Der rote Baum

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Der rote Baum
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Thomas ist nach Jahren in Afrika in einem der großen europäischen Zoos gelandet. Bruchgelandet, wie er findet: als ‚beratender Experte‘. Jetzt bietet man ihm an, in neuer Funktion an den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Er weiß nicht recht. Er läßt seine die afrikanischen Jahre Revue passieren, die Antilopen, die er zusammen mit Susanne, seiner Frau untersucht hat, Maud, mit der sie zusammenlebt haben, die von ihr untersuchten Löwen und Hyänenhunde, die ganze tierische und menschliche Fauna, die ihnen begegnet ist… Vieles, sehr vieles hat sich inzwischen verändert. Soll und will er, will vor allem Susanne wirklich wieder dorthin gehen?



Peter Kunkel, Zoologe, hat über Verhalten von Vögeln und Ökologie von tropischen Wäldern gearbeitet, darunter zehn Jahre im Ostkongo, und war für die EU-Kommission als Experte für Vogel- und Habitat-schutz in Brüssel tätig.




ISBN 978-3-7375-5436-7



Copyright © Peter Kunkel 2010



Umschlagbild : Oribibock. Zeichnung 2010 © Regula Kunkel



Herstellung und Verlag : epubli GmbH. Berlin,

www.epubli.de





Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek





Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation



in der Deutschen Nationalbibliografie;



detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de



abrufbar




Inhalt







Thomas – Zoo oder Steppe







Mauds Zeit







Susannes Zeit







Diplomatisches Intermezzo







Dreimannertage







Thomas – das große Nein







Nachwort






Toutes ces petites observations qui


dégénèrent en étude ne conviennent


point à l'homme raisonnable qui veut


donner à son corps un exercice modéré,


ou délaisser son esprit à la promenade


en s'entretenant avec ses amis.



Jean-Jacques Rousseau,


Julie ou la Nouvelle Héloïse


Quatrième partie, lettre XI





Thomas : Zoo oder Steppe



1



Die großen Tiere vor dem Untergang bewahren und zugleich den Menschen lassen, was sie als ihr Recht, vielleicht sogar als ein Stück ihrer Würde ansehen, das ist schwierig, Herr Ministerialrat. Dafür hat bis jetzt noch niemand ein wirkliches Rezept gefunden. Das ist unmöglich. Das geht nicht, Herr Ministerialrat. Soviel wenigstens glaube ich in Afrika gelernt zu haben.



Ich weiß, Herr Ministerialrat mit der unleserlichen Unterschrift, Sie hören das nicht gern. Keiner hört das hier gern; es ist so negativ. Wer uns wohl will, nimmt dergleichen für böse Bonmots, für prickelnde Sprüche, die uns den Zugang zu geistelnden Salons öffnen könnten, wenn es solche noch gäbe; hierzulande kultiviert man ja gern das unverbindlich-subversive Wort als Gesellschaftsspiel. Niemand hat uns bisher abnehmen wollen, daß dies ein ernsthaftes Fazit aus dem ist, was wir gesehen und erlebt haben.



Was soll mir also Ihr Brief?



Ihr Rezept ist nicht besonders originell, Herr Ministerialrat. Erhaltung der Natur, Vermehrung des Wildbestandes - immer diese Vermehrung! Ich habe nie begriffen, was diese Viehzuchtidee im Naturschutz zu suchen hat. Wollt ihr die Nationalparks so trostlos mit Tieren überfüllen, wie es inzwi-schen gleich daneben Land und Städte mit Menschen sind? Oder wenigstens waren und bald wieder sein werden? - totaler Naturschutz also, aber: unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Bedürfnisse, der Inter-essen, der Entwicklung und des Fortschritts der anrainenden Bevölkerung. Und natürlich Vorbereitung der Übernahme des Geleisteten durch natio-nale Kader. Herr Ministerialrat, mit diesem Rezept träumen Sie sich ins Abseits und den ins Elend, den Sie losschicken, etwas auf die Beine zu stellen, was diesen Seifenblasen auch nur von ferne ähnlich sieht.



