Immer mutig

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Immer mutig
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Paul Scheerbart

Immer mutig

Ein phantastischer Nilpferdroman mit 83 merkwürdigen Geschichten

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Impressum neobooks

Kapitel 1

Ich hatte mich verstiegen.

Und das kam mir so selbstverständlich vor.

So mußte es kommen.

Jetzt konnte ich nicht mehr weiter; rauf ging's nicht mehr und

runter auch nicht.

Allerdings – runter wär's wohl gegangen – runterkommen

kann man immer.

Aber die Sache hatte einen Haken.

Neben mir ging's hinunter in die Tiefe – da hätte ich mich

kopfüber hineinstürzen können – doch bei dem Sturz wäre mir

wohl der Atem vergangen – und mein Körper wäre wohl zu Brei

geworden.

Ich befand mich in einem Gebirge, das aus hartem Stein

bestand.

Es tat mir schon leid, daß ich so rücksichtslos immer höher

gestiegen war.

Ich starrte die glatte Felswand vor mir nicht sehr geistreich an;

in die grausige Tiefe wagte ich nicht hinabzublicken, denn ich

glaubte, nicht ganz schwindelfest zu sein.

Und siehe, da hob sich vor mir in der glatten Felswand eine

Platte heraus und schob sich zur Seite, und ich erblickte in der

entstandenen Öffnung ein kleines Nilpferd, das kaum halb so groß

war als ich selbst.

»Na, Onkelchen,« sagte das Nilpferd, »wohin willst Du?«

»Ich habe mich verstiegen!« erwiderte ich traurig.

»Das merkt'n Pferd!« rief da das Nilpferdchen. »Tritt nur

näher! Oder – willst Du abstürzen?«

»Nein! Nein!« sagte ich schnell.

Und ich folgte dem kleinen Tier, das eine Lampe anzündete

und mich durch einen Felsengang führte ... Nach ein paar

Augenblicken stand ich in einem sauberen Felsensaal.

Oben in den hohen, schwarzen Gewölben brannten weiße

Ampeln aus Milchglas; Birnenform hatten die Ampeln – die

Stengel hingen unten als dicke Schnüre.

Jetzt erst bemerkte ich, daß das kleine Nilpferd, das wie ein

Mensch auf den Hinterbeinen ging, einen dunkelblauen Flanellrock

anhatte; der ließ nur den Kopf und die vier Füße frei.

»Nimm Platz!« sagte das Nilpferd, und es setzte sich auf einen

Schaukelstuhl. Ich setzte mich neben dem großen grünen Ofen auf

eine Holzbank.

Eine dunkelgraue Plüschdecke war über den ganzen Fußboden

gespannt.

Von Möbeln sah man nicht viel; es schien eine Art

Empfangsraum zu sein.

Es war mir aber außerordentlich gleichgültig, wo ich mich

befand; ich war müde und abgespannt und durchaus nicht froh über

meine Rettung.

»Dir ist wohl nicht ganz wohl!« sagte das Nilpferdchen nach

einer Weile.

Und ich erwiderte hastig:

»Wenn das nicht stimmt – dann weiß ich nicht mehr, wie viel

drei mal drei ist.«

»Die Antwort,« flüsterte mein Retter, »ist von einer geradezu

seltsamen Bestimmtheit.«

Ich starrte den hohen, grünen Ofen an und war stumm wie ein

Stockfisch.

Wir hörten im Hintergrunde langsam eine große Uhr ticken

und rührten uns nicht.

So mochten wir wohl eine gute halbe Stunde gesessen haben, als

das Nilpferdchen leise fragte:

»Hast Du vielleicht ein Manuskript bei Dir, das recht traurig

stimmt? Du hast doch sonst immer Manuskripte bei Dir.«

Ich drehte den Kopf langsam um, sah das Nilpferdchen groß an

und sagte unsicher:

»Woher weißt Du denn, daß ich sonst immer Manuskripte bei

mir habe? Ich muß mich doch wundern.«

Da sprang das Nilpferdchen von seinem Schaukelstuhl auf und

hopste im Felsensaal herum und rief laut:

»Er muß sich doch wundern! Er muß sich doch wundern! Daß

ein redendes Nilpferdchen ihn gerettet hat – das wundert ihn nicht.

