Wie viel Lüge verträgt die Politik?

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Wie viel Lüge verträgt die Politik?
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Inhaltsverzeichnis

Einführung

In der Krise blüht die Lüge

Pinocchio-Test

Vorwort: Im Labyrinth der Lügen

Ist der Ruf erst ruiniert …

Pinocchios in aller Welt

Strategen der Macht

Dosierte Wahrheiten

Die Selbstdemontage der Politiker

Populismusgefahr

Legenden und Lernprozesse

Schmidts „Rentenirrtum“ und Blüms Rentenillusion

Die „Steuerlüge“ zur Bundestagswahl 1990

Die „Steuerlüge“ zur Bundestagswahl 2002

Der Lügenausschuss

Der Agenda-Mythos

Die Merkel-Münte-Steuer

Die Vertrauenskrise

Diagnose: Vertrauensmangel

Kompetenzverlust

Wahlfrust

Denk- und Strafzettel

Die Blockade der Politik

Die überfragte Nation

Wächter der Wahrheit - Auftrag und Anmaßung

Wie wahrhaftig sind die Medien?

Leit- oder Leidmedien?

Stilwende

Sachlichkeit und Fachlichkeit

Erfahrungs- und Wissenstransfer

Keine Theorie-Spiele im Sandkasten

Dem Tapferen winkt das Glück

Wahlkämpfe der Ehrlichkeit

Wie viel Wahrheit verträgt der Wähler?

Die Tugend der politischen Klugheit

Eine Kultur der Redlichkeit

Literatur-Verzeichnis

Rainer Nahrendorf

Der Autor, geb. am 10.8.1943, studierte am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin bei Ernst Fraenkel und Kurt Sontheimer politische Wissenschaften. Nach dem Examen als Diplom-Politologe organisierte er zwei Wahlkämpfe in seiner Vaterstadt Hamburg und arbeitete als Assistent des Hamburger Privatbankiers und Bankenpräsidenten Alwin Münchmeyer. 1972 wechselte er zum Handelsblatt. Der Redaktion der deutschen Wirtschafts- und Finanzzeitung gehörte er 34 Jahre an. Mehr als 12 Jahre war er Mitglied der Chefredaktion. Heute arbeitet er als Autor für das Handelsblatt und ein Wirtschaftsmagazin. Ende 2007 erschien sein Buch „Der Unternehmer-Code. Was Gründer und Familienunternehmer erfolgreich macht“ (Gabler); Ende 2008 „Der Pinocchio-Test. Wie viel Lüge verträgt die Politik?“

( adatia Verlag 2008 ); Ende 2010 „Die Chancengesellschaft. Mut zum Aufstieg in Deutschland.“ (adiata Verlag )

Einführung
In der Krise blüht die Lüge

In Bodenwerder an der Weser, der Heimat des Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, erinnern mehrere Denkmale an den phantasiereichen Erzähler. Eines davon zeigt den „Lügenbaron“ beim Ritt auf einer Kanonenkugel. Unweit davon steht in einem kleinen Park eine Stellwand. Sie zeigt ebenfalls den Ritt auf der Kanonenkugel. Aber dort, wo der Kopf ist, schaut der Betrachter ins Leere. Parkbesucher können sich so in „Lügenbarone“ verwandeln.

Wie viele Politiker diesen Bekennermut hatten, ist unbekannt. Politikerlügen sind auch nicht so unterhaltsam wie die Geschichten des Barons und geben selten zum Schmunzeln Anlass. Eher erstaunt die Chuzpe, mit der sie verbreitet werden. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, sagte der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Chef Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz am 15.6.1961. Zwei Monate später wurde die Mauer gebaut.

Lügen und Propaganda überraschen bei Diktatoren und bei Autokraten nicht. Machtmenschen sind Machiavellisten. Man beurteilt ihr Handeln nach dem Enderfolg. Machiavelli wusste. „Ein Herrscher braucht also nur zu siegen und nur seine Herrschaft zu behaupten, so werden die Mittel dazu stets als ehrenvoll angesehen und von jedem gelobt“.