Mich also, wenn's nach Ihrem Brief geht. Vom Staatspräsidenten per-sönlich angefordert, schreiben Sie. Hat nun der Staatspräsident persönlich irgendjemand angefordert, egal wen, oder hat er mich, Thomas, Thomas Eschenbach, Dr. Thomas Eschenbach, persönlich angefordert? Sie sollten sich klarer ausdrücken, Herr Ministerialrat!



Wo schicken Sie mich überhaupt hin? Gibt es nach dem Bürgerkrieg in Bungwana überhaupt noch große Tiere? Oder eine Bevölkerung, deren Interessen man berücksichtigen könnte? Ich fürchte, Herr Ministerialrat, Sie haben diese Formeln aus alten Akten abgeschrieben, aus vergilbten Stilübungen der Kindertage der Entwicklungshilfe. Oder schlimmer noch, sie sind Ihnen in ständigem Gebrauch aus jenen Tagen überkommen, heilige Formeln, die nie mehr geändert werden dürfen, bei denen sich Ihresgleichen nichts mehr denkt; nur unruhig werden Sie, wenn sie in den Akten fehlen.



Vorbereitung der Übernahme durch nationale Kader. Sehen Sie, die Bungwanesen haben schon, als wir noch dort gearbeitet haben, die Nationalparks selbst verwalten wollen. Sie haben sie schließlich auch selbst verwaltet. Und das Ergebnis? Glauben Sie bitte nicht, Herr Ministerialrat, es sei an uns abgeglitten, daß die Bungwanesen nicht aufhörten zu behaupten, ihre Würde als Volk verlange, daß sie die Parks endlich selbst in Regie nähmen, und zwar voll und ganz. Den Glanz Bungwanas und seinen einzigen Reichtum, wenigstens in den Augen der Welt. Von allen Ecken und Enden sind die Leute gekommen, fast noch in den Bürgerkrieg hinein, um die Weite dieser Wildnis zu sehen und die großen Tiere, denen sie überlassen war.



Was denn national sei an diesen Parks, habe ich bungwanesische Politiker oft genug fragen hören, solange in ihrer Verwaltung ausschließlich Ausländer säßen. Ein Spiel mit Worten, Herr Ministerialrat, ganz nach Landesart, und die Bungwanesen sind in solchen Spielen besser als wir. Die Magie des Worts ist nicht nur in ihrer Seele zu Hause, sondern ihnen auch von ihren Vorfahren überkommen, in einem ganzen philosophischen System, das die besagten Vorfahren, fürchte ich, aus dem gleichen Grund entwickelt haben, dessentwegen die Enkel nicht von ihm lassen wollen, weil nämlich Worte bequemer sind als Taten: man spricht sie aus - mit ganzer Kraft tut man das - und harrt...



Sie sehen, Herr Ministerialrat, ich bin Rassist; wenigstens spiele ich ihn gern, wie alle alten Afrikaner. Und doch bin ich vor diesem Wortspiel immer still geworden. Bungwana haben die Landeskinder ihren Staat genannt, noch ehe er unabhängig war, Land der freien Männer. Was für ein Programm! Welche Hoffnung! Und ist nicht die schiere Existenz dieses Staatsgebildes schon Unfreiheit? Ein letzter Befehl des scheidenden, scheinbar scheidenden Kolonisators an zweiundsiebzig Stämme und Stämmchen, die sich auch heute noch gegenseitig verabscheuen, verach-ten, hassen, jedenfalls nicht lieben, weniger noch als ein Lombarde die Sizilianer? Ein Befehl, 'den Tribalismus zu überwinden', eine Nation zu bilden, der nichts gemeinsam ist als die Erinnerung, zwei Generationen lang Tag für Tag auf der eigenen Erde gedemütigt worden zu sein? Was sind sie, wenn sie die Nationalparks nicht selbst in die Hand nehmen? Wieder nur Bevölkerung, menschliches Füllsel zwischen den weiten Parkflächen, rasch mit dem Safaribus hinter sich zu bringen, preiswerte Handlanger und Kulisse einer nun nicht mehr für fremde Siedler und Pflanzer, sondern für nicht minder fremde Touristen bestehenden Welt.