Aber daß das Tierchen so viel weiß – das wundert ihn.«

Und dann sprang das kleine Vieh ganz dicht an meine Seite

und sprach im tiefsten Baß:

»Ich freue mich ganz eklig, daß Du Dich noch wunderst. Leute,

die sich noch wundern können, sind noch nicht ganz tot. Und daß

Du noch nicht ganz tot bist, das ist sehr gut. Denn – wärest Du

ganz tot, so hätte ich's bedauern müssen, Dich gerettet zu haben;

Leichen rettet man doch nicht.«

Ich blickte dem Nilpferdchen ins Gesicht und wunderte mich

jetzt, daß es so gut reden konnte. Und ich fragte leise und höflich:

»Was soll ich tun?«

»Gib mir,« antwortete das Tier, »eine Geschichte zu lesen, die

recht traurig stimmt.«

Da suchte ich denn in meinen Taschen und blätterte in allen

meinen Sachen, schüttelte oft den Kopf und gab dem freundlichen

Nilpferd schließlich eine Geschichte, die mir in diesem Falle zu

passen schien.

Das kleine Tier setzte sich eine blaue Brille auf, ging mit

meinen Blättern wieder zum Schaukelstuhl, ließ sich auf diesem

vorsichtig nieder und las:

Lichtwunder

Nacht! Nacht!

Lauter dunkle, schwarze Räume.

Ich schwebe so dahin und weiß nicht, wo ich bin –

aber ich schwebe in der unendlichen Finsternis ruhig

weiter.

Da zuckt was in der Ferne auf – ein kleines

Pünktchen Licht!

Und nun weiß ich, wo ich mich befinde – ich fliege

durch jene große Nachtkugel, die weit hinter dem leeren

Raume mitten im großen Lichtmeere schwimmt, das in

jedem Atome so hell ist wie eine echte Sonne ohne

dunklen Kern.

Es gibt im Lichtmeere viele hohle Nachtkugeln – aber

meine Nachtkugel ist die dunkelste.

Und doch – es ist nicht Alles so dunkel, wie's aussieht.

Da drüben der Lichtpunkt wird immer größer – und

jetzt schießen zwei feine Lichtkegel, die so schwanken, an

mir vorüber.

Und – in den Lichtkegeln?

Lichtwunder!

Da fängt es gleich zu leben an – Milliarden zierliche

Flügelchen glitzern und flimmern – und leben – einen

kurzen – aber seligen – Lichttag.

Und nach dem schwebe ich wieder in der unendlichen

Finsternis.

Es dauert aber nicht lange – und von neuem schießt

aus einem Spalt der Kugelschale ein linsenförmiger

Lichtstreifen – breit wie ein Schwert.

Und wie vorhin lebt gleich in dem Lichtstrahl was auf

– eine wilde Weltenjagd – unzählige kleine schillernde

Blasen – dies Mal sind's lauter Welten mit edelstem

Weltengewürm.

So ist das Dasein im großen Reiche der Nacht.

Es wird immer wieder hell.

Und die Lichtstrahlen erzeugen mit immer wieder

frischer Kraft unzählige Lichtwunder – Engel und Sterne,

Fledermäuse und Paradiesvögel – Diamanten und

Weltgestalten in immer neuer Lichtwunderform.

Ich weiß: unsre Augen könnten das Lichtmeer

draußen nicht ertragen – wir würden draußen erblinden –

daher die schützende Kugelschale.

Aber unsre Augen sind nicht schlechte Augen – sie

sind nur so fein und empfindlich, daß die dämpfende

Nacht die feinen empfindlichen Augen immer wieder

stärken muß – zum Genuß der ewigen Lichtwunder in

der Nachtkugel.

Augen, die draußen das Lichtmeer ohne Schaden

ansehen können, sind schrecklich grob.

Das Nilpferdchen hatte beim Lesen auf jeder der beiden dicken

Vorderpfoten eine Pincette. Und mit den beiden Pincetten konnte

das Tier sehr gewandt meine Blätter halten und umdrehen.

Nach der Lektüre fächelte sich das Tier vom Strande des

heiligen Nil mit meinen Blättern ein wenig Kühlung zu und sagte

leise:

»Das war so schmerzlich grade nicht, denn der Wert der

Dunkelheit wird ja auch gleich im richtigen Lichte gezeigt. Hast

Du nicht eine längere Sache, die wenigstens schmerzlich endet? Mir

scheint – doch davon nachher.«

Ich suchte wieder in meinen Taschen, und dann ließ ich das

kluge Nilpferd dies hier lesen:

Die wilde Kralle

Ein Raketen-Scherzo

Ich kletterte immer höher; es ging ja so leicht.

Die Astknorren waren nicht zu dick und nicht zu

dünn – grade so recht.

Aber die Spitze der Tanne konnt' ich nicht erreichen,

so eifrig ich auch klettern mochte.

Es war doch ein schrecklich hoher Baum.

Er war bedeutend höher, als ich dachte.

Einmal, als ich runtersah, kam mir's so vor, als wäre

die Erde unten längst unsichtbar geworden.

