Ostfriesische Verhältnisse

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Ostfriesische Verhältnisse
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Peter Gerdes

Ostfriesische Verhältnisse

Kriminalroman


Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals „Ostfriesische Krimitage“. Die Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das „Tatort Taraxacum“ (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

Impressum

Handlung und Personal dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Allerdings stand die Realität dabei der Fantasie des Autors hilfreich zur Seite.

Wer sich jedoch womöglich in diesem Text wiederzuerkennen glaubt, der ist nicht gemeint. Höchstens der Autor selbst.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2015 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Günther_Ramm/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6464-5

Prolog

Hass ist wie Sex. Du spürst die Hitze, du fühlst das Prickeln, diese irren Wellen von den Fingern bis in die Fußspitzen. Da ist das Schnappen nach Luft. Da ist diese Anspannung, die Lust aus jeder Zelle presst. Wenn der Verstand beiseitetritt, kann der Körper plötzlich Dinge tun, von denen du sonst nur träumst. Dann kennst du keine Grenzen mehr, dann hörst du nicht auf, bis du die Sache auf die Spitze getrieben hast und darüber hinaus. Bis sich die Spannung in einer Explosion löst. Bis die Flut alles überrollt.

Gegen erfüllten Hass ist ein Orgasmus doch ein Witz!

Genug Zeit ist vergangen. Jeder andere Gedanke hat in eine Sackgasse geführt. Nein, anders ist die Sache nicht zu regeln.

Ein Telefon klingelt. Ein Hund bellt. Ein Motorrad fährt vorbei. Ein Pärchen unterhält sich, eine Frau lacht. Eine Schiffssirene aus dem Hafen, dumpf und fern. Leise quietschende Autobremsen. Alles weckt Erinnerungen, alles heizt und nährt den Hass.

Innehalten, die Muskeln anspannen bis zum Krampf. Süßer Schmerz strömt zur Mitte. Am liebsten jetzt, am liebsten sofort!

Nur einen Moment gezögert, schon mischt der Verstand sich ein. Sicher, es gibt sie, die guten Gründe, es nicht zu tun. Argumente. Aber sie haben Pech, diese Argumente. Ihre Zeit ist vorbei.

Hände greifen nach Pistole und Telefon. Eine Tür schwingt auf.

1.

»Hier kannste ja durchschießen!« Der Blasse mit den schütteren roten Haaren zeigte anklagend auf das fast menschenleere nächtliche Panorama der Einkaufsstraße. Hier und dort glänzten nasse Wachbetonplatten im grellen Licht vereinzelter Schaufenster, dazwischen lagen halbe Ladenzeilen im Dunklen. Das Ganze erweckte den Eindruck eines lückenhaften Gebisses.

»Könnte auch am Wetter liegen.« Der Begleiter des hageren Rothaarigen, größer und erheblich korpulenter als der, strich sich ein paar lange graue Haare, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatten, aus dem Gesicht. »Dass es heute so schietig ist, da kann ja keiner was dafür. Da bleiben die Leute einfach weg, das ist reines Pech.« Er zuckte mit den breiten Schultern.

»Unsinn! Siebenmal Mitternachts-Shopping pro Jahr, das ist einfach zu viel«, schimpfte der Rothaarige. »Einmal, zweimal, okay. Aber wenn man das ständig macht, dann ist das doch nichts Besonderes mehr. Nicht mal am dritten Oktober.«

»Dabei ist das doch günstig, dass der Tag der deutschen Einheit diesmal auf einen Mittwoch fällt. So ein verkaufsoffener Feiertag mitten in der Woche sollte eigentlich die Leute locken.«

»Siehst du ja, wie toll das lockt! Und von wegen Feiertag – jedenfalls nicht für die Verkäuferinnen! Dabei ist übernächste Woche schon wieder Gallimarkt, dann ist sogar sonntags geöffnet. Dieser Eickhoff ist doch ein echter Leuteschinder.«

