O Jugend, o West-Berlin

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O Jugend, o West-Berlin
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Philip Meinhold

O Jugend, o West-Berlin

Reportagen, Essays, Kolumnen

DAS BUCH

Was, wenn nicht die Summe unserer Erinnerungen, macht uns aus?“ , heißt es in einem Text dieses Buchs – und Philip Meinhold erinnert sich: an eine Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren, an die Lektüre des Quelle-Katalogs und an die des „Fänger im Roggen“, vor allem aber an West-Berlin. An Eberhard Diepgen und die Deutschlandhalle, an Besuche auf der Grünen Woche und im Grips Theater, an die Junge Union und das Big Sexyland. Meinhold spürt der besonderen Atmosphäre jener Jahre nach, als Berlin noch eine Insel der Glückseligkeit war, im tosenden Meer der Zeit: „Die große weite Welt fanden wir in unserer kleinen: Unsere Promis hießen Juhnke und Mira, unsere Politiker Stobbe und Diepgen. Unsere Tagesschau war die Berliner Abendschau, und die Skandale hießen Antes und Garski. Politik wurde im Rathaus Schöneberg gemacht – zwischen Lohnsteuerkartenstelle und Standesamt.“

Doch der Autor schaut nicht nur in die Vergangenheit, er richtet den Blick auch auf das Hier und Jetzt, den fortwährenden Wandel der Stadt. Er widmet sich der heutigen Hölle der Szeneviertel und dem Boom der Touristen – nur, um sich abschließend selbst zu beruhigen: „Diese Stadt hat so viel mitgemacht in den vergangenen Jahrzehnten – war Ausgangspunkt von Krieg und Empfänger der Quittung, hat Blockade, Teilung und Vereinigung erlebt –, sie wird auch diesen Hauptstadthype überstehen. [...] Unkraut, denke ich, vergeht nicht – und das ist ein schöner Gedanke.“

Die meisten der hier vorgelegten Texte sind in den vergangenen 15 Jahren in verschiedenen Zeitungen erschienen – in der taz und Jungle World, brand eins und Frankfurter Rundschau –, andere wurden extra für diese Sammlung verfasst. Essayistische Betrachtungen, Reportagen, Glossen, Kolumnen. Mal nostalgisch und wehmütig, dann wieder polemisch und wütend – jedoch nie ohne Witz. Ein Buch, als wären Jana Hensels „Zonenkinder“ in Florian Illies‘ Golf unterwegs. „Und: Nein, an dieser Stelle nichts gegen Zugezogene oder Touristen – aber für einen Moment möchte man trotzdem ganz still werden und atmen und denken: So war‘s! Wir wissen, was wir hier teilen.“

DER AUTOR

Philip Meinhold, geboren 1971 in West-Berlin, war Buchhändler, absolvierte die Berliner Journalistenschule und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er veröffentlichte die Romane „Apachenfreiheit“ und „Fabula rasa“ sowie Erzählungen in diversen Anthologien. Er erhielt verschiedene Literaturpreise und Stipendien, u.a. den Walter-Serner-Preis und das Alfred-Döblin-Stipendium. Meinhold lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Berlin.

Aktuelle Texte finden sich in seinem Blog „Zweifelturm“ unter www.herrmeinhold.antville.org

Impressum

O Jugend, o West-Berlin

von Philip Meinhold

© Philip Meinhold, Berlin

Alle Rechte vorbehalten!

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-6027-4

Umschlaggestaltung und Illustration: Martin Schüngel

„Vom Arsch der Welt lassen sich genauso Rückschlüsse auf ihre Beschaffenheit ziehen wie vom Venushügel.“

Jörg Fauser

Einleitung

Meine erste Erinnerung an Berlin als Stadt – nicht an unsere Straße, den Spielplatz, den Weg zum Kindergarten, sondern an Berlin als Stadt mit eigenem Charakter – stammt von der Rückkehr von einer Urlaubsreise. Ich war wohl drei oder vier. Es war bereits dunkel, und wir fuhren über die Avus in die Stadt hinein – links die Zuschauertribüne der Avus, rechts das Motel, weiter entfernt der erleuchtete Funkturm. Das Gefühl, nach Hause zu kommen. Noch heute kann ich diese Verbindung von Heimat und Nacht, von Müdigkeit und Aufregung nachempfinden.

