Ich finde dich

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Ich finde dich
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich finde dich

Kriminalroman von Peter M. Gnas

Peter M. Gnas ist 1955 in Bremen geboren und hat dort Kunst studiert. Seit Jahrzehnten arbeitet er selbstständig als Grafik-Designer und Texter in Stuttgart. Kreativität in Wort und Bild tragen ihn durch sein gesamtes Leben. Neben der zielgerichteten schöpferischen Tätigkeit im Marketing arbeitet er frei künstlerisch in Wort und Bild.

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

© 2018 by Peter M. Gnas

Herstellung und Verlag: Peter M. Gnas

Umschlaggestaltung: Die Zeitgenossen GmbH, Stuttgart

Umschlagfoto: Kaique Rocha/pexels.com

Tagebuch John Perry

Die Kopfschmerzen machen mich wahnsinnig. Seit Wochen schlafe ich kaum noch. Katja geht es nicht besser. Auch sie wacht jede Nacht zehnmal auf. Oft liegen wir nebeneinander. Ich höre, dass sie wach ist. Wenn sie schläft, höre ich ihr gleichmäßiges Atmen oder auch ein leises Schnarchen.

Bei mir ist es einfach, ich bin ein lauter Schnarcher. Manchmal, wenn ich merke, dass Katja wach neben mir liegt, suche ich ihre Hand. In guten Nächten erwidert sie meinen Griff, in schlechten, so wie heute, liegt ihre Hand flach auf der Matratze und meine Finger streichen in einem monotonen Bewegungsmuster über ihre Knöchel.

Ich bin voller Furcht vor dem Leben. Ich bin voller Furcht, dass sie anfangen könnte zu weinen. Ist es meine Aufgabe, stark zu sein? Sie aufzufangen in ihrem Schmerz, auch wenn mein eigener mich hilflos und angreifbar gemacht hat.

Es ist zwanzig vor drei. Ich bin aufgestanden. Ich trinke ein oder zwei oder drei Whiskey. Wie so oft, wenn nachts die Gespenster nach mir greifen. Meistens schlafe ich danach wieder ein. Es ist eigentlich kein Schlaf – es ist eher eine Art Bewusstlosigkeit.

Wenn ich mich nicht ablenken kann – in der Nacht, beim Autofahren oder in einem stillen Augenblick vor meinem Computer, sehe ich Alinas zartes Gesicht vor mir. Sie blickt ernst herüber aus dem Dunkeln ihrer Welt. Ich sehe ihre weit aufgerissenen Augen vor mir, den Mund, der mich ruft in ihrer Not: ‚Papa! Papa! Es tut weh!’ Ich kann es nicht ertragen, dass dies oder etwas Ähnliches ihr letzter Gedanke an diese Welt gewesen sein soll. Und ich war nicht in der Nähe, um ihr zu helfen.

Ich schwitze, als säße ich in dicker Winterkleidung in einem überheizten Zimmer. Ich habe die Decke vorsichtig zurückgeschlagen. Katja hatte wieder gleichmäßig geatmet. Ich gehe an den Kühlschrank und hole die Flasche heraus. Ich gieße den Whiskey in ein Wasserglas. Früher hätte ich mir die Mühe gemacht, aus der Glasvitrine ein Whiskeyglas zu holen. Den ersten kippe ich in einem Zug hinunter. Er läuft direkt in die Speiseröhre, ohne dass ich seinen Geschmack wahrnehme. Ich gieße einen zweiten ein, wieder einen doppelten. Aus dem Eisfach hole ich zwei Eiswürfel – sie klingeln leise, als sie in das Glas fallen.

Mit dem Glas in der Hand und der Flasche in der anderen gehe ich ins Wohnzimmer. Ohne darüber nachzudenken, schalte ich das Fernsehgerät ein. Erstes Programm, zweites Programm, beim Nachrichtenkanal bleibe ich hängen. Es läuft eine dieser dummen Reportagen, die stets ein wenig Verschwörungstheorie hinzumischen. Es geht um den amerikanischen Geheimdienst und darum, dass wir alle überwacht werden.

Wenn wir alle wirklich überwacht werden, warum kennt man dann das Schwein nicht, dass unsere Tochter vergewaltigt und getötet hat? Ich schalte weiter. Irgendwas über das Universum, über Dunkle Materie und Dunkle Energie, über die gekrümmte Raumzeit, die Albert Einstein einst vorausgesehen hat. Ich habe Jahre gebraucht, bevor ich seine Relativitätstheorie auch nur halbwegs verstanden hatte.