»Ich frage mich, warum der das unbedingt so oft durchziehen will.« Der Dicke nickte in Richtung einiger bereits geschlossener Läden. »Guck mal, gerade erst zehn Uhr, und viele haben schon dicht! Das wird doch auch schlicht zu teuer, so lange offen zu halten, mit Personal und Licht und Heizung und so, wenn deswegen kaum mehr Kunden kommen. So ist das eben, wenn man einen Gaul unbedingt totreiten muss. Dann springen die Leute ab.« Er breitete die Arme aus. »Vielleicht erledigt sich das ja so von selbst.«

»Aber um welchen Preis!« Der Rothaarige war schon wieder auf Hundertachtzig. »Was für einen Eindruck macht das denn hier! Die paar Leute, die sich trotz allem noch anlocken lassen, stehen ja überall im Dunklen und vor verschlossenen Türen, außer bei den Läden, die Eickhoff gehören oder deren Besitzer er in der Hand hat. Das macht natürlich einen verheerenden Eindruck! Und diesen Eindruck, den nehmen die mit, das erzählen sie herum. Das schadet auf Dauer unserem Image, das sage ich dir! Von wegen, Leer, die Einkaufsstadt Nummer eins in Ostfriesland! Auf diese Weise schicken wir unsere Kunden doch praktisch selber in die Einkaufszentren auf der grünen Wiese.«

Der Dicke nickte versonnen. »Stimmt. Außerdem verschiebt sich ja alles durch diese penetranten Nachtöffnungen. An den Tagen, an denen Mitternachts-Shopping angesagt ist, kann man das Vormittagsgeschäft glatt vergessen, weil die Leute einfach später kommen. Aus Kostengründen wäre es besser, erst mittags zu öffnen – aber das geht natürlich nicht, wegen der Stammkunden, die es eilig haben, die wären ja sauer. Und abends trotzdem länger offen halten geht auch nicht, weil von den Mitternachts-Shoppern gar nicht so viele überhaupt bis in die Altstadt kommen; da kostet uns das Personal ja mehr, als es einbringt! Unterm Strich machen wir kleinen Händler auf jeden Fall Verlust bei diesen Aktionen.«

»Genau. Der Einzige, der profitiert, ist Eickhoff selber.« Der Rothaarige seufzte. All diese Argumente waren ihm wohlbekannt, benutzte er sie doch selbst bei jeder Gelegenheit.

Gerade gingen die beiden an Eickhoffs leuchtendem Einkaufspalast vorbei, der alles in seiner Nachbarschaft überstrahlte, auch die kleineren Läden, die alle schon dicht hatten. Hier war tatsächlich einiges los; Gruppen mit prallen Tüten verließen das Gebäude, andere strebten den einladend geöffneten Glastüren zu. Es ging lebhaft und laut zu. Einige der späten Kunden machten einen angeheiterten Eindruck.

»Solche Besuffskis möchte ich bei mir im Laden gar nicht haben«, schimpfte der Dicke halblaut.

»Die wüssten ja auch gar nicht, was sie bei uns eigentlich sollten«, pflichtete der Rothaarige ihm bei. Sein bedauernder Unterton aber ließ vermuten, dass es ihm letztlich doch um jeden Kunden leid tat, der jetzt und hier einkaufte statt tagsüber in der Altstadt.

»Jetzt guck dir das an!« Abrupt blieb der Rothaarige stehen und packte seinen Kollegen am Arm. »Die Einkaufswelt hat auch schon zu! Mann, das ist doch der Hammer.« Er rieb sich die Hände. »Wenn selbst dieses Kaufhaus nicht mehr bis Mitternacht offen hält, dann kann Eickhoff einpacken! Der Besitzer ist doch sonst sein treuester Mitstreiter, was Shopping-Events angeht. Wenn der ihm jetzt auch von der Fahne geht, dann gute Nacht. Aber ohne Shopping!«

»Bist du sicher?«, wandte der Dicke ein. »Das Licht dort ist zwar aus, aber guck mal – die Tür ist noch offen.«

»Stimmt. Merkwürdig.« Schon stürmte der Rothaarige los. »Wollen doch mal sehen, was es damit auf sich hat.«

Tatsächlich stand nur noch der äußerste rechte Flügel der Glasfront offen, und gewiss wäre kein Kunde auf die Idee gekommen, das Halbdunkel dieses Verkaufslabyrinths zu betreten, so eindeutig sah es hier nach Geschäftsschluss aus. Trotzdem, je näher die beiden Flaneure kamen, desto deutlicher vernahmen sie Stimmen von drinnen, aus dem Kassenbereich, wo noch eine Lampe brannte. Laute und erregte Stimmen. Neugierig traten sie näher.