Ich glaube nicht, dass es nur an dem Wahrzeichen lag, das ich womöglich wiedererkannte, an dem Wissen: Gleich sind wir daheim. Wahrscheinlich lag es auch an der Transitstrecke und der Grenzkontrolle, die wir gerade hinter uns hatten. Wann man in West-Berlin war, war immer klar.

Diese Heimreise war gewissermaßen mein Initiationserlebnis als West-Berliner, ein Identitätsgefühl, das mich seitdem nicht verließ. „28 Jahre lang wuchs in West-Berlin eine Spezies heran, für die Vereinigung nichts mit ‚wieder‘ zu tun hatte“, heißt es in diesem Buch. Meine ganze Kindheit und Jugend verbrachte ich hier – als ich achtzehn war, fiel die Mauer.

In den Texten dieses Buchs spüre ich der besonderen Atmosphäre jener Jahre nach, den Erinnerungen an ein „wunderbar unfertiges, unvollkommenes Berlin, das wie ein Auslaufplatz für Phantasien und Illusionen war“. Ich erinnere mich an Eberhard Diepgen und die Deutschlandhalle, an Besuche auf der Grünen Woche und im Grips Theater, an die Junge Union und das Big Sexyland.

Dabei erfüllt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielleicht nicht mal auf Richtigkeit. Die Texte sind so, wie Erinnerungen nun mal sind: bruchstückhaft, sprunghaft und subjektiv – im besten Fall funktionieren sie wie ein Kaleidoskop, in dem aus bunten Scherben ein Bild der Vergangenheit entsteht.

Die meisten der hier versammelten Texte sind in den vergangenen 15 Jahren in verschiedenen Zeitungen erschienen – in taz und Frankfurter Rundschau, in brand eins oder Jungle World –, einige habe ich für diese Sammlung verfasst.

Doch ich blicke nicht nur in die Vergangenheit, ich richte den Blick auch auf das Hier und Jetzt, die Differenz zwischen Damals und Heute: „Es ist schon merkwürdig: Wenn man das Berlin von heute mit dem Blick von damals ansieht, dann wirkt es wie eine Zukunftsvision aus einem Seyfried-Cartoon: der Springer-Verlag sitzt in der Rudi-Dutschke-Straße, auf dem einst besetzten Lenné-Dreieck ragen Hochhäuser von Daimler, Sony und Deutscher Bahn in den Himmel, vor dem Reichstag gibt es eine U-Bahn-Station namens Bundestag.“ Es ist interessant zu sehen, wie man selbst zum Zeitzeugen wird, wenn die Stadt, in der man lebt, sich Stück für Stück ändert.

Bei einigen der Texte wird der Leser bemerken, dass auch der einstige Gegenwartsbezug bereits wieder veraltet ist. Und so ist dieses Buch auch eine Bestandsaufnahme der Zeit seit dem Mauerfall, das Protokoll einer sich fortschreibenden Inventur dieser Stadt. „Wie hat sie ausgesehen, gerochen, sich angefühlt – vor zwanzig Jahren, als die Mauer noch stand? Vor fünfzehn Jahren, als die Stadt gebaut wurde, in der wir jetzt leben? Vor zehn Jahren, als die Bonner und Beamten kamen und in ihrem Gefolge die Medien, Konzerne, Kulturschaffenden? Berlin ist wie ein Gemälde, das die ersten Pinselstriche enthält, sie gleichzeitig aber nicht preisgibt.“

Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge hat mal erklärt, dass nicht nur Menschen Lebensläufe besäßen, sondern auch Gegenstände und Gebiete. Die Biographie des Ruhrgebiets zum Beispiel umfasst laut Kluge etwa acht Generationen. Und so erzählt dieses Buch auch davon, wie die Biographie eines Menschen mit der seiner Stadt verknüpft ist – und die Biographie der Stadt mit der ihrer Bewohner; wie das eine das andere bedingt. „Was, wenn nicht die Summe unserer Erinnerungen macht uns aus?“, heißt es in einem Text dieses Buchs. „Was macht uns zu denen, die wir sind?“ Vielleicht ist Heimat deshalb so wichtig für uns – und vielleicht hat das der vierjährige Junge, der damals auf der Avus mit seinen Eltern in die Stadt hineinfuhr, auf eine wortlose Art erstmals begriffen.