Das zweite Glas war auch geleert. Aus meinen Augen rinnen Tränen. Ich habe soviel geweint in den vergangenen Wochen, dass ich das Gefühl hatte, es blieben keine Tränen mehr für den Rest meiner Tage. Wie lange muss ich dieses Leben noch ertragen, wie lange kann ich es ertragen?

Ich habe mir so oft überlegt, mein Leben zu beenden. Off. Dunkelheit. Erlösung. Freiheit. Dann habe ich an unseren Simon gedacht. Er hatte seinen Schmerz herausgeschrien, hatte tagelang geweint und gegen sein Schicksal des zurückgelassenen kleinen Bruders rebelliert. Er hatte getobt und war schließlich krank geworden. Er hatte drei Tage lang hohes Fieber bekommen. Die Sorge um seine Gesundheit hatte mich vom eigenen Schmerz abgelenkt.

Als das Fieber vorüber war, begann er am Morgen danach mit großem Appetit zu frühstücken. Ich bereitete ihm ein amerikanisches Frühstück – Pancakes mit Schokocreme, kross gebratenem Speck, mit Spiegelei und Kakao. Er schlang es hinunter, als hätte er einen ganzen Tag Bäume gefällt. Dann hatte er lachend lustige Begebenheiten erzählt, die er und wir mit Alina geteilt hatten. Katja und ich hörten ihm erstaunt zu. In unseren Augen standen Tränen – eine Mischung aus Liebe und Schmerz.

Simon war durch seinen Schmerz hindurchgegangen. Er hatte ihn ertragen und bekämpft, schließlich hatte ihn der Kummer mit hohem Fieber überwältigt. Meine Mutter sagte früher, wenn ich Fieber hatte, dass ich etwas ausbrüte. Als Simon so vor uns saß und gewillt war, seine Schwester in bester Erinnerung zu halten, hatte ich verstanden, was meine Mutter mit ‚ausbrüten‘ meinte.

Simon ist unser Lichtblick in einer dunklen Welt. Er ist der Starke in unserer kleinen Familie. Er zeigt uns den einzigen Weg aus dieser Hölle.

Ich gieße mir den dritten Whiskey ein und lege mich aufs Sofa. Ich höre dem Sprecher im Fernsehen zu – er führt mich in die Weiten ferner Galaxien. Bist du dort irgendwo, Alina. Bist du bei Gott?

Ich merke, dass mich langsam der Schlaf erlöst. Morgen werde ich wieder Kopfschmerzen haben – vom Mangel an Schlaf, vom Whiskey und vom Schmerz.

Weser-Bote, Ausgabe Montag, 8. Juni 2015

Am Wochenende hat die Polizei mit einem Großaufgebot an Personal, Technik und Hunden das Wohn- und Kleingartengebiet nahe der Wohnung der seit drei Tagen vermissten Alina durchsucht. Zeugen wollen die Dreizehnjährige am Tag ihres Verschwindens an der Coburger Straße in Begleitung eines Mannes gesehen haben.

Die Polizei betrat hunderte Grundstücke und sprach mit mit vielen Anwohnern und Gartenbesitzern. Dabei habe man etliche Hinweise auf den möglichen Verbleib des Mädchens erhalten. Die Polizei wird diesen Aussagen in den kommenden Tagen nachgehen.

Das Mädchen sieht für ihr Alter deutlich jünger aus. Sie ist einen Meter zwölf groß und von zierlicher Gestalt. Sie hat lange, wellige dunkelblonde Haare. Als sie die elterliche Wohnung verließ, war sie bekleidet mit einem hellblauen T-Shirt, einer schwarzweißen Jacke, einer kurzen Jeans und weißblauen Sportschuhen.

Der Mann, in dessen Begleitung man das Mädchen gesehen haben will, wird wie folgt beschrieben: zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, etwa einen Meter siebzig groß, kurze dunkle Haare. Der Mann soll dunkel gekleidet gewesen sein. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.

*

„Das ist das Phantombild nach den Angaben der Zeugin Walter und dies nach denen des Zeugen Rotemund“, sagte Grabert.

Er hatte die beiden Ausdrucke auf den Schreibtisch vor Sabrina Hamm gelegt. Sie war Erste Kriminalhauptkommissarin im Präsidium Bremen, Grabert war Mitarbeiter ihres Teams. Sabrina Hamm war seit einigen Monaten seine Chefin im Dezernat für Gewaltverbrechen.