Wladimir Putin wird sich daran erinnert haben, als er im Juni 2014 in der Sendung „Direkter Draht“ überraschend einräumte, was er monatelang bestritten hatte. „Im Rücken der Selbstverteidigungskräfte standen natürlich unsere Soldaten. Sie haben ganz korrekt gehandelt, sehr entschlossen und professionell“. Anders hätte ein ordentliches Referendum auf der Krim doch gar nicht organisiert werden können. War es Stolz auf die „geglückte Rückholung der Krim“ nach Russland, die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel, die ihn bewog, sich selbst so offen Lügen zu strafen?

Auch in demokratischen Rechtstaaten täuschen Politiker die Bürger. Das ist in dem „Pinocchio-Test“, dem schon 2008 erschienen, inhaltlich kaum veränderten Hauptteil dieses Lügenbuches nachzulesen. Dabei sollten doch Charakterstärke, sachliche Leidenschaft und distanziertes Augenmaß den Politiker auszeichnen, der Politik als Beruf und Berufung versteht. So hat es Max Weber gefordert. Es sollten nicht die Politiker das Politikerbild prägen, die nur nach ihrer Wiederwahl schielen, die das Blaue vom Himmel versprechen, unbequeme Wahrheiten verschweigen und auf das Kurzzeitgedächtnis der Wähler vertrauen. So schnell vergessen Wähler Wortbrüche auch nicht.

Mit der Wählertäuschung in der Politik wollte Angela Merkel im Frühjahr 2005, damals als CDU-Vorsitzende noch in der Opposition, ein für alle Mal Schluss machen. Sie warb monatelang auf ihrer Homepage „www.angela-merkel.de“ für eine „Politik ohne Lüge“. Ihre Botschaft: Nur eine glaubwürdige Politik ohne Lüge hat Zukunft. In der Union setzte sie die Wahlkampfmaxime durch: „Sagen, was man tun will, und tun, was man sagt“.

Der „Wahlkampf der neuen Ehrlichkeit“ zahlte sich aber, gemessen am Wahlergebnis, nicht aus. Der Grund: die Union hatte gegen das Gebot der Einfachheit der Kommunikation verstoßen und zugelassen, dass der politische Gegner Angst schüren konnte.

Diese Erfahrung hat den Wahrheitsimpetus der Angela Merkel geschwächt und sie vorsichtig gemacht. Die Vorsicht vor unhaltbaren Versprechungen, frühen Festlegungen und klarer politischer Kante schützte sie nicht davor, dass die SPD sie, besonders wenn die Partei in der Opposition oder im Wahlkampfmodus war, mit Lügenvorwürfen attackierte. Anlass dazu gab ihr Taktieren in der Euro-Staatsschulden-Krise, insbesondere in der Griechenlandkrise.

Die Planungsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion zeichnete Merkels Euro-Pirouetten genüsslich auf: „Das immer wiederkehrende Muster der Kanzlerin und ihrer Regierung in der Krise: Probleme leugnen -Gegenmaßnahmen verweigern- unter dem Eindruck weiterer Krisenverschärfung die gerade noch geforderte Position räumen- weitere Probleme leugnen…“Merkel kläre nicht auf. „Ihr Reden ist Täuschung“, hieß es in dem Papier der SPD-Planungsgruppe.

Am 28. Februar 2010 sagte die Kanzlerin auf eine Frage im ARD-Bericht aus Berlin: Wird es deutsche Milliardenhilfen geben? Die Antwort der

Kanzlerin:„ Das ist ausdrücklich nicht der Fall“. Kurz vor dem EU-Gipfel erklärte Merkel im März 2010 gegenüber dem Deutschlandfunk, sie sehe im Augenblick nicht, dass Griechenland Geld brauche. Es drohe keine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Auch Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker gab sich im März 2010 fest davon überzeugt, „dass Griechenland diese Hilfe nie wird in Anspruch nehmen müssen, weil das griechische Konsolidierungsprogramm in höchsten Maße glaubwürdig ist“.