West-Berlin im Juni 2013

Generation West-Berlin

Allen Mythen zum Trotz ist der Berliner gleichwohl kein Großstadtbürger. Sein Misstrauen gilt dem Neuen. Sorgsam hegt er eine Kleinstadtborniertheit, die er nach 30 Jahren Inseldasein für seine Mentalität hält.“

(Der Spiegel)

Im Sommer 1987 war ich 16; Berlin wurde 750 Jahre alt und der Ku’damm zu meinem Wohnzimmer. Die Nachmittage verbrachte ich meistens gegenüber vom Kranzler; dort stand ein Kunstwerk aus übereinander gestapelten Absperrgittern. Vor dem Gitterturm wachte jeden Tag ein Berliner, der mit einem Schild um den Hals gegen diese Verschwendung von Steuergeldern demonstrierte. Ich lauschte den Diskussionen, die sich entsponnen, und dachte: Det is Berlin. Die Mitte der Welt. Und mitten in der Mitte: der Ku’damm. Irgendwas war hier immer los. Wenn man Glück hatte, kam sogar eine Demo vorbei. Die begannen am Adenauerplatz und endeten an der Gedächtniskirche. Manchmal auch umgekehrt, aber durch mein Wohnzimmer gingen sie fast immer.

Det war Berlin. Groß genug, dass etwas passierte. Und überschaubar genug, um zu wissen, wo es passierte. In einer Stunde war jeder Fleck zu erreichen. Spandau war fast eine andere Stadt und das Schlesische Tor das Ende der Welt.

„Kommt Ihr Euch nicht eingeengt vor?“, fragten die Touristen. Wir kannten die Frage, aber wir verstanden sie nicht. Berlin war für uns der einzige Ort, an dem wir uns vorstellen konnten zu leben. Hier gab es alles, was man brauchte. Der Wannsee war unser Meer und der Grunewald unser Dschungel. Auch wenn die SPD in den 70ern plakatierte: „Berlin stimmt wieder“ – für uns hatte die Stadt immer gestimmt. Es war, wie es war, und so wie es war, war es selbstverständlich. Die Mauer haben wir nie besichtigt. Wir waren eher überrascht, wenn wir mal vor ihr standen – und fühlten uns in Sicherheit, weil wir uns nicht weiter verlaufen konnten.

Die DDR interessierte uns nicht. Sie war weder gut noch schlecht, sondern einfach nur da. Ihre Existenz in Gänsefüßchen zu packen wie in der Springer-Presse, kam uns absurd vor. Wir fühlten uns eher gelangweilt von ihr als bedroht. So langweilig, wie wir sie als Kinder an der Passagierscheinstelle im Forum Steglitz kennen gelernt hatten. So langweilig, wie es war, jeden Urlaub im Stau an der Transitkontrolle zu beginnen.

 

Und für die Heimreise galt: Von den Kilometerangaben hinter „Berlin – Hauptstadt der DDR“ musste man 50 abziehen; ab „Plaste und Elaste aus Schkopau“ noch eine Stunde bis zu unserem Berlin. Freiheitskundgebungen lagen uns fern. Wir fühlten uns frei. Warum auch nicht! 28 Jahre lang wuchs in West-Berlin eine Spezies heran, für die Vereinigung nichts mit „wieder“ zu tun hatte. Als wir die Stadt entdeckten, gehörte die Mauer längst dazu. Freunde dahinter hatten höchstens die Eltern. Der Transitverkehr mit Wessiland war geregelt. Wer wollte, konnte den Osten besuchen – wenn auch nur gegen ein überhöhtes Eintrittsgeld – wie im Phantasialand. Wir taten es von Zeit zu Zeit; aber nur, weil Phantasialand zu weit weg war.