„Die Bilder sind sich gar nicht so unähnlich.“

„Der ist eher zwanzig als fünfundzwanzig.“

„Wenn man nach den Zeichnungen geht“, entgegnete sie, „die beiden Zeugen haben das Alter ja selbst angegeben.“

„Was tun wir jetzt?“

„Wir geben beide Bilder gleich an die Presse. Wir suchen ihn als Zeugen. Sorg' dafür, dass sie sofort online gestellt werden und schick' sie ans Fernsehen, mit der Bitte um baldige Veröffentlichung.“

Grabert legte beide Bilder vor sich auf ihren Schreibtisch. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und stützte sich auf die Knöchel über die Zeichnungen. Er atmete mehrere Male tief ein und aus, während er die Bilder abwechselnd betrachtete.

„An was denkst du?“, fragte Sabrina Hamm.

„Was das für ein Geselle ist – ob das Mädchen noch lebt. Vielleicht hat er ja nichts mit der Sache zu tun.“

„Der Mann ist jung, vielleicht jünger als die Leute angegeben haben. Vielleicht ist sie auch mit einem älteren Schulkameraden durchgebrannt.“

Grabert nickte: „Das heißt, ich sollte mit den Bildern mal zu der Schule des Mädchens fahren und mit ein paar Lehrern und Kindern sprechen?“

„Hatte ich noch gar nicht dran gedacht – gute Idee. Vielleicht nimmst du Carola mit.“

Carola, war Carola Menge, Kriminalkommissarin, dreißig Jahre alt, unverheiratet. Sie war eine temperamentvolle Frau, die gern und viel redete. Ihr gut gelauntes Wesen, war eine Bereicherung für das Team. Sie war schon lange dabei. Nach dem Studium an der Hochschule für den gehobenen Dienst, hatte sie der Vorgänger Sabrina Hamms, Sebastian Rotberg, in sein Team geholt. Damals war das Dezernat für Gewaltverbrechen eine reine Männergesellschaft. Carola Menge hatte sich schnell beliebt und unentbehrlich gemacht.

„Okay, ich suche sie“, antwortete Grabert.

„Dann mache ich die Sachen für die Presse fertig.“

Tagebuch John Perry, 12. Juni 2015

In der Zeitung und im Fernsehen wurden heute zwei Phantombilder vorgestellt. Sie sollen den Mann zeigen, der zuletzt mit Alina gesehen wurde. Zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre soll er alt sein. Auf den Bildern sieht er jung aus – fast jünger als zwanzig.

 

Ich habe mir die Bilder an unsere Magnettafel in der Küche gehängt. Ich sitze seit einer Stunde auf dem Stuhl und starre diesem Menschen in die Augen. Ich habe die Phantasie, ich könnte ihn durch die Kraft meiner Gedanken dazu bringen, sich der Polizei zu stellen und uns Alina zurückbringen.

Katja liegt bereits im Bett. Wahrscheinlich schläft sie nicht. Unser Hausarzt Dr. Bender hat ihr Tabletten zur Beruhigung und zum Schlafen verschrieben. Sie schläft schnell ein, wacht aber meistens bald wieder auf. Man kann es nicht Schlaf nennen, unseren Aufenthalt im Bett. Was Katja an Medikamenten einnimmt, gieße ich an Alkohol hinunter. Die ersten Tage habe ich literweise Bier getrunken. Das führte dazu, dass ich oft aufwachte, weil ich auf die Toilette musste. Ich bin dann umgestiegen auf Hochprozentiges – wenig Flüssigkeit, viel Alkohol.

Vor mir auf dem Tisch stehen eine Flasche mit weißem Rum, eine Dose Cola und ein Glas mit einer Flüssigkeit, die aussieht wie verdünnte Cola. In Wahrheit ist es leicht mit Cola verdünnter Rum. Havanna Club, drei Jahre gelagert. Ich hatte ihn einmal als Sonderangebot gekauft. Beim Öffnen nahm ich sein besonderes Aroma in mich auf. Ich kaufe ihn mir ab und zu. Katja und ich liebten Cocktails und ich mischte uns immer wieder andere mit diesem Rum.

Jetzt hatte ich keine Lust mehr, mich mit solchen Feinheiten abzugeben. Ein wenig Cola in den Rum ist alles, was ich will. Der Tisch klebte von der Cola, er war voller Ränder vom Glas, der Flasche und den Cola-Dosen. Ich werde ihn nachher abwischen, damit Katja sich nicht ärgert.