Am 7. Mai 2010 beschloss der Deutsche Bundestag auf Antrag der Regierung, dass sich Deutschland mit 22,4 Mrd. Euro Krediten der Bundesanstalt für Wiederaufbau am ersten Rettungspaket beteiligt. Merkel rechtfertigte dies mit der Notsituation und der deutschen Verantwortung für die Sicherung der Zukunft Europas. Sie verkniff sich nicht den Hinweis, dass es die rot-grüne Bundesregierung gewesen sei, die trotz aller Warnungen, Skepsis und Zweifel im Jahre 2000 bereits frühzeitig eine politische Vorentscheidung zugunsten des Beitritts Griechenlands zu Eurozone getroffen habe.

Die griechische Euromitgliedschaft fing mit einer Lüge an. Ohne die griechische Statistik-Lüge, die Verschleierung einer deutlich höheren Verschuldung und Daten-Fälschung hätte Griechenland nicht den Euro bekommen. Seitdem zog in der griechischen Staatsschuldenkrise eine Lüge die andere nach sich.

 

Am 28. September 2010 sagte Merkel gegenüber Spiegel-online, eine Verlängerung der jetzigen Rettungsschirme werde es mit Deutschland nicht geben. Der Name der Rettungsschirme wechselte. Das zweite Rettungspaket für Griechenland mit neuen Kredithilfen wurde im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im Jahre 2012 geschnürt. Der ESM war auf Dauer angelegt und wurde durch einen neuen Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union rechtlich abgesichert. Deutschland bürgte für 38 Mrd. Euro der zugesagten 163 Mrd. Euro.

An dem Zustandekommen der Rettungspakete hatte Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker, der spätere Kommissionspräsident, mitgewirkt. Hans-Olaf Henkel warf ihm in seinem Buch „Die Euro-Lügner“ vor, die Lüge salonfähig gemacht zu haben. Einen Blick in seine Trickkiste habe er schon 1999 gegeben. „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“, hatte er dem Spiegel gesagt.

Einen Satz bereut Juncker bis heute zutiefst: „Wenn es ernst wird, muss man Lügen“. Dieser Satz hänge ihm in den Kleidern. Gesprochen hatte er ihn gegenüber Spiegel-online. Er hätte zehn Sekunden Zeit gehabt, auf eine Meldung von Spiegel-online über ein Geheimtreffen der Euro-Gruppe zu reagieren, erläuterte Juncker. Hätte er das Treffen zugegeben, hätte dies an den Finanzmärkten einen Tsunami ausgelöst. Deshalb habe er zu einer Notlüge gegriffen.

Lügen solle man nicht, aber alles sagen müsse und dürfe man auch nicht. Wenn eine Information vorzeitig bekannt werde, obwohl eine Entscheidung noch nicht getroffen sei, profitierten von diesem Wissen die Multimilliardäre und nicht kleinen Sparer.

Später habe er sich Interviews gegen den Eindruck wehren müssen, als ob er nichts anderes im Sinn gehabt hätte, als die Europäer systematisch zu belügen. Er habe nicht immer die volle Wahrheit gesagt, wenn er gewusst habe, dass die Mitteilung in dem Moment der vollen Wahrheit Schaden mit sich bringen würde.

Notlügen sind sicherlich anders zu beurteilen als vorsätzlich irreführende und täuschende Lügen. Die Grenzen zwischen beiden Lügenarten sind aber schwer zu bestimmen und fließend. Notlügen werden zudem leicht durchschaut. Den Finanzmärkten genügt schon ein Gerücht. Ein „No-Comment-Statement“ erstickt zwar kein Gerücht, aber die Empörung über eine offensichtliche Lüge.

Regierungspolitiker hatten besonders vor Wahlen und wegen des wachsenden Widerstands in der Unionsbundestagsfraktion gegen immer neue Rettungspakte für Griechenland den Eindruck erweckt, es werde kein drittes Rettungspaket für Griechenland geben. Aber als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Bundestagwahlkampf durchblicken ließ, Griechenland benötige ein drittes Hilfsprogramm, nutzte dies Altkanzler Gerhard Schröder, um seiner Nachfolgerin vorzuwerfen, den Bürgern die Unwahrheit über die Kosten der europäischen Schuldenkrise zu sagen. „ Mit Vertuschen und Verschleiern gewinnt man kein Vertrauen des Volkes, sondern nur mit Klartext“, sagte Schröder laut Spiegel-Online. Er behauptete, es werde eine ganz große Lüge über die Kosten der Euro-Krise vorbereitet. Deutschland werde dafür zahlen müssen.