Doch so normal uns das alles auch vorkam, besonders fühlten wir uns trotzdem. Wir fühlten uns als Berliner, wie sich Wuppertaler als Deutsche fühlten. Und dafür, dass wir anders waren, gab es genug Beweise: Die Bundeswehr ließ uns in Ruhe, und den Bundestag durften wir nicht mitwählen. Dafür gab es bei uns nach alliiertem Recht noch die Todesstrafe. Wir waren stolze Besitzer von behelfsmäßigen Personalausweisen, und weil wir die ja nicht jedem ungefragt unter die Nase halten konnten, fingen wir bei Besuchen in Wessiland an zu berlinern (was wir zu Hause nie machten). Wessis waren damals noch alle, die aus dem Bundesgebiet kamen. Eine Bezeichnung, die gleichbedeutend war mit Hinterwäldler und Ahnungslose – egal, ob jemand aus Köln kam oder Oberwarmensteinach. Besonders ahnungslose Hinterwäldler outeten sich durch eine Nachfrage zu unserer Herkunft: „Ost- oder West-Berlin?“ Dann lachten wir herzlich und laut.

Die große weite Welt fanden wir in unserer kleinen: Unsere Promis hießen Juhnke und Mira, unsere Politiker Stobbe und Diepgen. Unsere „Tagesschau“ war die „Berliner Abendschau“, und die Skandale hießen Antes und Garski. Politik wurde im Rathaus Schöneberg gemacht – zwischen Lohnsteuerkartenstelle und Standesamt.

Provinziell? Papperlapapp! Wir waren die Größten. Doch mit dem Fall der Mauer fiel auch unsere überschaubare Welt. Die Ossis gewannen die Freiheit, die Wessis an Selbstwertgefühl. Und wir? Wir gewannen Bewegungsfreiheit, die wir gar nicht brauchen. An die wir uns bis heute nicht gewöhnen konnten.

Wenn wir im Sommer an den Stechlinsee fahren (und wir fahren selten raus aus Berlin), bereiten wir uns vor wie auf eine Reise: Wir planen schon Wochen vorher und packen Proviant ein, als wüssten wir nicht, dass es Imbissbuden mindestens so viele wie Nazis gibt. Wenn wir in Berlin Klamotten kaufen gehen, dann nach wie vor am Ku’damm oder der Schlossstraße. Friedrichshain liegt für uns kurz vor Frankfurt (Oder). Ein Freund stellte neulich fest, dass es in Berlin nur drei U-Bahn-Linien ohne überflüssige Stationen gebe: die U 4, 7 und 9. Denn die halten nicht im Osten.

Nicht, dass wir wirklich etwas gegen den Osten haben, wir haben nur einfach viel verloren: Die Berlin-Zulage an den Aufbau Ost, das Nachtleben an Mitte und Prenzlauer Berg, den Begriff Wessis an die Ossis. Für die sind wir jetzt selber welche. Und wenn wir heute in Wessiland anfangen zu berlinern, werden wir für Ostler gehalten – und können nicht mal mehr unseren behelfsmäßigen Perso zücken. Den mussten wir mit unseren anderen Insignien abgeben. Besondere Kennzeichen: keine.

Zurückbekommen haben wir für diesen letzten Zwangsumtausch nichts – nicht mal Begrüßungsgeld. Dass Berlin Hauptstadt und Regierungssitz wird, war für uns eh selbstverständlich. Wir waren schon immer der Mittelpunkt der Welt (auch wenn in allen Himmelsrichtungen Osten ist). Bloß dass die Bonner dafür nach Berlin ziehen müssen, empfinden wir als störend.

Der alten Tante Tagesspiegel vertraute eine Berlinerin kürzlich an, sie habe eine „tiefere innere Sehnsucht nach der Kuscheligkeit des alten West-Berlin“. Die wurde von rheinischen Frohnaturen inzwischen endgültig wegmodernisiert. Kreuzberg, unser altes Ende der Welt, gehört auf einmal zur neuen Mitte. Und selbige sitzt da jetzt auch noch in den Cafés herum, trinkt Prosecco und findet Berlin „unheimlich spannend“. Aber spannend war es auch schon 1987 auf dem Ku’damm. Nur nicht unheimlich.

(1999)

Berlin, vollendete Gegenwart

Nirgendwo hat sich Deutschland seit dem Mauerfall so verändert wie in Berlin. Aber was hat sich eigentlich genau getan? Eine Fahrt mit dem Motorroller, die zu einer Zeitreise wird.