Wer ist dieser Typ. Hat er etwas mit Alinas Verschwinden zu tun? Ist sie ihm freiwillig gefolgt? In der Zeitung steht nichts von Gewalt. Man hätte sie gemeinsam nebeneinander gehen gesehen.

Kennst du ihn, Alinchen? Ist er dein Freund? Bist du mit ihm durchgebrannt und lebst mit ihm deine frühe Sehnsucht nach einem Mann aus? Seid ihr in einem dieser unzähligen Gartenhäuser – ganz dicht dran an uns?

Du weißt, dass du uns Angst machst. Du würdest das nicht tun, oder doch? Würdest du einfach wegbleiben, ohne uns ein Lebenszeichen zu geben?

Wer ist dieser Kerl? Bist du so gut zu unserer kleinen Tochter, wie sie es verdient? Bist du in sie verliebt oder bist du ein brutaler Verbrecher?

Ich schütte das Glas in mich hinein und mische mir ein neues. Ich erwische mich bei Gesprächen, die ich an die beiden Bilder richte. Ich stelle mich vor die Zeitungsschnipsel. Ich werde dich suchen, du Arschloch. Du bist der Ältere von euch beiden, du müsstest wissen, was sich gehört. Ich werde dich eingehend befragen! Ich werde dich ohrfeigen, bis du mir sagst, wo meine kleine Alina ist. Ich merke, dass meine Zunge zu schwerfällig wird, um richtig zu artikulieren.

Es macht mir Mühe, die Küche in Ordnung zu bringen. Egal. Ich werde mein Tagebuch für heute schließen und mich im Wohnzimmer aufs Sofa legen. Ich fürchte mich vor Katjas Tränen.

*

„Der Vater der Kleinen sucht den Mann, mit dem seine Tochter zuletzt gesehen wurde auf eigene Faust“, sagte Welters.

Jonas Welters war das neueste Mitglied im Team. Als Sabrina Hamm die Leitung des Dezernats für Gewaltverbrechen übernommen hatte, nahm er die frei gewordene Position ein. Er war unverheiratet und verbrachte deshalb sehr viel Zeit im Präsidium. Seine Stärke war, dass er in schwierigen Fällen die festgestellten Spuren immer wieder analysierte und Aussagen sowie Protokolle wieder und wieder las. Immer wieder stieß er dabei auf Details, die in älteren Fällen übersehen worden waren. Er hatte als Jüngster im Team die größte Affinität zu den neuen Medien.

„Was tut er?“, fragte Sabrina Hamm.

„Er fragt in der Schule rum und in dem Gartengebiet, in dem wir auch suchen.“

„Woher weißt du das?“

„Der Schulleiter hat mich angerufen. Herr Perry machte auf ihn einen verwirrten Eindruck.“

„Na ja, wenn es deine Tochter wäre, würdest du wahrscheinlich denselben Eindruck auf deine Mitmenschen machen“, sagte Carola Menge.

„Das ist möglich, aber was ist hiermit“, antwortete Welters und deutete mit beiden Händen auf seinen Monitor.

Seine beiden Kolleginnen traten hinter seinen Stuhl und blickten auf das Bild des gesuchten Mädchens. Das Foto stand auf einer Facebook-Seite, die offensichtlich der Vater angelegt hatte. Die Seite hieß ‚Wo ist Alina?‘. Welters scrollte ein wenig hinunter. Dort waren die Bilder des gesuchten Mannes eingefügt. Es sah aus, wie ein offizielles Fahndungsplakat. ‚Gesucht‘ stand über den Bildern, darunter stand, dass fünftausend Euro Belohnung an die Person gezahlt würden, die entscheidende Hinweise geben würde.

„Aber das ist nicht das Schlimmste“, sagte Welters und umkreiste mit dem Cursor den kleinen Text.

Die Frauen traten näher an den Monitor.

„Ich bin dankbar für alle Hinweise. Schickt mir eine PN“, las Sabrina Hamm laut: „Was ist eine PN?“

„Eine private Nachricht über die Mitteilungsfunktion. Das ist genau das, was uns Sorgen machen sollte“, sagte Welters, „er fordert nicht dazu auf, sich an die Polizei zu wenden, er will das allein tun.“

„Hat er einen Waffenschein?“, fragte Sabrina Hamm.

„Nein. Das heißt natürlich nicht, dass er auch keine Waffe hat“, antwortete Welters.