Und wer waren wir schließlich, daß wir uns angemaßt haben, ihnen die Parks zu verwalten? Wer hat denn vor der Kolonialzeit die großen Tiere in seinen Ländern ausgerottet? Die Afrikaner? Vielleicht haben Sie sich vor dem Bürgerkrieg einmal in Bungwana umsehen können, Herr Ministerial-rat. Wer hat vor gar nicht langer Zeit noch als Kulturtat bezeichnet, Luchs, Bär, Wolf, Auerochs und Wisent ausgerottet zu haben? Wer hat den Afrikanern all die sogenannten Bedürfnisse beigebracht, derentwegen sie jetzt mit dem ihnen Anvertrauten so umgehen, wie sie es leider tun?



Nun, sie haben die Parks bekommen. Was haben sie aus ihnen gemacht? Von den zweitausend Nashörnern des Kuravunaparks haben sie Jacques vor zwei Jahren nur noch zwölf zeigen können. Nashörner können zu Hunderten umkommen, wenn die großen Regen ausbleiben, gewiß; aber es bleiben immer noch genug übrig, um ein gutes Jahr wieder mit kleinen Nashörnern zu füllen. Im Kuravunapark sind groß und klein blindlings verarbeitet worden, lange genug, zu lange. Die Füße zu Papierkörben, die Schwanzhaare zu Amuletten für streunende Hippies und die Hörner bis zum heutigen Tag zu Pulver, das älteren Herren im östlichen, ohnehin übervölkerten Asien eine erotische Wiedergeburt vorgaukelt. Die Regen mögen fallen, wie sie wollen; ohne erwachsene Nashörner kann es auch keine jungen mehr geben. Macht es einen Unterschied, ob die neuen Verwalter der Parks an dieser Nutzung nationaler Ressourcen aktiv beteiligt waren, wie es leider den Anschein hat, oder ob sie, wie sie sicher selbst behaupten würden, unfähig gewesen sind, ihren wildernden Mitbürgern und der hinter ihnen stehenden internationalen Mafia Einhalt zu gebieten?



Was wird inzwischen aus den zwölf Nashörnern geworden sein, nach Revolution und Bürgerkrieg, wo Tausende von Dörfern um Schädel-pyramiden herum in Schutt und Asche liegen und ganze Stämme von Erdboden verschwunden sind? Vorher werden sie, halbverhungert wie sie waren, doch wohl die Tiere der Nationalparks aufgegessen haben.

 



Jetzt bestellt man also wieder Ausländer in den Hauptstädten Europas. Sogar bei uns, und wir zeigen uns wieder einmal willig, Herr Ministerial-rat, nicht wahr? Nicht wegen sogenannter wirtschaftlicher Interessen, versteht sich. Rettet die großen Tiere! Sie gehören der Welt!



Und das soll ich tun? Ausgerechnet ich?



Mir gefällt es hier, wo ich bin, Herr Ministerialrat. Wenn ich nicht die falsche Konfession hätte, wie oft hätte ich nicht schon dem Heiligen Franziskus, Schutzpatron der Tiere, eine Kerze dafür gestiftet, daß ich die Nashorn- und Elefantenschlächterei nicht aus nächster Nähe ansehen muß. Und noch eine dafür, daß ich in diesem Trauerspiel nicht auf der Verliererseite Verantwortung trage. Manchmal allerdings überkommt mich eine gewisse Unruhe um die großen Tiere. Recht oft sogar. Recht viel Unruhe sogar. Auch über Susanne kommt sie; ich sehe es wohl. Wir sprechen nie darüber; wir wissen voneinander, daß uns diese Unruhe nie verläßt. Das ist nichts Neues. Es war schon in Bungwana so. Auch dort hat uns die Unruhe nur stundenweise verlassen, nämlich wenn wir die Tiere mit unseren eigenen Augen unbehelligt durch Steppe und Savanne ziehen sahen.