Als es dann nach einem abenteuerlichen Zickzackkurs voller Wortbrüche der griechischen Linksregierung und wochenlangen Verhandlungen in der zweiten August-Hälfte 2015 zu einem dritten Hilfspaket für Griechenland kam, stimmen in der Unionsfraktion 63 Abgeordnete dagegen, 3 enthielten sich und 17 nahmen an der Abstimmung gar nicht erst teil. Das dritte Rettungspaket umfasste Kredithilfen in Höhe von insgesamt 86 Milliarden Euro. Die Höhe des deutschen Haftungs-Risiko hing davon ab, ob sich der Internationale Währungsfondsbestimmen an dem dritten Hilfspaket beteiligen würde.

Alle Hilfspakete und Kredittranchen waren unter der Bedingung gegeben worden, dass die Regierungen des überschuldeten griechischen Staates ihre Reform- und Sparzusagen auch in die Tat umsetzen würden. Ein Sparpaket folgte dem anderen. Die Umsetzung geschah aber nur mit erheblicher Verzögerung, systematischer Verschleppung oder gar nicht - trotz der Überwachung durch die Gläubiger. Die Regierungen und Parlamente standen unter dem Druck permanenter Streiks und Demonstrationen einer reform- und sparunwilligen Bevölkerung. Die Spar- und Reformauflagen verlangten gerade den ärmeren Griechen existenzgefährdende Opfer ab, die viele verzweifeln und verelenden ließ. Verletzter Stolz, missachtete Würde, Empörung und Wut über die unter dem Druck der Gläubiger zustande gekommenen Sparauflagen prägten das gesellschaftliche Klima. Ein Teil der Medien fachte die explosive Stimmung immer wieder an.

Griechenland hatte sich nicht nur immer höher verschuldet, seit seine Zinsen mit dem Eurobeitritt gesunken waren. Staat und Bevölkerung hatten über ihre Verhältnisse gelebt- auf einem Wohlstandsniveau, das weit über die Wettbewerbsfähigkeit, die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und die Produktivität der Arbeitnehmer hinausging. Hinzu kamen eklatante Mängel beim Vollzug staatlicher Aufgaben, bei der Bekämpfung der verbreiten Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft und Korruption. Aber wer wollte die unbequemen Wahrheiten hören, zumal die Konsequenzen so bitter waren? Und welche Politiker, die gewählt werden wollten, trauten sich, sie den Wählern zuzumuten? Wer die Frage „Wie viel Lüge verträgt die Politik?“ stellt, muss zugleich die Frage stellen „Wie viel Wahrheit verträgt der Wähler?“ Ein ganzes Volk hätte sich ändern müssen. Es hätte ein neues Staatsverständnis gewinnen müssen, von den Staatsaufgaben und den Bürgerpflichten. Dazu waren nur wenige Bürger bereit.

Die Wut über die als Diktate empfunden Spar- und Reformauflagen wusste Alexis Tsipras, der Vorsitzende der linkspopulistischen Syriza-Partei zu nutzen. Die Versprechungen, den Sparkurs zu beenden, den Mindestlohn wieder zu erhöhen, Renten- und Pensionskürzungen rückgängig zu machen, einen teilweisen Schuldenerlass durchzusetzen und ein von der EU zu finanzierendes Milliarden-Ausgabenprogramm zur Stimulierung der griechischen Wirtschaft zu erreichen, waren eigentlich unhaltbar. Sie machten ihn jedoch bei der Wahl im Januar 2015 zum neuen griechischen Regierungschef.