So hoch im Weltall zu sein, erschien mir da ein stolzes

Vergnügen zu sein.

Ringsum kein andrer Baum – kein Stück Erde – kein

 

Stück Wasser – nur Himmel – nichts als Himmel – mit

unzähligen seligen Sternen.

Mit stiller Andacht starrte ich in den großen Himmel.

Und der Himmel schien mir plötzlich so eng und

begrenzt – wie eine kleine Dorfkirche.

Da knisterte was unter mir.

Ich weiß nicht mehr genau, wie's war – ich sah nur

allmählich, vor mir an der sternbestickten Himmelsdecke

eine weiß schimmernde Riesenkralle zitternd

emporsteigen.

Und die Riesenkralle krallte sich in die sternbestickte

Himmelsdecke fest und riß ein großes unregelmäßiges

Loch hinein; die Eckfetzen flatterten steif ab, als wenn

ein starker Wind durch das Loch mich anbliese.

Und ich schaute durch die flatternden Eckfetzen in

eine andre Welt, die größer ist als unsre kleine

Dorfkirchenwelt.

Dort hinten – weit hinter unserm Fixsternhimmel –

war der Hintergrund tiefschwarz und unendlich tief.

Und in der Mitte dieser anderen Unendlichkeit stiegen

langsam zwei goldene Riesenraketen empor, die aus

lauter goldenen Sonnen bestanden; sie perlten immer

höher wie langsam aufsteigende Riesenfontänen.

Aber die Raketen gehen nicht grad in die Höhe, sie

biegen sich nach allen Seiten wie alte Baumstämme, die

oft vergeblich nach dem Lichte strebten.

Und sie werden immer größer.

Und sie bekommen wie die Baumstämme Äste.

Die rechts sich aufreckende Rakete hat keine Ecken;

sie biegt sich, wie Schlangenleiber sich biegen. Die links

sich aufreckende Rakete hat jedoch sehr viele Ecken und

Kanten wie knorrige Eichen.

Es sieht anfänglich alles ganz friedlich aus – leider

darf man keinem Frieden trauen.

Die goldenen Sonnenraketen biegen sich vor und

zurück, als wenn der Sturmwind an ihnen rüttle. Und

bald wird mir's ganz klar: Die Raketen stehen sich

gegenseitig im Wege.

Ich hatte wohl vorher gedacht, dieses Schwanken,

Drängen, Schieben und Stucksen wäre nur eine

Äußerung der Zärtlichkeit. Mir fiel jedoch zur richtigen

Zeit ein, daß ordentlichen Feindschaften ein zärtliches

Vorspiel was ganz Natürliches ist.

Die Atmosphäre scheint mir recht heiß zu werden. Die

Schlangenrakete dehnt oft ganz beängstigend ihren

gierigen Sonnenleib. Und die Eichenrakete schwankt und

zittert wie ein wilder Trotzkopf, der gern seine Wutkrone

aufsetzt.

Die beiden Ungeheuer stehen sich im Wege – das ist

mir bald völlig klar.

Und ich nehme Partei für die goldene Eiche, die mir

der Schlange an Schlauheit unterlegen zu sein scheint.

Der Schlauheit mag ich stets an den Hals.

»Ich schütze die Dummheit!«

Also ruf' ich laut. Und ich erschrecke, da mir tausend

Echos – der Himmel mag wissen woher – antworten –

höhnend antworten.

Hei! Jetzt kommen die goldenen Sonnen ordentlich in

Bewegung! Das Gold glitzert und zuckt! Die Raketen

machen Ernst! Das ist keine Zärtlichkeit mehr! Ich recke

mich auch! Meine sehnigen Muskeln schwellen an wie

springende Wildbäche im Frühling!

Es zittern die Spitzen der weichen und der knorrigen

Äste so stark, daß ich mitzittern muß.

Und aus den Spitzen fliegen nun blaue, grüne und rote

Lichtblasen heraus – die brennen in dunklen Farben und

werden immer größer. Und aus den Lichtblasen schießen

in die Nacht gelbe und weiße Lichtkegel, die wie weite

Scheinwerfer blitzschnell den Himmel durchfliegen – von

einem Ende zum andern – wie rasend!

Eine Lichtschlacht!

Zwei goldene Milchstraßen liefern sich eine

Lichtschlacht – eine lautlose.

Ich muß mich sehr wundern.