2



Der Blick zum Fenster hinaus ist ungemein friedlich. Er geht über die Bäume des Zoos, deren Laub ihm auch jetzt, Mitte September, noch die Gehege darunter entzieht, hinüber zu den hundertjährigen Villen am Steilhang, der die Flußaue begrenzt. Viel zu große Häuser für unsere dienstbotenlose Zeit; längst sind sie aufgeteilt unter Wohngemeinschaften und Familien, die sich nicht mehr als zwei, drei ungemütlich hohe Zimmer ohne rechte Küche und Bad leisten können. So haben auch wir ange-fangen, als wir von Bungwana zurückkamen. Den Blick beeinträchtigt die ganze Unbequemlichkeit nicht. Fast überall verschwindet sie unter wildem Wein, und was man vom Fenster meines Büros aus sehen kann, ist eine einzige feuchtgrüne Angelegenheit mit den ersten gelben und roten Zeichen des Herbsts.



Mein Kämmerchen liegt über dem Eingang des alten Antilopenhauses. Es ist in eine der Kuppeln eingebaut, mit denen der Architekt, vielleicht derselbe, der die Protzkästen drüben am Hang auf dem Gewissen hat, den exotischen Tieren einen exotischen Rahmen hat geben wollen. Drei Wände meines Stübchens sind gewölbt; nur dem Fenster gegenüber habe ich rechts und links von der Tür zwei Bücherbretter aufstellen können. Von draußen kommt Heuduft und Geruch von Wiederkäuern herein, von den Ausdünstungen der Tiere, vom Sekret der markierenden Drüsen, von Harn und Kot. Sie sind vielleicht das Beste an dieser Unterkunft; jedenfalls bin ich dankbar dafür, daß sie mein Stübchen füllen.



Rechts vom Eingang unter mir knabbert ein Rudel Sasins an den letzten sattgrünen Augrasflecken, die ihm in dem sonst kahlen Gehege noch haben widerstehen können. Links steht ein Nilgauantilopenpaar mit Kind. Die Mutter kann ihr Mißtrauen gegen Besucher, die stehenbleiben und sie still betrachten, nicht loswerden, nicht einmal gegen mich, obwohl ich nun schon jahrelang sechsmal am Tag an ihr vorübergehe und sie mich längst als harmlos eingestuft haben müßte.



Es sind nicht die kostbarsten Tiere, die wir hier haben. Jochen, klüger als ich und also im Lande geblieben, nach Hungerjahren als Volontär und Jahren des Kampfs gegen Band- und Spulwürmer als Assistent in unserem Zoo also dessen Direktor geworden, Jochen also hat sich in den Kopf gesetzt, ein Zentrum für die Erhaltungszucht von Wüstenhuftieren in unserem Tiergarten aufzubauen, auch jener Arten, die den periodischen Dürreperioden im Sahel nicht mehr ausweichen können, weil jedes grüne Fleckchen dort von Kühen, Ziegen und Menschen überquillt. Ihm haben es besonders die Antilopen angetan, die zusammengeschossen werden, wo man mit dem Erwachen des Islam jedes europäische Denken von sich getan hat, auch den Naturschutzgedanken, versteht sich. Lange Zeit wenigstens, lange genug um die Antilopen ihrer Länder fast zum Erlöschen zu bringen.. Jochen hat nicht geruht und gerastet, bis er sein Paar Sabelantilopen hatte, eine Gruppe der eigentlich schon aus-gestorbenen Mhorrs aus der Westsahara, die ihm die Spanier allerdings gern überließen, weil ihnen ihre Zucht bereits über den Kopf wächst, hellere Damagazellen aus dem Sudan, einige Mendesantilopen, persische Kropfgazellen, dazu Korrigums und Rotstirngazellen. Sie alle sind nicht in meinem alten Antilopenhaus untergebracht, sondern erfreuen sich weiter Gehege mit schimmernden Einzelpalästen für die Nacht, durchaus notwendig, um die Tiere einzeln in Kur nehmen zu können. Sehr wüsten-artig ist unser Voralpenklima nämlich nicht. Zwei Tage Sonnenschein lassen gleich ein Gewitter aufkommen, das alles durchfeuchtet und abkühlt. Jochen ist oft in Sorge um seine Preziosen.