»Absprachen sind das, feste Absprachen! Herrgott, du hast die Inserate doch selber mit abgesegnet!« Der Hochgewachsene im grauen Maßanzug verlor soeben seine Beherrschung; seine Gesichtshaut rötete sich bedenklich. »Das ist Verrat, was du hier machst, mein Lieber!«, brüllte er. »Verrat! Du weißt, das lasse ich mir nicht gefallen!«

»Das ist ja Eickhoff«, flüsterte draußen der Rothaarige. Seine Stimme klang ergriffen, als gehe gerade ein lang gehegter Traum in Erfüllung. »Da, schau, zusammen mit seinem Junior! Mann, die geben aber Stoff.«

Der Besitzer des verdunkelten Kaufhauses trat einen Schritt zurück, um dem Schauer von Speicheltröpfchen aus Eickhoffs Mund auszuweichen. Er war kaum kleiner als sein Mitbewerber und nicht weniger elegant gekleidet. »Führ dich hier nicht so auf!«, zischte er den Wütenden an. »Du bist hier immer noch in meinem Haus, verstehst du? Hier wird gemacht, was ich will, basta! Ist ja alles gut und schön mit deinen Ideen und Plänen, und ich unterstütze dich ja auch, solange sie funktionieren. Aber zu viel ist zu viel, verstanden? Und wenn es sich nicht mehr rechnet, dann ist Schluss mit lustig. Hast du etwa gedacht, ich riskiere deinetwegen Verluste? Das kannst du vergessen! Ich mache zu, egal was in der Zeitung stand, und daran wirst du mich nicht hindern.«

 

»Das können Sie nicht machen! Sie hören doch, das ist Verrat!« Wie ein verspätetes Echo schaltete sich Eickhoff junior ein. Oliver Eickhoff war einen ganzen Kopf kleiner als sein Vater; mit seinem pausbackigen Gesicht und dem blonden Bubikopf sah er deutlich jünger aus als Mitte zwanzig, und obwohl er inzwischen zum stellvertretenden Geschäftsführer aufgerückt war, wirkte er doch immer noch ziemlich altklug.

Der Kaufhausbesitzer würdigte ihn keiner Antwort. »Merk dir für die Zukunft«, knurrte er Eickhoff senior an, »du kannst auf mich zählen, wenn es etwas bringt, was du vorschlägst. Aber wenn nicht, dann nicht. Nibelungentreue gibt es für mich nicht. Spinnerei, sowas! So, und jetzt Schluss mit dem Theater. Raus mit euch beiden, ich will abschließen.«

Die beiden Flaneure hatten mit glühenden Ohren gelauscht. Um bloß nicht zu verpassen, wie Eickhoff senior auf diesen Rauswurf reagieren würde, schob sich der Rothaarige näher und näher an die Türöffnung heran, drängelte schließlich den Dicken beiseite. Der verlor kurz das Gleichgewicht und rumpelte mit der Schulter gegen die offene Türscheibe, die zu scheppern begann.

Drei Köpfe flogen herum, drei Augenpaare spähten ins Halbdunkel. Gegen das Streulicht der Straßenbeleuchtung waren nur die Silhouetten der beiden Lauschenden zu erkennen, aber Eickhoff genügte das. »Schau mal an, Asterix und Obelix auf Horchposten«, höhnte er laut. »Ihr kennt wohl überhaupt keinen Anstand mehr, was, ihr ewig Gestrigen? Schert euch bloß zurück in euer Freilichtmuseum! Bremser können wir hier nicht brauchen. Wenn wir Leer nach vorne bringen wollen, brauchen wir hellwache Köpfe, keine Penner.«

»Genau, Penner!«, echote Eickhoff junior. Sein Kindergesicht, zunächst erschrocken, nahm einen trotzigen Ausdruck an. Er rückte näher an seinen Vater heran.