»Himmel! Wetter!« ruf ich wieder ganz laut, »ist denn

da hinten auch alles so eng, daß nicht mal zwei

Sonnenbäumchen Platz haben? Sind denn ›sämtliche‹

Weltwinkel zu klein?«

Über mir hör ich ein heftiges Brummen, und seltsam

hüstelnd antwortet mir eine dunkle Baßstimme:

»Was weißt Du von Weltwinkeln? Tu doch nicht so,

als ob Du kosmische Größenverhältnisse besser

ausrechnen könntest als unsereins. Die Naseweisheit

steht Dir nicht gut. Verkrieche Dich in der alten

Weltpauke! Da ist noch Platz für dich.«

Ich ducke mich, obgleich ich Keinen sehe.

Die Raketen kämpfen weiter.

Es wird furchtbar lebhaft da hinten.

Ich möchte noch mehr sehen; das Loch in der

Himmelswand erscheint mir zu klein. Doch da kommt

auch schon die weiß schimmernde Riesenkralle wieder

höher und macht das Loch größer.

Jetzt kann ich bequemer dem Kampfspiele zuschauen.

Die weißen und gelben Lichtkegel flirren immer heftiger.

Die roten, grünen und blauen Gasblasen werden

mordsmäßig groß und platzen dann – wie Alles, was zu

groß wird. Dafür spritzen die Spitzen der weichen und

der knorrigen Äste immer wieder neue Blasen hervor, die

auch mit weißen und gelben Lichtkegeln herumflirren.

Die Schlangenrakete wird offenbar noch schlauer; sie

bedrängt die Eiche wie ein unheimliches Krötenweib.

Ich kann's kaum ansehen; die Schlange wird mit ihren

langen Schläuchen, die ihr immer dicker aus dem Leibe

herauswachsen und gar nicht mehr was Astartiges haben,

so aufgedunsen – so scheußlich groß.

Der Hintergrund, von dem sich die Raketen abheben,

ist so bunt wie eine riesige zitternde Opalfläche; die

roten, blauen und grünen Gaskugeln mit den gelben und

weißen Lichtkegeln flattern umher, als wenn sie ein

Weltföhn durchbrause.

Da kann ich mich nicht mehr halten.

Die Schlangenrakete wird von oben bis unten gemein.

Das ist die ewige Niedertracht!

Ich möchte der Schlange an den Hals.

»Eine Kralle möcht' ich haben!«

Das schrei' ich.

Und im selben Augenblick fühl ich, daß die wilde

Kralle, die unsern alten dösigen Dorfkirchenhimmel

aufriß, ›meine‹ wilde Kralle ist.

Und mit meiner weiß schimmernden Riesenkralle

pack' ich durchs Loch, mitten in den Schlangenleib rinn.

»Ich will nicht die Schlauheit siegen lassen!« brüll' ich

auf und drück' mit meiner wilden Kralle zu – den ganzen

Leib der Schlangenrakete entzwei.

Doch dabei muß ich »Au!« schreien.

Ich habe mich verbrannt.

Horngeruch – widerlicher – steigt mir betäubend in

die Nase.

Ich sehe nichts mehr.

Ich reiße die Hand mit der Kralle aus dem Loche raus,

um mich auf meiner Tanne festzuhalten.

Aber die Hand mit der Kralle tut mir zu weh, und ich

kann mich mit der Linken allein nicht halten.

Und ich falle mit der Kralle.

Mich ergriff eine namenlose Wut.

»Die Schlauheit siegt! Sie ist zu kaltblütig!« schrie ich

noch.

Dabei fiel ich immer tiefer.

Ich hielt den Atem an, indessen – ich fiel trotzdem.

Das Horn roch – brenzlich.

Es war mir auch so, als ob der Docht einer alten,

großen Wachskerze verglimmte – in einer Dorfkirche.

Ich fiel – der Teufel – mochte wissen – wohin.

Ich glaube, ich fiel in die alte Dorfkirche unserer

greulich beschränkten Fixsternwelt zurück.

Ich fiel immer tiefer – immer tiefer – immer tiefer!

Und ich wunderte mich, daß unsre beschränkte Welt

so tief sein konnte.

Nach der Lektüre dieser Geschichte sprang das Nilpferd wieder

sehr erregt von seinem Schaukelstuhl auf und stampfte aufrecht auf

den Hinterbeinen in der Stube herum, drehte sich öfters auf dem

einen Fuße um sich selbst, wehte mit den Blättern durch die Luft,

stellte sich wieder dicht vor mich hin und hielt mir mit wunderbarer

Geschwindigkeit eine Rede – ohne mir einen Einwurf zu gestatten.

