wissenschaft auf ewig der Kunst, als dem einzigen Organe ihres Verständnisses, überlassen und jede Hoffnung aufgeben, nicht sie besser zu verstehen als jene (das wäre anmaßend einem Shakespeare oder Dostojewskij gegenüber), wohl aber, sie ihrerseits auch nur systematisch zu begreifen.

Keine Wissenschaft muß, wenn sie unphilosophisch wird, so schnell verflachen wie die Psychologie. Die Emanzipation von der Philosophie ist der wahre Grund des Verfalles der Psychologie. Gewiß nicht in ihren Voraussetzungen, aber in ihren Endabsichten hätte die Psychologie philosophisch bleiben sollen. Sie wäre dann zunächst zu der Einsicht gelangt, daß die Lehre von den Sinnesempfindungen mit der Psychologie direkt überhaupt nichts zu tun hat. Die empirischen Psychologien von heutzutage gehen von den Tast- und Gemeinempfindungen aus, um mit der »Entwicklung eines sittlichen Charakters« zu endigen. Die Analyse der Empfindungen gehört aber zur Physiologie der Sinne, jeder Versuch, ihre Spezialprobleme in eine tiefere Beziehung zu dem übrigen Inhalte der Psychologie zu bringen, muß mißlingen.

Es ist das Unglück der wissenschaftlichen Psychologie gewesen, daß sie von zwei Physikern, von Fechner und von Helmholtz, am nachhaltigsten sich hat beeinflussen lassen und so verkennen konnte, daß sich zwar die äußere, aber nicht so auch die innere Welt aus baren Empfindungen zusammensetzt. Die zwei feinsinnigsten unter den empirischen Psychologen der letzten Jahrzehnte, William James und Richard Avenarius, sind denn auch die beiden einzigen, die wenigstens instinktiv gefühlt haben, daß man die Psychologie nicht mit dem Hautsinn und Muskelsinn anfangen dürfe, während alle übrige moderne Psychologie mehr oder minder Empfindungskleister ist. Hier liegt der von Dilthey nicht scharf genug bezeichnete Grund dafür, daß die heutige Psychologie zu den Problemen, die man als eminent psychologische sonst zu bezeichnen gewohnt ist, zur Analyse des Mordes, der Freundschaft, der Einsamkeit u. s. w., gar nicht gelangt, ja – hier verfängt nicht die alte Berufung auf ihre große Jugend – zu ihnen gar nicht gelangen kann, da sie in einer ganz anderen Richtung sich bewegt, als in einer, die sie am Ende doch dahin führen könnte. Darum hat die Losung des Kampfes um eine psychologische Psychologie in erster Linie zu sein: Hinaus mit der Empfindungslehre aus der Psychologie!

Das Unternehmen einer Charakterologie in dem oben bezeichneten weiteren und tieferen Sinne involviert vor allem den Begriff des Charakters selbst, als den Begriff eines konstanten einheitlichen Seins. Wie die schon im 5. Kapitel des I. Teiles zum Vergleich herangezogene Morphologie die bei allem physiologischen Wechsel gleich bleibende Form des Organischen behandelt, so setzt die Charakterologie als ihren Gegenstand ein Gleichbleibendes im psychischen Leben voraus, das in jeder seelischen Lebensäußerung in analoger Weise nachweisbar sein muß, und ist so vor allem jener »Aktualitätstheorie« vom Psychischen entgegengesetzt, die ein Bleibendes schon darum nicht anerkennen mag, weil sie auf jener empfindungsatomistischen Grundanschauung beruht.

Der Charakter ist danach nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen des Individuums Thronendes, sondern etwas, das sich in jedem Gedanken und jedem Gefühle desselben offenbart. »Alles, was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn.« Wie jede Zelle die Eigenschaften des ganzen Individuums in sich birgt, so enthält jede psychische Regung eines Menschen, nicht bloß einzelne wenige »Charakterzüge«, sein ganzes Wesen, von dem nur im einen Momente diese, im anderen jene Eigentümlichkeit mehr hervortritt.