»He, Moment mal, du … du Pöbelkasper!«, erwiderte der Dicke schwach. Der Rothaarige hakte ihn unter und zog in seitlich weg, so schnell wie möglich außer Sicht.

»Ärgere dich nicht«, beschwichtigte er ihn. »Mann, was wir da gerade gesehen und gehört haben, ist doch Gold wert! Dafür dürfen die uns gerne ein bisschen anpöbeln.« Er zog seinen Begleiter mit sich in Richtung Denkmalsplatz. »Komm, darauf genehmigen wir uns einen!«

Sie entschieden sich für den Außenbereich eines Cafés, wo der Dicke eine Zigarette rauchen konnte. Sonnenschirme schützten vor dem leichten Regen; obwohl es Anfang Oktober war und der Herbst sich unmissverständlich ankündigte, konnte man noch gut im Freien sitzen, wenn man die Jacken anbehielt. Die beiden prosteten sich zu.

»Und inwiefern jetzt Gold wert?«, fragte der Dicke über seinen Bierschaum hinweg.

Der Rothaarige nahm einen tiefen Schluck. »Erstens«, verkündete er dann, »weil die beiden mächtigsten Mitglieder der Werbegemeinschaft, die bislang allen möglichen Quatsch gemeinsam durchgedrückt haben, uneinig sind. Zerstritten! Und zweitens«, er trank wieder, »weil wir das jetzt wissen! Das können wir hervorragend verwenden, wenn die wieder ihre Riesenwelle machen und uns andere an die Wand drücken wollen. Das wird ihnen künftig nicht mehr so leicht gelingen!«

Der Dicke zuckte die Achseln; er hatte sich wohl mehr erhofft. »Kurzfristig sehe ich noch keinen Nutzen. Unsere Hauptprobleme bleiben doch: die abgehängte Altstadt, die umgelenkten Käuferströme, die mangelnde Unterstützung durch die Verwaltung.« Er schüttete sein Bier in zwei großen Schlucken in sich hinein. »Werben tun sie ja gerne mit unserer malerischen Altstadt, aber wenn es drum geht, uns mal unter die Arme zu greifen, dann erhöhen die lieber noch die Gebühren.«

Kichernd winkte der Rothaarige ab. »Du musst das langfristig sehen! Und da kommt drittens ins Spiel. Nämlich drittens, dass wir die nächste Generation des kaufmännischen Zweiges der Familie Eickhoff nicht fürchten müssen!« Er blies seine hohlen Wangen auf und imitierte den glotzenden Oliver Eickhoff so treffend, dass der Dicke laut lachen musste.

Die gute Laune hielt sich, bis sich die beiden auf den Heimweg machten, zurück aus der wenig belebten Fußgängerzone in die gänzlich verödete Altstadt. Der Rothaarige, weil er direkt über seinem Geschäft in der Brunnenstraße wohnte, und der Dicke, weil sein Fahrrad in der Rathausstraße stand.

Eingangs der Brunnenstraße blieben sie noch einen Augenblick stehen, um sich das bronzene Modell der Altstadt anzuschauen, das seit kurzem den Büntingplatz zierte. Eine Gestalt hastete mit gesenktem Blick an ihnen vorbei. Der Rothaarige schaute auf. »War er das nicht?«, fragte er.

»Wer?« Der Dicke hob jetzt erst den Blick.

»Na, der Kleine! Der Oliver! Der, der uns vorhin beschimpft hat.«

»Und wenn?« Der Dicke zuckte mit den Schultern. »Hat ja nur seinem Vater nachgeplappert wie ein Papagei. Der Typ ist doch hohl. Willst du ihm etwa nach und ihn verkloppen? Also ehrlich, aus dem Alter sind wir doch raus.«

Sie zuckten zusammen, als sich von hinten ein Motorrad näherte, dessen bollernder Sound von den eng stehenden Häuserfassaden bedrohlich laut reflektiert wurde. »Verdammt, wann wird das hier endlich mal Fußgängerzone!«, knurrte der Dicke, als die Maschine an ihnen vorbeipreschte. Seine Worte wurden vom Lärm aus dem Auspuff verschluckt.