Ich habe gelegentlich die Ehre, ihn auf dem morgendlichen Inspektions-gang zu begleiten. Ziemlich rituell geht es da zu.



„Lassen Sie sich nicht stören, Herr Meier!"



„Haben Sie schon die Proben ins Tierhygienische geschickt, Gisela?"



Ich bestätige jedesmal, daß die Anlage großartig sei, was nicht schwerfällt - sie ist es -, und Jochen hält stets bei den rotweißen Sabelantilopen an. Die bei Antilopen recht ungewöhnliche Farbkombination fasziniert ihn. Er kann nicht umhin, vor sich hinzumurmeln:



„Delikat! Delikat! Tolle Selektion, diese Wüste!"



Nach diesem Morgengesang ist er imstande weiterzuschreiten. Die Wüste hat es ihm angetan. In die Wüste fährt er, wann immer er kann, jeden Urlaub selbstverständlich, und ich glaube, der Teufel hat ihm dort von einer Sanddüne herunter die Wüstentieranlage seines Zoos gezeigt, und Jochen hat nicht gesagt: "Hebe dich hinweg, Satanas!"



Nicht daß die Sabelantilopen eigentliche Wüstentiere wären; sie haben sich mit ihren Farben wohl eher den roten Lateritböden des Sahel angepaßt. Aber Jochen will eben, daß es die Wüste sei. Vor den wirklichen ‚Säbel‘antilopen der Wüste, den Mendesantilopen, viel kostbarer, weil es wirklich kaum noch welche gibt, hält er nie an: sie sind in schlichten Braun- und Schwarzweißtönen gezeichnet. Es mag ihn allerdings auch bedrücken, daß er noch kein Mendesweibchen hat erwerben können.



Mir gefallen die rotweißen Sabelantilopen natürlich auch, wenn die schwache Gesichtsfarbe den dunklen Augen auch etwas Kuhhaftes gibt, einen für meine Begriffe nicht antilopengemäßen Dulderblick - da lobe ich mir die bedrohlichen schwarzweißen Masken der Oryxantilopen! Reine Subjektivität natürlich und gewiß nicht intelligenter als Jochens tägliche Hymne auf die Sabelantilopen. Deren sanftäugige Böcke bearbeiten ihren Zaun nicht weniger energisch als die Oryxmänner das Buschwerk des Kuravunaparks.



Jochens Wüstentierprogramm ist reine Perfektion. Ein Ernährungsveterinär überwacht, was die Kostbarkeiten zu essen bekommen, gutes Gras und Heu und allerhand Laubwerk, die unvermeidlichen Karotten, versteht sich, geschnitzelte Runkelrüben, und was ihnen damit nicht gereicht werden kann, bekommen sie in

pellets,

 plätzchenartigen großen Tabletten, die sie mit langer Zunge und sichtlichem Genuß aus ihren Krippen fischen.