„Wir fahren da hin, Jonas“, sagte sie.

*

„Guten Tag. Frau Perry? Katja Perry?“

Vor Sabrina Hamm stand eine sehr zierliche Frau, ihre Augen wirkten traurig und übermüdet. Hätte sie das Alter von Katja Perry nicht schon in der Akte gelesen, hätte sie die Mutter des vermissten Mädchens auf weniger als dreißig geschätzt – zehn Jahre jünger als sie war. Jetzt verstand sie auch, warum die Tochter so viel jünger wirkte als dreizehn Jahre.

„Ja.“

„Frau Perry, mein Name ist Hamm, das mein Kollege Welters. Wir sind von der Kriminalpolizei.“

Sie hielt der Frau ihren Dienstausweis hin. Sie ließ die beiden Polizisten ins Haus, ohne den Ausweis zu betrachten. Sie schloss die Haustür und blieb angelehnt stehen. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken, den Blick hielt sie gesenkt. Sabrina Hamm und Welters standen stumm im Flur und warteten auf eine Reaktion von ihr.

„Ich habe schreckliche Angst vor dem, was Sie sagen werden“, sagte sie leise mit zitternder Stimme.

Sabrina Hamm ging auf die Frau zu und legte ihr vorsichtig die Hand auf den Oberarm.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Perry. Wir wollen Ihnen nur einige Fragen stellen.“

„Ich mache mir aber Sorgen – jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment.“

„Das kann ich mir denken“, Sabrina Hamm überlegte, wie sie beginnen sollte: „Frau Perry, wie Sie wissen, arbeitet die Polizei fieberhaft daran, Ihre Tochter zu finden. Herr Welters und ich sind seit zwei Tagen zu der Suche hinzugezogen worden.“

„Sie haben einen Mann, der mit Alina gesehen wurde ...?

„Nein, wir haben Phantombilder nach den Aussagen von Zeugen angefertigt. Wir wissen nicht, ob diese Person wirklich mit Ihrer Tochter gesehen wurde. Wissen Sie, Menschen erinnern sich erstaunlich schlecht. Wir gehen der Sache intensiv nach.“

„Was wollen Sie fragen?“

Sabrina Hamm rief auf ihrem Smartphone die Facebook-Seite ‚Wo ist Alina?‘ auf und reichte der Mutter das Telefon.

„Das haben Sie ins Internet gestellt, oder?“

Katja Perry sah auf das Display und strich mit dem Finger auf dem Display. Sie betrachtete die Seite.

„Nein“, antwortete sie und gab das Smartphone zurück, „vielleicht mein Mann. Er ist viel auf Facebook.“

„Ist Ihr Mann da?“

„Nein.“

„Ist er bei der Arbeit?“

„Nein, er ist krankgeschrieben.“

„Wissen Sie, wo er ist oder wann er zurückkommt?“

„Ich glaube, er versucht irgendwas zu tun – wahrscheinlich läuft er rum und sucht unsere Tochter. Er hat Zettel gemacht, die er überall aufhängen wollte.“

Sabrina Hamm tauschte einen Blick mit Welters.

Tagebuch John Perry, 14. Juni 2015

Eben waren zwei Polizeibeamte hier. Katja sagte, dass sie heute schon mal nach mir gefragt hatten. Ich habe die beiden noch nicht gesehen. Die Polizei wollte wissen, ob es stimmt, dass ich nach diesem Mann suche. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nach unserer Tochter suche. Die Polizistin hat mir nicht geglaubt, das habe ich ihr angesehen.

Sie hat mir angesehen, dass ich mutlos bin. Ich bin es, weil ich fürchte, dass Alina nicht mehr lebt. Ich kann unmöglich mit Katja über meine Ängste sprechen. Sie hat dieselben Ängste, aber sie spricht nicht mit mir darüber. Sie hat mir geglaubt, als ich ihr sagte, dass ich nach Alina suche.

Ich bin hin und her gerissen zwischen dem Wunsch Alina in meine Arme zu schließen und meinem Zorn auf diesen Mann. Ich will ihn finden und ich will von ihm wissen, wohin er Alina gebracht hat.

*

„Bist du der Vater von dem vermissten Mädchen?“

Perry zögerte. Am anderen Ende der Leitung war die energiegeladene Stimme eines jungen Mädchens.