»Du mußt,« sagte es, »nicht gleich so schlecht gelaunt werden,

wenn Du Dir mal die Finger verbrannt hast. Sieh nur unsere

Pfoten an, da sind keine Finger dran – und wir wissen uns doch zu

helfen; die Pincetten sind noch viel feiner als die Finger. Intelligente

Leute müssen sich zu helfen wissen. Du darfst Deine

Empfindungen nicht so ernst nehmen. Wenn schon unsre

Gliedmaßen nicht als Realitäten von uns genommen werden wollen,

so dürfen wir doch die Empfindungen dieser Gliedmaßen erst recht

nicht als reale betrachten. Der Schmerz wird erst dadurch für uns

zum Schmerze, daß wir ihn so nennen. Wir können den Schmerz

auch als potenzierte Wollust auffassen. Intelligente Leute müssen

sich zu helfen wissen. Wenn Dir ein Bein abgehauen wird, so

bedenke sofort, daß Dir dieses scheinbare Unglück auch eine große

Portion sehr angenehmer Augenblicke verschafft – denn man wird

Dich verhätscheln dafür. Glaube mir, es ist nicht Alles Pech, was

schwarz aussieht. Es tut auch nicht alles weh – was sich krümmt.

Intelligente Leute müssen sich zu helfen wissen. Und ich finde, daß

Du Dir in Deinen Geschichten sehr wohl zu helfen weißt, denn

beim Runterfallen amüsierst Du dich gleich wieder über die

köstliche ›Tiefe‹ der Dorfkirchenwelt. Merkwürdig ist es nur, daß

Du Dir in Deinem Leben nicht zu helfen weißt – denn Deine

Mienen lassen nicht den geringsten Grad von Heiterkeit erkennen.

Dir scheint die Grütze sehr stark verhagelt zu sein.«

Ich wollte was erwidern, aber das Nilpferd ließ mich nicht zu

Worte kommen; es wollte bloß noch ein paar »schmerzliche«

Manuskripte lesen – es wollte gleich mehrere haben – und ich gab

ihm diese drei:

Er hatte ...

Eine Nachtscene

Er hatte sehr viel getrunken – das stand fest.

Und er hatte sehr lange getrunken – so drei bis vier

Tage – genau wußte man's nicht.

Er hatte sich auch geärgert – natürlich!

Wer viel und lange trinkt, hat sich immer geärgert.

Das ist nun mal so auf diesem großen Erdball.

Und er hatte natürlich keinen Sechser mehr – das

sagten Alle, die ihn umstanden. Und die mußten es

wissen, denn sie waren dabeigewesen.

Er hatte sich ja in ihrer Gegenwart die Gurgel

durchgeschnitten und war dabei umgefallen, obgleich er

sich am Laternenpfahl gehalten hatte.

Jetzt lag er da – in der Gosse.

Er hatte endlich genug.

Er hatte in seinem ganzen Leben niemals genug

gehabt.

Blut hatte er noch. Das merkten Alle, die ihn

umstanden und nicht wußten, wie sie ihm helfen sollten.

Das Blut floß plätschernd in die Gosse. Die Laterne

leuchtete und blitzte in dem roten Blut.

Warum hatte er sich die Kehle durchgeschnitten?

Ja – warum hatte er?

Er hatte das Leben plötzlich dick bekommen.

Sich selbst hatte er niemals dick bekommen – wohl

aber das Leben.

»Er hatte Talent!« sagten die Leute.

Und bei diesen Worten hatte sich ein Arzt

vorgedrängt – der hatte natürlich sein Verbandzeug nicht

bei sich.

Aber die Umstehenden hatten Taschentücher.

Wer hatte nicht Taschentücher?

Er hatte Talent.

Ja – warum hatte er denn Talent?

Er hatte einen Vogel.

Er hatte mir's ja gesagt.

Er hatte nie genug.

Jetzt erst hatte er genug – mit der durchschnittenen

Kehle.

Ja – die Kehle!

Die Kehle hatte schuld an Allem.

Die Kehle!

Er hatte eine Kehle!

Er hatte eine Kehle!

Lautlos wälzte sich eine Wolke die Straße entlang, und

in der Wolke saß ein Fleischer mit einem ellenlangen

Messer.

Der Fleischer hatte ein Messer, aber keine Kehle dazu.

Mein Freund hatte eine Kehle.

Er hatte jetzt genug.

Aber er hatte trotzdem kein Talent.

Ich weiß das ganz genau.

Er hatte ...

Er hatte wieder zu viel getrunken.

Er hatte ...

Der große Kampf

Ein Dualisticum

Langsam fallen glühende Sonnen in die schwarze Nacht –

und machen Alles hell.

Und dann kommt der Erzengel Michael mit seinem

langen Schwert. Mächtige Eisenmassen rasseln auf seiner

Brust, die Beinschienen knacken, und die Armschienen

platzen beinah – so schwellen dem Erzengel die Muskeln

an.

Und dann taucht aus dunklen Wolken der Kopf des

Drachensatans heraus. Aber dessen Augen sind nicht

leuchtend wie die des Michael; des Drachensatans Augen

sind so matt.