Jochen hat den Verwaltungsrat überredet, mich als Berater des Antilopen-zentrums einzustellen. Zuvor hatte ich mich eine Zeitlang als Gutachter für unser Entwicklungshilfsministerium, die FAO und andere Organisationen dieser Art versucht; aber diese Blitzstudien hatte ich schnell über: man sieht einiges von der Erde, hat aber nie genug Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, und am Ende bleibt stets das Gefühl, entweder Selbstverständliches vorgeschlagen zu haben, für das eine Bezahlung zu verlangen eine gewisse Schamlosigkeit voraussetzt, oder mit seinen Regieanweisungen regelrecht hochzustapeln. So bin ich Jochen dankbar, daß ich hier häuslich sein darf. Hier kann ich wenigstens bei Arten, die ich kenne, anständig untersuchen, wie sich das Verhalten in Gefangenschaft ändert, welche Verhaltensweisen verschwinden, welche häufiger werden, welche sich manchmal zu ausgesprochenen Fehlleistungen auswachsen, und außerdem kann ich asiatische Antilopen beobachten, die Sasins und Nilgaus unter meinem Stübchen, die kleinen Vierhornantilopen im hinteren Teil des alten Antilopenhauses und unsere Saigagruppe in ihrem Freigehege. Beschäftigung freilich mehr als Arbeit.



Von der Kunst der

pellet

komposition dagegen verstehe ich leider gar nichts. Ich bewundere sie aufrichtig. Die Pfleglinge sind offenbar nicht nur gesund, sondern auch bei gutem Temperament und bereit, sich fort-zupflanzen - was will man mehr? Mir allerdings gibt nichts so sehr das Gefühl, hier überflüssig zu sein, als diese

pellets

. Ich wünsche mir oft, wenigstens etwas gegen die Viren und Spulwürmer zu wissen, die ein Tier dem andern weiterreicht; aber sie sind für mich noch böhmischere Dörfer als Menüfragen.



Und das, obwohl wir damals im Kuravunapark immer wieder Kot für einen Veterinär gesammelt haben, der laufend neue Darmbewohner darin ent-deckte und mit ihren Beschreibungen ein wändefüllendes Lebenswerk schuf. Wir haben uns sogar eingehend mit den Speisekarten der einzelnen Antilopenarten im Kuravunapark beschäftigt; aber unserem Zooveterinär können diese endlosen Pflanzenlisten kein rechtes Interesse ablocken, auch wenn ich sie ihm mit chemischen Analysen der

pièces de résistance

 schmackhaft zu machen versuche. Das alles ließe sich nicht so recht nachmachen, meint er, und schließlich seien Wüste und Kuravunapark nicht dasselbe. Das kann ich nicht abstreiten. Sein Gesicht heitert sich auf, weil er ein so treffliches Argument gefunden hat, und er greift wieder zu seinem Rezeptbuch für Rind, Schaf und Ziege.



3



Und wieviel Geld haben wir damals nicht in diese Analysen gesteckt! Eben weil auch wir von den langen Pflanzenlisten nicht befriedigt waren, obwohl wir für manche unserer Antilopen hübsche Präferenzlisten aus-gearbeitet haben: eine Liste der ganz guten Sachen, junge Blätter, Früchte, manchmal auch Pilze, immer und überall beliebt und gesucht, eine zweite Liste immer noch guter Ware, Pflanzen und Pflanzenteile, die die Tiere in Mengen verzehren, wenn in der zweiten Hälfte der Regenzeit alles wächst, blüht und fruchtet, und schließlich eine Tabelle der Nahrung, mit denen sich die Antilopen in der Trockenzeit behelfen, die sie aber in besseren Zeiten gar nicht erst anschauen. Wir hätten gern gewußt, was diesen Vorlieben zu Grunde lag; aber mit den verhältnismäßig groben Analysen des

Food and Diet Institute

s in Moyomoyo war das nicht heraus-zubekommen. Die Verteilung von Fetten, Ölen, Proteinen und Kohlehydraten allein macht's eben nicht, zumal sie je nach dem Alter der Blätter, Blüten und Früchte in weiten Grenzen schwankt, und für die flüchtigen Geschmacksstoffe und die Textur von Halm und Blatt erklärte sich das Institut für unzuständig. Wir sollten doch mit gefangenen Tieren Experimente machen, meinten sie dort; vielleicht dachten sie an ihre menschlichen Versuchskaninchen irgendwo im Stammesland. Wir waren darauf nicht eingerichtet. Außerdem waren wir immer darauf gefaßt, von den Wildtieren fortzumüssen, und wollten zunächst einmal soviel an ihnen beobachten, wie wir nur konnten.