Wie es weiter gar keine isolierte Empfindung gibt, sondern stets ein Blickfeld und ein Empfindungsganzes da ist, als das dem Subjekte gegenüberstehende Objekt, als die Welt des Ichs, von welcher nur einmal der eine, ein anderes Mal der andere Gegenstand sich deutlicher abhebt: so steckt in jedem Augenblicke des psychischen Lebens der ganze Mensch, und es fällt nur in jeder Zeiteinheit der Accent auf einen anderen Punkt seines Wesens. Dieses überall in dem psychischen Zustande jedes Augenblickes nachweisbare Sein ist das Objekt der Charakterologie. So würde diese erst die notwendige Ergänzung der bisherigen empirischen Psychologie bilden, die, in merkwürdigem Gegensatze zu ihrem Namen einer Psychologie, bisher fast ausschließlich den Wechsel im Empfindungsfelde, die Buntheit der Welt, in Betracht gezogen und den Reichtum des Ich ganz vernachlässigt hat. Damit könnte sie auf die allgemeine Psychologie als die Lehre von dem Ganzen, das aus der Kompliziertheit des Subjektes und der Kompliziertheit des Objektes resultiert (die beide aus diesem Ganzen nur durch eine eigentümliche Abstraktion isoliert werden konnten), befruchtend und regenerierend wirken. So manche Streitfragen der Psychologie – vielleicht sind es gerade die prinzipiellsten Fragen – vermag überhaupt nur eine charakterologische Betrachtung zur Entscheidung zu bringen, indem sie zeigt, warum der eine diese, der andere jene Meinung verficht, darlegt, weshalb sie differieren, wenn sie über das gleiche Thema sprechen: daß sie über denselben Vorgang und denselben psychischen Prozeß aus keinem anderen Grunde verschiedener Ansicht sind, als weil dieser bei jedem die individuelle Färbung, die Note seines Charakters erhalten hat. So ermöglicht gerade die psychologische Differenzenlehre erst die Einigung auf dem Gebiete der Allgemeinpsychologie.

Das formale Ich wäre das letzte Problem der dynamischen, das material erfüllte Ich das letzte Problem der statischen Psychologie. Indessen wird ja bezweifelt, daß es überhaupt Charakter gibt; oder wenigstens sollte das vom konsequenten Positivismus im Sinne von Hume, Mach, Avenarius geleugnet werden. Es ist danach leicht begreiflich, warum es noch keine Charakterologie gibt als Lehre vom bestimmten Charakter.

Die Verquickung der Charakterologie mit der Seelenlehre ist aber ihre schlimmste Schädigung gewesen. Daß die Charakterologie historisch mit dem Schicksal des Ichbegriffs verknüpft worden ist, gibt allein noch kein Recht, sie sachlich an dasselbe zu binden. Und nur wer dogmatisch sich auf den Standpunkt des absoluten Phänomenalismus stellt und glaubt, dieser allein enthebe aller Beweislasten, die, schon mit seiner Betretung, von selbst allen anderen Standpunkten aufgebürdet seien, der wird das Sein, das die Charakterologie behauptet, und das noch durchaus nicht mit einer metaphysischen Essenz identisch ist, ohne weiteres abweisen.

Die Charakterologie hat sich gegen zwei schlimme Feinde zu halten. Der eine nimmt den Charakter als gegeben und leugnet, daß, ebenso wie die künstlerische Darstellung, die Wissenschaft sich seiner bemächtigen könne. Der andere nimmt die Empfindungen als das allein Wirkliche an, Realität und Empfindung sind ihm eins geworden, die Empfindung ist ihm der Baustein der Welt wie des Ich, und für diesen gibt es keinen Charakter. Was soll nun die Charakterologie, die Wissenschaft vom Charakter? »De individuo nulla scientia«, »Individuum est ineffabile«, so tönt es ihr von der einen Seite entgegen, die am Individuum festhält; von der anderen, die auf der Wissenschaftlichkeit allein besteht und nicht »die Kunst als Organ des Lebensverständnisses« sich gerettet hat, muß sie es wieder und wieder vernehmen, daß die Wissenschaft nichts wisse vom Charakter.

Zwischen solchem Kreuzfeuer hätte die Charakterologie sich zu behaupten. Wen wandelt da nicht die Furcht an, daß sie das Los ihrer Schwestern teilen, eine ewig unerfüllte Verheißung bleiben werde wie die Physiognomik, eine divinatorische Kunst wie die Graphologie?

Auch diese Frage ist eine, welche die späteren Kapitel zu beantworten werden suchen müssen. Das Sein, welches die Charakterologie behauptet, ist seiner einfachen oder mehrfachen Bedeutung nach von ihnen zu untersuchen. Warum diese Frage ganz allgemein gerade mit der Frage nach dem psychischen Unterschiede der Geschlechter so innig sich berührt, das wird freilich erst aus ihren letzten Resultaten hervorgehen.

 
12Auf den Anblick einer bisexuell funktionierenden Schauspielerin mit leichtem Bartanfluge, einer tiefen sonoren Stimme und fast ohne Haare auf dem Kopfe habe ich einen bisexuellen Mann ausrufen hören: »Ja das ist ein Prachtweib!« »Das Weib« ist eben für jeden ein anderes und doch dasselbe, »im Weibe« hat noch jeder Dichter Verschiedenes und doch ein Gleiches besungen.