»Ich hau' Dich zu Brei!« brüllt der Michael.

Doch der Satan schüttelt den Kopf und sieht dem

Engel traurig ins lachende Angesicht.

»Dein Schwert ist zu kurz!« erwidert der müde Satan.

 

Michael funkelt mit den Augen, seine Stahlrüstung

kreischt, und das lange Schwert blitzt durch die Wolken.

Satan zieht den Kopf ein, und seine ungeheuere

Körpermasse kommt zum Vorschein – Millionen

weltendicke Schlangenarme winden sich aus den Wolken

heraus.

Michael schlägt zu und haut unzählige Schlangenarme

ab – aber die abgeschlagenen Glieder verbinden sich

wieder mit dem Drachenrumpf.

Und des Erzengels Arm erlahmt.

Da kommt des Satans Kopf wieder an die Oberfläche

des Rumpfes und grinst den Engel an wie ein

Totenschädel.

Der Engel will zuschlagen, doch er kann das Schwert

nicht mehr heben – seine Arme zittern.

Und die Millionen dicker Schlangenarme umhalsen

den eisernen Engel, so daß der schier erstickt wird.

»Hör auf!« schreit der Engel.

Der Satan läßt nach, die weichen schlaffen dicken

Schlangenarme lösen sich von dem Engel los.

Und langsam sinkt der Drachensatan zurück.

»Nächstens kämpfen wir wieder von Neuem!« flüstert

höhnisch der müde Teufel.

Der Engel stöhnt und schwebt mit hängendem Kopfe

davon; nur ganz allmählich kehrt die Kraft in die

zitternden Muskeln zurück.

Bunte Wolken nehmen den Engel auf und erfrischen

ihn. Langsam steigen starke Marmorsäulen in den

Himmel empor. Die Säulen steigen immer höher und

verschwinden zwischen den Sternen.

Die Kummerlotte

Die Morgensonne glühte in die Resedabüsche, die vor

Lottens Dachfenster blühten.

Und sie saß still vor ihrer Nähmaschine und machte

ein trauriges Gesicht.

Die Lotte war sonst immer so glücklich gewesen –

früher, als sie so wenig Geld verdiente und so oft nur

Häringe zu Mittag aß.

Früher war sie eigentlich stets so recht lustig gewesen

– so seelenvergnügt.

Das war jetzt Alles so anders geworden.

Seit drei Tagen war die Lotte die richtige

Kummerlotte geworden. Wie kam das?

Die Nähmaschine stand seit drei Tagen still.

Und das Unglück? Wie sah's denn aus? Oh – es sah

merkwürdig gut aus – das Unglück. Andere Menschen

hätten das Unglück ein großes Glück genannt.

Die arme Lotte hatte geerbt – zweimal!

Zweimal geerbt in drei Tagen!

Von einem alten Großonkel hatte sie zehntausend

Thaler geerbt – und von einer Kusine dreihundert Thaler.

Das war das Unglück!

So sah Lottens »Unglück« aus!

Traurig schaute die Kummerlotte ihre Resedabüsche

an – ihr traten ganz dicke Thränen in die Augen.

Die Leute im Hause schüttelten den Kopf und

meinten, bei dem guten Mädchen sei's da oben nicht ganz

richtig.

»Dumme Trine!« riefen die beiden heiratsfähigen

Töchter des Hauswirts.

»Kummerlotte!« riefen die Gassenjungen.

Sie aber sagte nichts dazu, sie gab keine Erklärung –

sie seufzte und schloß sich ein.

Da saß sie nun am Fenster in der Morgensonne und

grübelte.

»Das Geld ist mein Unglück!« flüsterte sie immer

wieder.

»So lange ich kein Geld hatte,« meinte sie so recht

vergrämt, »war ich immer frisch und jung. Doch wie das

Geld kam, war meine Jugend fort. Muß ich da nicht

traurig sein? Kann mir das Geld das traurige Gefühl

ersticken? Ach ja – es ist nicht angenehm, wenn man

merkt, daß man alt geworden ist. Es kam so plötzlich –

als ich nicht mehr arbeiten brauchte – und über alles

nachdachte.«

Sie nahm ihren Wandspiegel und betrachtete

kummervoll ihr Gesicht! Alt sah sie eigentlich noch nicht

aus – und doch – sie fühlte, daß sie's war.

Niemand verstand die Kummerlotte.

Sie aber verstand sich.

Und abermals sprang das Nilpferdchen auf, trampelte wild im

schwarzen Felsensaale herum und hielt dann wieder eine Rede.