Als es im nächsten Augenblick laut knallte, glaubten der Dicke und der Rothaarige zunächst an eine Fehlzündung. Der Motorradmotor aber lief fehlerlos, brüllte auf und katapultierte die Maschine sekundenschnell bis ans Ende der Brunnenstraße, wo sie mit kreischenden Reifen um die Kurve verschwand. Der Motorenlärm verklang in der Ferne.

Zurück blieb ein anderes Geräusch. Das eines vor Schmerzen jammernden Menschen. Der Rothaarige und der Dicke brauchten einen Moment, um es richtig einzuordnen. Entsetzt starrten sie einander an, dann liefen sie los, der Rothaarige voran. »Das ist wirklich Oliver Eickhoff«, rief er. »Verdammt, alles voller Blut! Aber er lebt noch. Schnell, schnell!«

Der Dicke antwortete nicht. Er hatte sein Handy bereits am Ohr.

2.

»Und? Ist er außer Lebensgefahr?« Hauptkommissar Stahnke war mitten in der Bewegung erstarrt, die tropfende Regenjacke am ausgestreckten Arm, zehn Zentimeter vor dem Garderobenhaken. Nach dem, was er da gerade vom Kollegen Kramer erfahren hatte, lohnte es sich gar nicht, die Jacke aufzuhängen, weil sie ja doch gleich wieder los mussten.

Kramer nickte bedächtig. »Das ist er und das war er, von Anfang an. Die Schusswunde ist nämlich nicht lebensbedrohlich. Mal abgesehen vom Blutverlust, aber es gab ja zum Glück Zeugen, die sofort einen Rettungswagen gerufen haben. Und uns.«

Und zum Glück nicht mich, dachte Stahnke. Immerhin, ein Mordanschlag, wenn auch ein offenbar missglückter – da hätte man auch gleich das komplette Besteck anfordern können. Gut, dass Kramer Rufbereitschaft gehabt und anders entschieden hatte, warum auch immer. Denn Stahnke hatte gestern Abend mit ein paar Segelkameraden gefeiert. Zwar nicht die deutsche Einheit, sondern Saisonschluss, aber Alkohol hatte es reichlich gegeben.

Ob es daran lag, dass er sich immer noch nicht entscheiden konnte, wie nun mit der nassgeregneten Jacke zu verfahren war? Irgendwie fehlte ihm noch Input. »Wohin wurde es denn getroffen, das Anschlagsopfer?«, fragte er aufs Geratewohl.

»In den verlängerten Rücken«, informierte Kramer ihn prompt, ohne eine Miene zu verziehen. »Steckschuss.«

»In den … Allerwertesten?« Jetzt ließ der Hauptkommissar die Jacke doch auf den Haken sinken. Er benötigte beide Hände, um sie sich in die Seiten zu stemmen. »Wie konnte das denn passieren? Also, ich meine natürlich – war es ein Fehlschuss aus größerer Distanz?«

»Wohl nicht.« Natürlich war Kramer wieder bestens informiert. »Die Entfernung war eher gering, so sehen es jedenfalls die Zeugen. Allerdings wurde im Vorbeifahren geschossen, und zwar von einem Motorrad aus. Ein Schuss und dann blitzartig ab durch die Mitte.«

Stahnke pfiff durch die Zähne und ließ sich schwer auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Ach nee. So weit sind wir schon? Bei den Amis gibt’s das ja öfter. Nennt sich Drive-by. Wird gerne von rivalisierenden Banden praktiziert, wegen Gebietsabgrenzungen und so.« Er runzelte die Stirn. »Interessieren sich jetzt schon Kuttenträger für die Leeraner Altstadt?«

»Darauf weist derzeit nichts hin«, antwortete Kramer mit stoischem Ernst. »Zumal das Opfer dieses Drive-by kein einschlägig bekannter Krimineller ist, sondern ein wohlangesehenes, wenn auch noch junges Mitglied der Leeraner Kaufmannschaft.«

»So. Na dann.« Der Hauptkommissar ersparte sich einen Exkurs über gewisse Parallelen zwischen krimineller und kaufmännischer Energie. Schließlich musste man hier mal vom Fleck kommen, auch wenn Kramer offenbar ausgezeichnete Vorarbeit geleistet hatte. »Name?«