Touristen und frisch Hinzugezogenen mag Berlin wahlweise groß, laut, schnell, grün, lebendig, verrückt oder schroff vorkommen – uns Berlinern fällt das nicht weiter auf. Und auch, wie die Stadt sich verändert hat, nehmen wir im Alltag nicht wahr, so wie man die Veränderung eines Freundes, Bruders oder der Mutter nicht wahrnimmt, die man regelmäßig sieht, mit denen zusammen man altert und die für einen aussehen wie immer. Und was anderes als Freund, Bruder oder Mutter ist Berlin denn für uns?

Natürlich wissen wir, dass die Stadt sich verändert hat, aber wie nun genau, das hat die Gewöhnung verwischt. Wie hat sie ausgesehen, gerochen, sich angefühlt – vor zwanzig Jahren, als die Mauer noch stand? Vor fünfzehn Jahren, als die Stadt gebaut wurde, in der wir jetzt leben? Vor zehn Jahren, als die Bonner und Beamten kamen und in ihrem Gefolge die Medien, Konzerne, Kulturschaffenden? Berlin ist wie ein Gemälde, das die ersten Pinselstriche enthält, sie gleichzeitig aber nicht preisgibt.

Es ist eine Fahrt mit dem Motorroller, die für mich zu einer Zeitreise wird. Vielleicht, weil ich die Strecke so häufig gefahren bin, dass die Routine mir den Blick für die Vergangenheit öffnet; vielleicht liegt es auch an der Strecke an sich: von Moabit nach Kreuzberg, ein Mal diagonal durch die Mitte, entlang der nagelneuen Naht aus Beton, Stahl und Glas, unter der die ehemalige Grenze vernarbt. Zwanzig Jahre Berlin in zwanzig Minuten, eine Motorradfahrt entlang der Veränderung.

Ich lasse die Untersuchungshaftanstalt Moabit hinter mir, die mit der Liste ihrer Insassen auch eine Geschichte dieser Stadt erzählt: von Rosa Luxemburg über Bommi Baumann bis zu Erich Mielke. Auf dem Mittelstreifen vor der Mauer malt eine junge Frau ein Herz in die Luft – in der obersten Etage des Gebäudes hinter der Mauer schaut ein Mann durch die vergitterten Fenster.

Ich fahre am Edelrestaurant „Paris – Moskau“ vorbei, an dessen Fassade ein Transparent das 25-jährige Jubiläum verkündet – das ist wohl das, was man einen richtigen Riecher nennen muss: Fünf Jahre vor dem Mauerfall an diesem entlegenen Winkel der Welt ein Nobelrestaurant zu eröffnen, das nun in Fußweite von Parlaments- und Regierungssitz liegt.

Links winkt der Hauptbahnhof, der aussieht wie ein gelandetes Ufo, rechts das Kanzleramt mit seinen kubischen, runden, verschachtelten Formen, die irgendwas von Innen und Außen und Transparenz erzählen sollen – also wenig von politischer Realität. Wie eine Disney-Landschaft kommen mir diese modernen, ins Nichts geklotzten Bauwerke vor, wie ein Themenpark „Futurismus“. Und wer weiß, in ein paar tausend Jahren werden Touristen vielleicht die Rudimente des Regierungsviertels besichtigen wie die Athener Akropolis oder das Forum Romanum in Rom.

Die Straße schlängelt sich an Schweizerischer Botschaft, Paul-Löbe-Haus und Reichstag vorbei, der zu Mauerzeiten nicht mehr war als ein funktionsloses Gebäude aus dem Geschichtsbuch: Auf der Wiese davor haben wir Fußball gespielt, ansonsten diente das Gebäude als Kulisse für skurrile Konzerte – die Pudhys, Nina Hagen und Michael Jackson haben hier gespielt. Drinnen trafen sich die Bundestagsfraktionen auf Berlin-Trip zu symbolischen Sitzungen, eine Dauerausstellung stellte „Fragen an die Deutsche Geschichte“, die ein paar Meter hinter dem Gebäude ihre Antwort fanden.

Ich biege auf die Straße des 17. Juni ein – wie Horst Buchholz in „Eins, zwei, drei“ komme ich mir hier immer vor, wenn er mit seinem Motorrad auf das Brandenburger Tor zufährt. Kurz hinter der Stelle, wo er den Warnhinweis „You are leaving the american sector“ passiert, biege ich ab und fahre an der Amerikanischen Botschaft vorbei. Wie in einem Freilichtmuseum reihen sich Brandenburger Tor, US-Botschaft und Holocaust-Mahnmal aneinander, so als stünden hier die Determinanten der jüngeren deutschen Geschichte Spalier.