Wir fanden auch schon die Pflanzenlisten in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit einen Gewinn. Was sie uns an Zeit und Nerven gekostet haben, besonders am Anfang, haben wir weitgehend vergessen. Was für ein Zirkus, bis sich ein Kudu endlich hat entschließen können, den sanft anrollenden Wagen nicht minutenlang zu beäugen und dann doch plärrend abzuspringen, sondern weiterzuäsen. Oder wenigstens nach ausführlichem Geäuge zum Äsen zurückzukehren. Wie mühsam, zu erkennen, was das Tier denn nun wirklich gefressen hat. Da wird geschnuppert, mit der Zunge herumgespielt und -getastet, und man braucht lange, um sicher zu sein, ob ein Blatt zwischen den Lippen auch wirklich verschluckt worden ist. Das Fernglas zeigt das weiche Maul in allen Einzelheiten, auch die violette Zunge und die einzelnen Blättchen der Büsche; aber es nimmt die Perspektive, und wenn man sich nach Abzug der Herrschaften endlich auf den Äsungsplatz traut, ja, welche von den hinterlassenen Buschkulissen ist es nun gewesen, an der der Kudu stand? Hat man endlich die Pflanze in der Hand und ist beinah sicher, diese war es, so hebt die große Suche nach einer Blüte oder wenigstens einer Frucht an; denn ohne diese lassen sich Busch oder Staude nur selten bestimmen. Beschwingt eilt man zur Station zurück, wenn man sie gefunden hat, und dort warten lange Abende im Schein der leise vor sich hinzischenden Coleman-Lampen, über Büchern, die gleich in der ersten Regenzeit Stockflecken bekommen haben.



Oder die andere Methode: Kotbällchen sammeln, in Wasser auflösen und unterm Mikroskop betrachten, ob und welche Blatt- oder Grasoberflächen-reste man finden kann, die langestreckten Außenzellen der Grasblätter oder die runden, gelappten, kantigen anderer Blattsorten, die man sich natürlich vorher genau angesehen haben muß, um ihre Trümmer nach der Passage durch Antilopenmagen und -darm noch zuordnen zu können, in gröbsten Kategorien natürlich nur. Auch hier war Susanne unermüdlich; ich habe dieses deprimierende Geschäft bald aufgegeben. Sie hatte auch gelesen, daß man einigermaßen abschätzen kann, wieviel das Tier von was zu sich genommen hat, wenn man alle Reste in einer Kotbällchenaufschwemmung auszählt. Sie zählte und zählte – und mußte schließlich zugeben, daß die Rechnung nicht stimmen konnte, wenn sie sie mit ihren Beobachtungen am äsenden Tier verglich. Manche Blätter sind eben zart und weich und wer-den restlos verdaut; andere sind ledrig und hart, und auch wenn die Anti-lope nur wenig davon genommen hat, erscheint ihre Außenhaut fast quantitativ im Kot.

 



Wie mühsam war das alles am Anfang, wie rasch wurde es Routine, und wie wenig Geduld haben wir später aufgebracht, andere in dieses Geschäft einzuweisen. Besonders an Henry haben wir bös gesündigt.



Susanne ist über den Bestimmungsschlüsseln zur halben Botanikerin geworden. Auch für mich hat sich der graugrüne Filz um die Station in ungezählte Pflanzenindividualitäten aufgelöst. Es war unmöglich, ihn je-mals wieder als anonyme Vegetationsmasse anzusehen; hundertachtzig Gras-, Kraut- und Buscharten haben wir gleich in den ersten beiden Jahren ausgemacht. Gerade die Kudus zwangen uns, immer neue Pflanzen zu identifizieren; sie lieben Abwechslung.