„Kennen wir uns?“

„Ich kenne dich.“

„Woher?“

„Du warst in der Schule.“

„Bist du dort Schülerin?“

„Ist ja erst mal egal.“

Perry war verärgert darüber, dass sie mit ihm sprach, als sei er ihr Facebook-Kumpel.

„Was möchtest du?“

„Ich will mir die fünftausend Euro verdienen.“

Er schwieg. War das eine Falle? Von wem? Von der Presse oder der Polizei?

„Treffen wir uns morgen?“, fragte sie.

„Wann? Wo?“

„Morgen um drei an den Stadtmusikanten.“

„Okay“, antwortete er abwesend.

Wer war das Mädchen. Wahrscheinlich hatte sie zwischen den Schülern auf dem Schulhof gestanden. Er würde sie nicht erkennen, aber sie ihn. Ihre Stimme klang ein wenig älter als die von Alina – sie war vielleicht schon sechzehn.

Was hatte sie für einen Plan im Kopf? Oder kannte sie den Typen von den Phantombildern?

Leonie

Am nächsten Tag blieb er mit einigem Abstand vom Rathaus vor der Kirche Unser Lieben Frauen stehen. Er beobachtete die Menschen, die vor der Figurengruppe der Bremer Stadtmusikanten, die Gerhard Marcks in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geschaffen hatte, stehen blieben. Die einen betrachteten die berühmten Märchenfiguren, andere fotografierten sie oder machten mit dem Smartphone ein Bild von sich und dem Kunstwerk.

Um Punkt drei Uhr beobachtete er eine zierliche weibliche Gestalt, die dicht vor der Skulptur auf und ab ging. Sie war auf jeden Fall ein oder zwei Jahre älter als Alina. War sie die Anruferin? Er blickte sich noch einmal um, ob sich noch ein anderes Mädchen näherte. Schließlich ging er auf sie zu.

„Haben wir gestern telefoniert?“, sprach er sie an.

Vor ihm stand ein hübsches junges Mädchen mit dichtem schwarzbraunem Haar. Ihre Augen waren dunkel, beinahe schwarz. War sie eine Deutsche? Sie schien etwas älter als Alina zu sein.

„Herr Perry?“, fragte sie.

„Sind wir jetzt doch beim Sie?“

„Von mir aus nicht. Wenn du mir deinen Namen sagst.“

„Wie ist denn deiner?“

Sie sah ihn mit herausforderndem Blick an. Irgendwas in ihrer Art ließ ihn glauben, dass sie älter sein könnte als sechzehn. Ihre Figur war jedoch zierlich – dünne Beine, die Hüfte, wie die eines Knaben, kaum erkennbare Brüste, die Haut war jugendlich und glatt. Sie hatte auf ihn eine stärkere Wirkung, als sie in ihrem Alter haben sollte. Perry wich ihrem Blick aus und sah sich um, als fürchtete er, man könne sie beobachten.

„Leonie.“

„John.“

„Heißt du echt so?“

„Natürlich, warum sollte ich dich belügen.“

„Heißt du wirklich Leonie?“

„Ja.“

„Wie alt bist du?“, fragte er.

„Älter als ich aussehe.“

Perry machte einen genervten Gesichtsausdruck: „Spielen wir oder wollen wir uns normal unterhalten?“

„Zwanzig“, lenkte sie ein.

Perry sah sie verblüfft an: „Ne, oder?“

„Wie gesagt, ich werde immer für jünger gehalten.“

Jetzt betrachtete er sie eindringlich. Hatte sein Gefühl ihn doch nicht getrogen.

„Setzen wir uns irgendwo hin? Auf eine Cola?“

 

Sie wandte sich ab und ging in Richtung Marktplatz. Er folgte ihr. Sie ging geradewegs auf einen freien Tisch zu, der vor einem Café stand. Sie setzten sich.

„Also?“, forderte er sie auf, ihm ihren Plan zu erzählen.

Eine Kellnerin trat an den Tisch.

„Einen Pinot Grigio“, sagte sie zur Bedienung.

Die sah das junge Mädchen an und zog ungläubig die Stirn kraus, als habe sie eine seltsame Erscheinung gehabt und blickte zu Perry, den sie vermutlich für den Vater hielt. Ohne Aufforderung zog Leonie ihren Ausweis aus der Gürteltasche und hielt ihn der Bedienung zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hin, ohne sie anzusehen.

Die Kellnerin warf einen Blick auf das Geburtsdatum.