»Oliver Eickhoff. Sohn von Karl-Friedrich Eickhoff, dem Kaufhaus-Tycoon.«

»Oha.« Und ob man vom Fleck kommen musste, und zwar schnell! Nicht mehr lange, und die gesamte regionale und überregionale Presse würde ihnen auf den Zehen stehen. Sofern dort noch Platz war vor lauter drängelnder Lokalprominenz. »Hast du ihn schon einvernommen? Beziehungsweise: Ist er schon vernehmungsfähig?«

»Nein und ja. Ich dachte, das machen wir zusammen.«

Stahnke nickte beifällig. »Wo liegt er denn, Borromäus oder Kreis?«

»Kreiskrankenhaus. Beziehungsweise Klinikum, wie es ja seit geraumer Zeit heißt.« Kramer nahm es wie immer genau.

Stahnke seufzte und erhob sich. Seine Regenjacke war immer noch nass. Wieder erstarrte er mit ausgestrecktem Arm. »Vom fahrenden Motorrad aus niedergeschossen, ja?«

»Wie schon gesagt.« Kramer verschränkte die Arme.

»Und die Maschine ist unmittelbar nach dem Schuss mit hoher Fahrt davongebraust, richtig? Darf ich deine Worte so interpretieren?«

»Darfst du.«

»Und das Opfer wurde auf welchem Bürgersteig aufgefunden?«

»In Fahrtrichtung rechts. Wieso?« Jetzt merkte man sogar einem Stoiker wie Oberkommissar Kramer an, dass er neugierig war.

Stahnke knickte seine immer noch ausgestreckte Hand im Gelenk ab, als würde er an einem Gasgriff drehen. »Weil alle Motorräder, die ich kenne, das Gas rechts haben«, sagte er. »Was dir übrigens auch bekannt sein müsste, schließlich hattest du doch selber auch mal ein Bike. Wenn man den Griff loslässt, dreht er sich automatisch zurück auf Standgas. Bei voller Fahrt ist das nicht angenehm. Das heißt …«, Stahnke deutet den Griff in die Innentasche einer Jacke an, die er gar nicht trug, »der Täter müsste kurz vor Erreichen seines Opfers den Gasgriff losgelassen, seine Waffe gezogen, gezielt und den Schuss abgegeben sowie anschließend die Pistole wieder eingesteckt haben. Erst danach konnte er wieder Gas geben – und musste vorher auch noch herunterschalten, um wirklich blitzartig, wie du es nanntest, abdüsen zu können. Der eigentliche Drive-by müsste sich also in besserem Schritttempo abgespielt haben. So klang mir die Schilderung aber nicht.«

»Das stimmt«, musste Kramer zugeben. »Aber vielleicht war die Waffe ja irgendwie anders platziert? Griffbereiter?«

»Und damit offen sichtbar?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich.«

»Oder der Täter hatte den Choke gezogen? Dann dreht der Motor doch höhere Touren.«

»Das erklärt das anschließende sofortige Beschleunigen nicht, wenn der Täter die Hand am Gasgriff nicht frei hat. Es sei denn, er hätte die Waffe sofort fallen lassen. Aber gefunden wurde sie ja wohl nicht, oder?«

»Nein«, bestätigte Kramer. »Dann bleibt eigentlich nur noch eins.«

»Genau. Der Täter muss Linkshänder gewesen sein.« Stahnke klatschte in die Hände.

»Und das wiederum bedeutet, dass er vor seinem eigenen Körper entlang geschossen haben muss, zur falschen Seite sozusagen«, spann Kramer den Faden weiter. »Was erklären würde, warum sein Schuss so schlecht gezielt war.«

»Welche Arschbacke wurde denn getroffen?«

»Die linke. Würde passen.«

 

»Wie Arsch auf Eimer.« Stahnke griff erneut nach seiner Regenjacke. Diesmal richtig. »Mal hören, was uns der junge Mann selber noch Erhellendes zum Tathergang erzählen kann«, sagte er im Gehen.