Einige Monate später, nach zermürbenden und die Gläubiger verärgernden Verhandlungen über die Freigabe der letzten Tranche des zweiten Rettungspaketes, die die Gläubiger an Reformauflagen gekoppelt hatten, kündigte er als vermeintlichen Joker in den überaus zähen Verhandlungen ein Referendum für den 5. Juli 2015 an.

In dem Referendum sollte über die von den Kreditgebern in ihrem Textentwurf gestellten Bedingungen für weitere Auszahlungen aus dem zweiten Hilfspaket abgestimmt werden. Er rief dazu auf, in dem Referendum die Reformvorschläge abzulehnen. Sie verletzten nach seiner Ansicht eindeutig europäische Regeln und ebenso das Recht auf Arbeit, Gleichheit und Würde. Er behauptete, dass das Ziel einiger Partner und Institutionen sei möglicherweise die Erniedrigung eines ganzen Volkes. Für den Pleitestaat Griechenland stand viel auf dem Spiel. Ein Ausscheiden des Landes, der „Grexit“ rückte näher. In dem Referendum lehnten die Wähler mit einer Mehrheit von 61,3 Prozent die Bedingungen der Gläubiger ab. Tausende Griechen bejubelten und feierten den vermeintlichen Sieg auf dem Athener Hauptplatz.

Tsipras erklärte in einer Fernsehansprache, Griechenland feiere einen Sieg der Demokratie. Das Nein werde die Verhandlungsposition der Griechen stärken und die Unterdrückung des griechischen Volkes beenden. Das war mehr als eine zweckoptimistische Fehleinschätzung, sondern eine bewusste Täuschung und eine Selbsttäuschung.

Weil immer mehr Kapital aus dem Land floh, wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Banken und Börsen wurden eine Woche geschlossen. An den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Abhebungen wurden begrenzt. Die Zahlungsfähigkeit der Banken wurde nur durch Notfallkredite der EZB gesichert.

Um trotz der Ablehnung neuer Reform- und Sparvorschläge durch das Referendum ein neues Hilfspaket zu erhalten, einigte sich Tsipras am 12. Juli 2015 nach einer 17-stündigen Marathon-Sitzung mit der gesamten Eurogruppe in Brüssel wenig später auf Sparmaßnahmen. Diese kamen denen, die Tsipras und das griechische Volk zuvor abgelehnt hatten, sehr nahe. Am 15. Juli 2015 stimmte das griechische Parlament unter Zuhilfenahme der Opposition den Maßnahmen mehrheitlich zu. Der extrem linke Flügel spaltete sich von Syriza ab, bildete eine neue Partei, machte weiter Front gegen die Sparpolitik, warb für einen Austritt aus der Eurozone und die Rückkehr zur Drachme. Der Tsipras-Koalitionsregierung mit den Rechtspopulisten fehlte nach der Abspaltung eine eigene Mehrheit im Parlament.

Um wieder eine eigene Mehrheit und damit ein Mandat für den Sparkurs zu erhalten, der ihm nach seiner Darstellung von den Kreditgebern aufgezwungenen worden war, trat er zurück und führte vorgezogene Neuwahlen am 20. September 2015 herbei. Die Flucht nach vorn zahlte sich aus. Syriza wurde wieder stärkste politische Kraft und konnte die Koalition mit den Rechtspopulisten fortsetzen.

„Welt. de“ kommentierte: Das griechische Volk wolle einen Blender, es wolle getäuscht werden. Der Mannheimer Morgen meinte: Aus Alexis Tsipras, dem Kämpfer für ein stolzes, selbständiges Griechenland sei ein wortbrüchiger Politiker wie viele vor ihm geworden. Nun müsse er sich als Reformer bewähren und das tun, für das nie gewählt werden wollte: das Land umbauen, die Verwaltung reformieren, die Privatisierung anschieben.