„Entschuldigung, Sie sehen viel jünger aus.“

Leonie steckte den Ausweis ein, ohne die Bedienung angesehen zu haben. Perry bestellte eine Cola, die Bedienung ging.

„Das wollte ich dir zeigen“, sagte sie.

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und stützte das Kinn auf einen Daumen. Er blickte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Er dachte nach. Sie ließ ihm die Zeit.

„Ich hoffe, du denkst jetzt nicht daran, als Lockvogel aufzutreten.“

„Du siehst doch, dass es funktioniert.“

„Leonie, ich weiß nicht, wie es meiner Tochter geht. Gott gebe, dass sie noch lebt. Alina sieht, so wie du, jünger aus. Sie ist dreizehn, sieht aber aus wie ein Kind. Du siehst aus wie fünfzehn oder sechzehn, nicht wie ein Kind. Wenn es diesen Mann gibt und er hatte ein Auge auf meine Alina geworfen, dann sah er in ihr das Kind, nicht die Jugendliche“, er sah sie eindringlich an, „ein Mann ohne Selbstbewusstsein!“

Die Kellnerin stellte Wein und Cola auf den Tisch.

Leonie sah die Kellnerin mit ihren großen Augen an und sprach mit kindlicher Stimmlage: „Wein. Darf ich wirklich? Das ist sooo cool!“

Die Kellnerin sah sie verblüfft an, schüttelte den Kopf und ging. Perry grinste.

„Wie stellst du dir das vor? Selbst wenn du zwanzig bist, kommst du gegen einen jungen, kräftigen Mann nicht an.“

„Kommt drauf an ...“

„Kommt auf was an?“, fragte er in gereiztem Ton.

„Ob ich etwas habe, mit dem ich mich wehren könnte.“

„Zum Beispiel eine Waffe?“

Er hatte sich zu ihr über den Tisch gebeugt – sein Ton war immer noch gereizt.

„Zum Beispiel ...“

Damit hatte er nicht gerechnet. Mit einem Ruck lehnte er sich wieder zurück. Seine Füße setzte er auf die Zehenspitzen und begann rhythmisch auf und ab zu federn. Er sah sich um, als hätte er Angst, es könnte sie jemand belauscht haben.

„Was sagst du da?“

Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Wein. Er war kühl und fruchtig – ein wenig Süße, ein wenig Säure. Sie spürte, wie die Säure ihre Wangenmuskulatur zusammenzog und setzte das Glas ab.

„Ich weiß nicht, was das für in Kerl ist, mit dem deine Tochter mitgegangen ist ...“

Sie sah ihn an.

„... und du weißt schließlich nicht, ob ... wie es ihr geht.“

Perry hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet, als müsse er verhindern, dass er auseinanderfiele.

„Ob sie noch lebt, wolltest du sagen.“

Leonie schwieg.

„Wer beschützt mich, falls er auftaucht.“

Er sah sie an und wippte auf den Fußspitzen.

„An was denkst du? Tränengas? Einen Elektroschocker?“

Er machte eine Pause und sah sie mit einem ironischen Grinsen an.

„Oder willst du eine Pistole? Ihn abknallen?“

Leonie hatte die Beine unter den Tisch gestreckt und die Füße überschlagen. Ihre Hände lagen gefaltet auf ihrem Bauch. Dass sie angespannt war, drückten ihre Daumen aus, die sie hektisch aneinander rieb.

„Okay“, sagte sie schließlich und stand auf. Ihre Stimme klang gekränkt: „Ich dachte, es sei eine gute Idee. Ich dachte, es nützt uns beiden.“

Perry erhob sich und tippte ihr mit den Fingerspitzen auf die Schulter.

„Setz dich! Bitte! Gib mir wenigstens die Zeit über deinen Vorschlag nachzudenken.“

„Ich habe mich geirrt.“

„Setz dich, Leonie! Bitte.“

Sie sah ihn mit einem aufsässigen Blick an. Er wies mit der flachen Hand auf ihren Stuhl. Sie nahm Platz. Beide schwiegen. Perry setzte sich aufrecht an den Tisch und legte die Hände aufeinander, so als habe ein strenger Vater ihn aufgefordert ordentlich zu sitzen. Sie sah, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Schließlich liefen sie über und zwei Rinnsale liefen über seine Wangen hinab und tropften auf seine Hand.

„Schmeckt der Wein?“

Wortlos schob sie ihm das Glas hin. Er nippte daran und spürte dem Geschmack nach.

„Nimmst du noch einen?“, fragte er.