»Onkelchen,« sagte es, »über die Vorteile, die die Armut bietet, ist

schon so viel gesagt worden, daß es bald wirklich Not tut, die

Vorzüge des Reichtums zu verteidigen und ein bißchen in Schutz

zu nehmen; die reichen Leute bedauern sich schon ein wenig zu viel;

so furchtbar schlimm ist der Reichtum doch auch nicht. Wenn die

Verherrlichung der Armut so große Dimensionen annimmt, so

brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich schließlich die

bedauernswerten Geldbesitzer zusammentun und sich gegen die

protzenhafte. Alles unterdrückende Macht der armen Leute

empören. Das gäbe dann eine nette Bescherung. Das wäre eine

schöne Revolution. Wer die Verhältnisse in Europa so gut kennt

wie ich, wird eine solche Revolution gar nicht für unmöglich halten.

Das Ridiküle ist tatsächlich das Modernste. Manche Leute, denen

das Verschleiern und Umdrehen zur Gewohnheit geworden ist,

verdrehen die Dinge so lange – bis sie selber verdreht werden. Die

Reichen sind wirklich auf das Glück der Armen viel neidischer als

man glaubt – und demnach ist es wohl geboten, den Kurs der

sozialen Poesie wieder etwas zu ändern. Doch davon brauchen wir

eigentlich nicht so viel zu reden. Wichtiger ist Dein Teufel der

Lebensmüdigkeit, der Gurgeln abschneidet und sich selber nichts

abschneiden läßt.«

Ich wollte wieder was sagen, doch das kleine Tier fuhr eifrig fort:

»Bedenke, daß die einfache tierische Luft bloß ein einfacher

Lebensreizer ist, der nur einfachen Lebewesen zum Weiterleben

genügenden Anreiz verschafft. Wer nur ein bißchen höher hinaus

will, wird durch die einfachen Lebensreizer – wie da sind:

Schinken, Champagner, Chansonette, Leberwurst und Paprika –

nicht am Leben erhalten. Der höhere wendet sich an Kunstspäße

ernster Güte, an Philosophie und überirdische Herrlichkeit. Diese

letzteren Dinge ziehen schon mehr an. Indessen – Rückfälle in die

gewöhnliche Schinkenluft kommen immer wieder vor. Und wenn

diese Rückfälle zu oft vorkommen, so wird der Weg zum höheren

zu mühsam, und das arme Lebewesen steht dann zwischen zwei

Bündeln und – verhungert beinahe. So ungefähr gelangt die

Lebensmüdigkeit in unsre Erscheinungswelt; das Eine genügt nicht,

und das Andre ist nicht zu erreichen. Ich spreche, wie Du merken

wirst, ganz wie Deinesgleichen, nicht wahr? Na ja! Nun muß man

aber doch, wenn man ein bißchen vernünftig ist, zugeben, daß man

nicht so ohne Weiteres zwei Herren dienen kann. Entweder – man

steigt, so gut man kann, über die simplen Luftspäße hinweg in die

höheren hinein – oder – ja! da liegt der Hase im Pfeffer! Wenn

man mal angefangen hat, über das Simple hinüberzusteigen, so wird

man im Simplen nie wieder die Befriedigung finden, die Hinz und

Kunz darin zu finden vermögen. Ja! Ja! Die Mutter Natur hält es

doch für gut, Leute, die was werden könnten, mit einer kleinen

Zwangserziehung zu beglücken – und wenn's auch weh tun sollte.

Was ist also die große Müdigkeit? Sie entsteht, wenn man

Spießerglück will – und doch zu Sternenglück erzogen werden soll.

Es gibt auch höhere Wesen, die sich zu Gunsten noch höherer

Lebensreizer auch das Sternenglück abgewöhnen müssen – u.s.w. –

immer höher – mit Grazie ad infinitum! Rede nicht. Onkelchen.

Denke darüber nach.«

Und ich tat's.

Und dann wollte der Kleine wieder was lesen.

Und ich fand gar nichts Rechtes; mir genügten meine Sachen

plötzlich nicht mehr, was mir sehr schmerzhaft war.

Doch schließlich gab ich zögernd wiederum drei Sachen raus.

Noahs Glück

»Die Leute denken immer,« sagte Noah, als er seine

Barke vollgepackt hatte, »ich hätte das Reisen so gern.

Das ist aber gar nicht wahr. Es gefällt mir hier überall

nicht – und daher reise ich – das ist die ganze

Geschichte.«

Mit diesen Worten stieg Noah in seine Barke.

Diesmal war's eine Luftbarke.

Und mit der Luftbarke fuhr er rasch in den freien

Äther hinaus – an Mond und Sonne vorbei – in die große

Sternenwelt.