Es war auch unmöglich, all diese Pflanzen anders als eßbar oder nicht eßbar, als lecker oder mäßig gut anzusehen, je nachdem welche Antilopen wir gerade untersuchten. Wir gingen durch die Steppe wie ein Pilzsucher durchs Alpenvorland, bloß daß wir selber nichts von all dem Eßbaren um uns hatten. Wir konnten unsere Tiere nur um das abwechslungsreiche Angebot beneiden, wenn unsere Vorräte wieder einmal auf zerbröckelte Spaghetti und die landweit verbreiteten rostigen Tomatenmarkbüchschen zusammengeschmolzen waren. Oder in der späten Trockenzeit schuld-bewußt zu unseren vollgefüllten Töpfen schleichen, wenn die Antilopen mit gesenktem Kopf durch die kahle Steppe zogen.



4



Zwölf Jahre lang waren wir in Bungwana, und immer am selben Ort. Unsere Untersuchungsobjekte sind fast ausschließlich Antilopen gewesen - natürlich haben wir uns nicht ausschließlich mit ihren Menüs beschäftigt, Herr Ministerialrat. Wir haben an ihnen beobachtet, was das Herz erfreut und vielleicht auch gut zu wissen ist, wenn man diese Tiere erhalten will in unserer täglich schwieriger werdenden Welt. Wir waren in Mti Mwekundu mit ihnen so beschäftigt, daß wir nie daran gedacht haben, unsere Zelte einmal woanders aufzuschlagen, und manchmal bedaure ich das.



Sitatungas zum Beispiel hätte ich für mein Leben gern eine Weile untersucht, jene Sumpfversion unserer Kudus, die sich bei Gefahr ins Wasser stürzt und nur die Nase über die Oberfläche hält. Seit einer Woche gehen sie mir wieder im Kopf herum wie eine lästige Melodie. Leuchtend weiße Streifen auf rotbraunem Fell, oder zimtfarbenem, wenn's ein Bock ist, die bleigraue Fläche des Prinzessin-Christina-Sees sehe ich vor mir, heute See der Nationalarmee genannt, das heißt, wie er jetzt heißt, wissen die Götter, See des Hasen, Hasensee vielleicht; vielleicht hat er im Augenblick überhaupt keinen Namen. Aber ich sehe ihn vor mir, und jeder beliebige Geruch verwandelt sich in die Ausdünstung der ans Ufer gespülten Laichkräuter.



Das hat man davon, wenn man sich von Susanne überreden läßt, ins Konzert zu gehen, zum Trio Schmitt, Schmidt und Schmid. Auf ihren Bassethörnern spielten sie ein liebliches Trio, von Mozart natürlich. Nicht daß es mich etwa an die Schilfflöten der Fischer am Prinzessin-Christina-See erinnert hätte, schon deshalb nicht, weil nicht genug Fliegen um die Schmidt'-schen Häupter standen; man hätte sie auch von unserer Reihe aus noch sehen müssen. Nein, ich vernahm plötzlich mitten in der graziösen Mozart'schen Melodik einen wohlbekannten Laut, einmal, zweimal, dreimal. Das gerade begleitende Bassetthorn mußte ihn von sich geben. Er riß mich aus dem Konzertsaal, weit fort. Dieser Grunz in tiefer Lage, mehr Schnaub als Ton, kurz, abrupt, obstinat, komisch, grob, ein bißchen ordinär, zu dem gehörten Flußpferdaugen und -nasen, die aus kotbrauner Brühe ragen. Ein Zug weißkehliger Kormorane streicht dicht darüber hin, und irgendwo klatschen, halb im Papyrus verborgen, weißgepunktete und -gestreifte Körper ins Wasser, die eben, die mich nicht mehr