„Okay.“

Perry suchte den Blick der Kellnerin und hob die Hand. Sie kam an den Tisch und er bestellte.

„Bitte noch mal zwei Pinot Grigio für meine Tochter und mich.“

Leonie grinste. Perry wischte mit dem Finger die Feuchtigkeit aus den Augen.

„Sorry“, sagte er.

„Wofür?“

„Ich vermisse Alina und ich habe schreckliche Angst, dass sie tot sein könnte. Ich glaube, dass meine Frau genau dasselbe denkt, aber sie möchte es noch weniger an sich heranlassen als ich. Ich sitze oft in der Küche und trinke Alkohol, bis ich mich nicht mehr wachhalten kann. Das, was dann folgt, ist mehr Ohnmacht als Schlaf.“

Er drehte das Weinglas auf dem Tisch zwischen den Fingern. Gedankenverloren tauchte er den Zeigefinger hinein und strich damit über den Glasrand. Er lauschte dem feinen Klang einen Moment.

„Wenn ich wach werde, denke ich daran, ob Alina noch lebt. Die Angst, sie könnte tot sein, ist meistens größer als die Zuversicht, sie würde noch leben und bald zurückkehren. Ich klammere mich an den Gedanken, dass sie mit diesem Mann durchgebrannt ist, dass sie sich in einen viel älteren Kerl verliebt haben könnte. Aber wie von selbst kehrt die Panik zurück. Ich fürchte, es könne ihr schlecht gehen, dass sie zu ... Dingen gezwungen wird, die sie nicht will.“

Wieder wurden seine Augen feucht. Er kippte das halbe Glas Wein hinunter, als er sah, dass die Bedienung mit den neuen kam. Er wartete, bis sie gegangen war.

„Am Ende dieser Gedankenkette steht immer die schreckliche Vorstellung, was der letzte Gedanke in ihrem kurzen Leben war. Ein Gedanke an uns? Und wir waren nicht da.“

Leonie hielt ihm ihr Glas entgegen. Er stieß mit ihr an.

„Darauf, dass wir Alina finden.“

„Willst du echt eine Pistole haben?“

„Ich will ja nicht schießen, ich will sie nur, damit ich mich sicher fühle, falls es brenzlig wird.“

„Schreckschuss?“

„Nein. Wenn ich irgendwo hin schieße, soll er sehen, dass eine Kugel einschlägt. Er muss fürchten, dass er der die nächste abbekommt.“

„Das ist verboten!“, sagte er eindringlich.

„Dreizehnjährige Mädchen verschleppen ist auch verboten.“

„Die Polizei war gestern bei uns. Sie haben meinen Aufruf bei Facebook gesehen und mich aufgefordert, nichts auf eigene Faust zu unternehmen und meine ausgesetzte Belohnung zurückzuziehen.“

„Dann hätten wir jetzt keinen Plan“, sagte Leonie: „Einen Plan haben ist besser als keinen Plan haben.“

Aus dem Munde einer so jung aussehenden Frau, hörte es sich fast altklug an.

„Du hast recht. Darum habe ich das auch gemacht mit der Belohnung. Ich kann nicht die ganze Zeit zu Hause rumsitzen und grübeln und trinken. Ich wollte etwas tun. Aber ich nehme die Belohnung jetzt aus dem Internet – nur damit sie mich nicht überwachen.“

Er lehnte sich im Stuhl zurück und sah nachdenklich den geschäftigen Menschen zu, wie sie achtlos an ihm vorbeigingen. Leonie merkte, dass er noch etwas sagen wollte und schwieg.

Er beugte sich über den Tisch und sprach leise zu ihr: „Ich habe auch an eine Pistole gedacht. Ich habe mir vorgestellt, wie ich ihn mit der Waffe zum Reden bringe. Wie ich ihm erst in den einen, dann in den anderen Fuß schieße. Wenn er dann noch nicht reden würde, wären die Knie dran – peng, peng. Und wenn er vor Schmerzen wimmernd, gefesselt auf einem Stuhl säße und mir gestände, wo er meine kleine Alina verscharrt hat, würde ich ihm die Pistole auf die Stirn setzen und mit Genugtuung seine Angst betrachten. Ich würde zusehen, wie er sich vollpisst. Und wenn der letzte Tropfen seinen widerwärtigen Schwanz verlassen hätte, würde ich abdrücken. Ich würde zusehen, wie sein Hinterkopf explodiert und sein Hirn an die Wand hinter ihm spritzt.“