Die Wähler hätten sich daran gewöhnt, dass Wortbrüche anscheinend zur Politik gehören. Tsipras sei nur der letzte in der Reihe der Enttäuscher, kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Die große Mehrheit hatte aber immerhin akzeptiert, dass Griechenland nur innerhalb der Eurozone zu sanieren war, ohne der konservativen Nea Dimikratia eine neue Chance zu geben. Obwohl Griechenland unter dem konservativen Regierungschef Antonis Samaras auf Erholungskurs gewesen war, verzieh ihm die Mehrheit der Wähler nicht die auch von ihm selbst begangenen Wortbrüche und widerstrebend eingeleiteten Sparmaßnahmen.

Samaras Nachfolger an der Spitze der konservativen Partei, Meimarakis hatte es nicht geholfen, dass er Tsipras vorwarf, wiederholt das griechische Volk belogen zu haben. Die Enttäuschung vieler Wähler suchte sich ein anderes Ventil: die Wahlbeteiligung sank von 63,6 bei der Januar-Wahl 2015 auf 56,6 Prozent bei der September-Wahl. Die politische Kultur verfalle, das Interesse an der Politik und der Glaube an die Wirkung der eigenen Stimme sei niemals geringer gewesen, eine traurige und Besorgnis erregende Entwicklung, meinte Zeit-online.

Je stärker die Wahlbeteilung sinkt, desto schwächer wird in der Demokratie die Legitimität der Herrschaft, desto mehr bekommen radikale Parteien ein Gewicht, das sie bei hoher Wahlbeteiligung nie hätten. Wenn sich weit über 40 Prozent der Wähler dafür entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen, ist das ein Misstrauensvotum, eine Mahnung an die Politiker, die Wähler nicht durch unhaltbare Versprechungen zu täuschen und Wort zu halten.

Machiavellisten, die täuschen, um Macht zu gewinnen oder zu erhalten, sollten in der parlamentarischen Demokratie keine Chance haben. Dafür zu sorgen, liegt in der Verantwortung der Parteien, der anderen gesellschaftlichen Akteure wie der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, der Wissenschaftler, vor allem aber der Medien. Sie sollten ihre Unabhängigkeit bewahren, sich der Wahrheit verpflichtet fühlen und denjenigen Politikern eine Chance geben, die es mit der Wahrheit versuchen. Medien, die Emotionen schüren, um Auflagen oder Einschaltquoten zu erhöhen, statt aufzuklären und einen Faktencheck zu machen, verspielen ihr Wächteramt. Sie fördern die Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen statt sie zu entlarven.

Dieses E-Book umfasst außer einer aktuellen Einführung den etwas gekürzten, aber kaum veränderten Text meines bereits 2008 erschienen Buches „ Der Pinocchio-Test“. Kaum verändert, weil er noch nicht als E-Book erschienen ist und ich mein Schluss-Plädoyer für eine „Kultur der Redlichkeit“ wieder so halten würde. Das Gespräch, das ich mit Professor Kurt Biedenkopf geführt habe, rät zur Tugend der politischen Klugheit und warnt Politiker davor, den gesunden Menschenverstand der Wähler zu unterschätzen. Manches hat sich im Lauf der Jahre durch die Blogs und sozialen Netzwerke mit ihren Shitstürmen geändert. Erfreulich ist sicher, dass der Faktencheck in den Medien heute weit verbreitet ist und auf den Portalen Hintergrundinformationen geboten werden. Das fördert die Sachlichkeit und Redlichkeit in der politischen Kommunikation.

 

Der Leser dieser Einführung könnte den Eindruck gewinnen, die Wählertäuschung sei ein griechisches Phänomen. Die Sammlung der Lügengeschichten im „Pinocchio-Test“ wird ihn vom Gegenteil überzeugen. Olle Kamellen? Die Lügen-Geschichten gehören leider zur Zeitgeschichte. Damit sie nicht ganz so schnell in Vergessenheit geraten, habe ich sie festgehalten - zum Nachlesen und zur Erinnerung der Wähler, was aus manchem vollmundigen Wahlversprechen geworden ist. Ich wünsche mir eine gesunde Skepsis des Wählers - gesund für unsere Demokratie. Damit steigt das Entdeckungsrisiko für Politiker, wenn sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen und ihre Glaubwürdigkeit beschädigen.

Rainer Nahrendorf

im Januar 2016