Weiter vorne streckt der Potsdamer Platz seine Arme aus, und wenn es stimmt, dass Berlin „arm, aber sexy“ ist, wie unser Bonmot-Bürgermeister behauptet, dann ist es hier protzig und unattraktiv. Einer dieser gesichts- und geschichtslosen Orte des neuen Berlin, die auch in Paris oder Rom liegen könnten – eben so, wie sich Architekten und Investoren aus der Provinz eine Weltstadt vorstellen.

Ein paar Scientologen werben um Opfer, Rikschafahrer warten auf Kunden, Touristen bestaunen ein paar Segmente der historischen Mauer, die sich unter den in den Himmel wachsenden Häusern geradezu lächerlich ausnehmen. Und davon hat irgendwer sich abhalten lassen?

Ich frage mich, wo unser Zelt gestanden hat, damals, im Sommer 88. Als Westberliner Umweltschützer ein Stück Brachland besetzten, das auf der Westseite der Mauer lag, aber zum Osten gehörte. Mit einem Dorf aus Hütten und Zelten protestierten wir gegen den Bau einer Autobahn, der drohte, wenn die Brache in das Eigentum West-Berlins überging. Stand unser Zelt unter dem Bahn-Tower? Dem Sony Center? Den Potsdamer Platz Arkaden? Und wo hat das zum Techno-Club umfunktionierte unterirdische Pissoir sich befunden, in dem wir vier Jahre später Silvester gefeiert haben – als diese steingewordene Weltstadtphantasie noch eine Wüste war? Als die Clubs noch Adressen statt Namen hatten oder wie ihre ehemalige Bestimmung hießen: Obst und Gemüse, E-Werk, Friseur? Es ist nicht mehr nachzuvollziehen. Ein paar Jahre später dirigierte Daniel Barenboim hier sein Ballett der Kräne, und verkaufte cleveres Stadtmarketing Baustellen als Sehenswürdigkeiten. Heute sind die Baulücken geschlossen und die Brachen bebaut, der Wildwuchs weitestgehend gezähmt. In den 90ern fand die Nachkriegszeit in Berlin auch ihr städtebauliches Ende.

Ich biege in die Niederkirchnerstraße ein und fahre ein Stück an der Mauer entlang, deren Verlauf mich hier immer etwas irritiert, weil ich vom Westen durch den Osten in den Westen fahre. Auf der ehemaligen Westseite: der Martin-Gropius-Bau; im ehemaligen Osten: der Preußische Landtag. Ich muss an Wowereit, Momper und Diepgen denken, an 25 Jahre Berliner Bürgermeister – merkwürdig, dass die Westberliner Provinzialität ausgerechnet hier überlebt hat. Als hielten sich die Berliner an ihren Politikern fest wie an einem Rettungsring in stürmischen Zeiten.

Weiter geht es in die Kochstraße, am weltberühmten Checkpoint Charlie vorbei, der uns zu Mauerzeiten so wenig interessiert hat wie die Mauer selbst. Nie sind wir auf eine der Aussichtsplattformen gestiegen, um nach drüben zu schauen. Die Mauer war für uns nicht mehr als das Ende einer Sackgasse, in die man geriet – nur dass in allen Richtungen Sackgassen waren, was Berlin zu einer riesigen verkehrsberuhigten Spielstraße machte.

Vorbei geht’s an der taz und – nur einen Steinwurf entfernt – dem Axel-Springer-Hochhaus. Dass das jetzt in der Rudi-Dutschke-Straße liegt, ist natürlich ganz witzig (und offenbart den Sinn der Berliner für einen recht trockenen Humor), aber vielleicht auch nur ein Beleg für den Weg der Alt-Achtundsechziger in den Mainstream. Klar, dass Bild-Chef Kai Diekmann im Gegenzug auch Genossenschaftler der taz werden darf.