Und bald war Noah jenseits von unserm

Milchstraßensystem.

Er war also schon recht weit gefahren, und seine Frau

wunderte sich schon.

Doch Noah fuhr noch weiter – er steuerte auf einen

großen Nebelfleck zu, der aus lauter Pilzsternen bestand

– aus sehr vielen bunten und mannigfaltig geformten

Pilzsternen.

Und Noah fuhr mit seiner Barke hinter den

Nebelfleck und begann dann plötzlich ein lustiges

Liedchen zu pfeifen.

Da kamen Noahs sämtliche Anverwandte aufs Deck

hinauf und lachten.

»Jetzt sind wir endlich so weit!« rief der alte Noah mit

seiner hellen Geisterstimme.

Und Noahs Frau fragte ihren Mann:

»Na, bist Du jetzt glücklich?«

»Jawohl,« rief der alte Noah, »jetzt bin ich

vollkommen glücklich. Hier können wir bleiben – die

Pilzsterne sind undurchsichtig – und von dem

Milchstraßensystem, in dem sich die alte Erde dreht,

werden wir nimmermehr was sehen können.«

»Das ist man gut!« riefen Alle.

Und Noah pries sein Glück.

Und Noahs Anverwandte lachten – mitsamt seiner

Frau.

Noah jedoch weinte vor Freude – so groß war sein

Glück.

Und die Pilzsterne blieben undurchsichtig für alle

Ewigkeit.

Und Noahs Luftbarke blieb fest verankert.

Die Bewohner der Luftbarke sahen woanders hin.

Und Noah pries sein Glück tagtäglich hundertmal und

konnte sich viele Billionen Jahre gar nicht beruhigen – so

sehr freute er sich über die totale Unsichtbarkeit jenes

Milchstraßensystems, in dem sich jener »Erde« genannte

Stern bewegte.

Da kam eines Nachts ein kluger Vogel an der Barke

vorbeigeflogen – sah den Noah und sprach redselig:

»Noah, das ganze Milchstraßensystem, von dem Du

nichts mehr hören und sehen willst, existiert ja gar nicht

mehr. Flieg nur um die Ecke Deines Nebelflecks herum

– da wirst Du Augen machen. «

Noah löste vorsichtig die Anker und fuhr ganz sachte,

ohne daß die Schläfer und die Schläferinnen unten in den

Kajüten was bemerkten, um die Ecke seines Nebelfleckes

rum – und fiel – vor Schreck rücklings aufs Deck.

Ein kolossaler Weltdrache füllte die ganze Gegend

und glotzte den Noah mit Millionen Augen so eklich an,

daß dem Armen ganz plümerant zu Mute wurde.

Doch der Drache sagte nach einer Weile höchst

gemütlich:

»Lieber Noah, ich habe soeben

siebenmalsiebenundsiebzig Tausend Milchstraßensysteme

verspeist – glaubst Du da, daß ich noch Appetit haben

könnte?«

Und der Drache lächelte sehr blöde und flog empor

und ließ eine weite Leere hinter sich.

»Er hat sich satt gefressen!« rief der kluge Vogel.

Noah sprang auf, drehte rasch seine Barke um und

machte, daß er weg kam, und befestigte die Anker wieder

an den alten Stellen hinter dem Pilzsternnebelfleck.

Niemand auf der Barke erfuhr was von Noahs

nächtlicher Fahrt um die Ecke rum.

Noah aber pries nicht mehr sein Glück.

Es kam dem alten Noah für die Folge sein Leben

zeitweise komisch vor, so daß er oftmals lächeln mußte.

Und er freute sich nun, daß Niemand auf der Barke

sein Lächeln verstand; die Pilzsterne blieben

undurchsichtig.

Nebelsterne

Sieben Nebelsterne empfanden den Dunst, in dem sie

viele Billionen Jahre gelebt hatten, eines Tages als etwas

Unerträgliches.

Aber der Dunst gehörte zu ihnen; er war ein Teil ihres

Körpers. Der Dunst war die Haut ihres Körpers.

Abstreifen konnten sie also ihre Dunsthaut nicht so ohne

Weiteres. So was können wohl kriechende Schlangen –

aber nicht die Nebelsterne.

Die anderen Sternwelten in der Umgegend hatten

keine Dunsthaut. Und das ärgerte die Nebelsterne am

allermeisten.

Und das Herz der Nebelsterne ward verbittert, so daß

sie ganz gallig wurden und tückischen Gedanken Raum

gaben.

Die Nebelsterne wollten den anderen Sternwelten

auch so gern eine unbequeme Dunsthaut anhängen.

Und was beschlossen da die Bösen?

Sie beschlossen, sich so weit aufzublasen, daß ihr