Es ist schon merkwürdig: Wenn man das Berlin von heute mit dem Blick von damals ansieht, so als wäre man nicht mit der Vespa, sondern mit einer Zeitmaschine unterwegs, dann wirkt es wie eine Zukunftsvision aus einem Seyfried-Cartoon: der Springer-Verlag sitzt in der Rudi-Dutschke-Straße, auf dem einst besetzten Lenné-Dreieck ragen Hochhäuser von Daimler, Sony und Deutscher Bahn in den Himmel, vor dem Reichstag gibt es eine U-Bahn-Station namens Bundestag.

Höchste Zeit, dass es ins gute alte Kreuzberg geht, wo die Nächte lang sind, die Geschäfte türkisch und die Grünen die stärkste Partei – das inzwischen aber auch nicht mehr so gut und alt ist wie früher. Lange hat sich Kreuzberg weggeduckt unter dem Wandel der Stadt, so als könnte man es übersehen. Doch in den vergangenen paar Jahren ist die Veränderung auch hier angekommen: Die Schlesische Straße, diese ausgestorbene Sackgasse am Ende West-Berlins, hat sich zu einer Partymeile mit Clubs, Cafés und Kneipen gewandelt. Es gibt Boutiquen und Bars, die man eher im schicken Mitte vermuten würde und die sich wie das „Molotow“ in der Oranienstraße nur mit ihrem Namen an das alte Kreuzberg ranschmeißen. An den Wochenenden verwandeln einheimisches Szenevolk und ausländische Partytouristen den Kiez mit der ehemaligen Postleitzahl 36 in einen riesigen Vergnügungsbezirk. Auf den Straßen hört man Amerikanisch, Italienisch, Dänisch, Schwedisch – und was die Spanier angeht, so kann man das Gefühl bekommen, dass Kreuzberg ihre Rache für Mallorca ist.

 

Mit den Szenebezirken verhält es sich in Berlin wie mit dem Raubbau: Wenn eine Gegend erschlossen und ausgenommen ist, zieht die Karawane weiter, bis auch der nächste Kiez mit Cafés, Clubs, Kneipen und Hostels planiert ist, und statt Szenevolk nur noch Prolls und Touristen kommen. Nach der Simon-Dach-Straße in Friedrichshain und der Oranienburger in Mitte sind nun also die Wiener Straße und die O-Straße dran. Die Ausläufer ziehen sich über den Landwehrkanal bis nach Neukölln hinunter. Man muss nicht auf das Vorzeigeprojekt MediaSpree, die 02 World oder die erste Kreuzberger MacDonalds-Filiale schauen, um zu merken, das sich hier etwas tut. Im Grunde verhält es sich mit Kreuzberg wie mit Berlin: Die Stadt ist schneller, glatter, teurer, professioneller geworden – ähnlich einer Rockband, die es vom Insider-Tipp auf die Bühnen der großen Stadien geschafft hat und deren Image nun weltweit vermarktet wird. Berlin, so schreibt Tobias Rapp in seinem Buch „Lost and Sound“, sei die „Feier-Hauptstadt der westlichen Welt“.

Ich schwinge mich auf meinen Roller und fahre zurück – über Kochstraße, Potsdamer Platz, Straße des 17. Juni –, bis nach Moabit, wo die Namen der Kneipen auf -Eck oder -Stuben enden; wo es Schultheiß und Engelhardt gibt statt Tannenzäpfle und Becks; wo die größte Veränderung ist, dass ab und zu ein neues Telecafé eröffnet, während ein anderes schließt. Ob der Berlin-Boom irgendwann auch hier ankommen wird?

Manchmal habe ich Angst um Berlin, davor, dass diese Stadt nicht mehr meine ist. Doch dann denke ich: Diese Stadt hat so viel mitgemacht in den vergangenen Jahrzehnten – war Ausgangspunkt von Krieg und Empfänger der Quittung, hat Blockade, Teilung und Vereinigung erlebt –, sie wird auch diesen Hauptstadthype überstehen. Sollen sie uns ruhig weitere 10.000 Beamte und Provinzler schicken und von mir aus noch 100.000 spanische Touristen dazu, sollen sie die Baulücken schließen und die Brachen bebauen: Unkraut, denke ich, vergeht nicht – und das ist ein schöner Gedanke. Das Regierungsviertel im Rücken fahre ich vor der Justizvollzugsanstalt rechts, dann bin ich wieder zu Hause.

(2009)

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