Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert
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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

Jan Heilmann / Matthias Klinghardt

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0063-8

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Inhalt

  Vorwort

 Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh.1 Die Kanonische Ausgabe und die Kanonische Redaktion1.1 Forschungsobjekt1.1 Die editio princeps des Neuen Testaments1.2 Die Kanonische Redaktion der Evangelien1.3 Die Kanonische Redaktion und der Text des Neuen Testaments2 Fragen und Aufgaben2.1 Textkritik und Textgeschichte2.2 Die Kanonische Ausgabe und ihre Vorgeschichte3 Beiträge

 Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente2.1 Die Kodexform habe schon vor einer mutmaßlichen Herausgabe der editio princeps für christliche Schriften Anwendung gefunden.2.2 Im 2. Jh. sei es vor allem unter ökonomischen und technischen Gesichtspunkten noch nicht möglich gewesen, die neutestamentlichen Schriften in einem Kodex bzw. in einer „Vollbibel“ unterzubringen.2.3 Die These Trobischs stünde im Widerspruch zu den Quellen (z. B. Irenäus, Canon Muratori, Origenes, Euseb), die eine Diskussion über die kanonische Geltung neutestamentlicher Schriften belegten.2.4 Die These Trobischs widerspreche „dem entscheidenden Movens [der Sammlung von neutestamentlichen Schriften bzw. des Kanonisierungsprozesses], die liturgische Lesung im Gottesdienst!“2.5 Die Theorie Trobischs setze ein viel höheres Niveau von Strukturierung und Zentralisierung voraus als im zweiten Jh. vorhanden.3 Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung4 Das Problem der katholischen Briefsammlung5 Schluss und Fazit

 Geschätzt und bezweifelt. Der zweite Petrusbrief im kanongeschichtlichen Paradigmenstreit1 Der zweite Petrusbrief als Marker einer dynamischen Entwicklung2 Der zweite Petrusbrief als Zentralelement einer gezielten Publikation2.1 Methodologische Grundentscheidungen2.2 Kodexform2.3 Nomina Sacra2.4 Titel2.5 Die Reihenfolgen der Einzelschriften3 Der zweite Petrusbrief als Knotenpunkt eines intertextuellen Netzwerks4 Zusammenfassung und AusblickNo Liturgical Need for a Gospel in the Second Century1 Questions and Presuppositions2 Celebrations of Liturgies of the Word3 Liturgical Functions of the Gospels in the Gospels and in 1 Corinthians?4 A Liturgy of the Word in Justin’s Congregation?5 Celebrations of Torah in Judaism6 ConclusionsChristian Manuscripts from Egypt to the Times of Constantine123 The earliest christian manuscriptsMarcion in der Turing-GalaxieEinleitung1 Zur Medialität des Textbegriffs2 Digitale Analyseansätze in der Erforschung der neutestamentlichen Textgeschichte3 Digitale Erschließung der Frühgeschichte des neutestamentlichen TextesConclusio

  Varianten in der Textüberlieferung des Johannesevangeliums 1 Textkritische Varianten im Johannesevangelium im Rahmen des Dresdner Modells 2 Der Auserwählte oder der Sohn Gottes in Joh 1,34 3 Joh 13,27 und der Verräter 4 Der Beiname von Judas im Johannesevangelium als Beleg für die besondere Relevanz des Textes in D 5 Mahl und Nachfolge in Joh 21 ─ die Relevanz von ἀκολουθοῦντα in Vers 20 6 Schlussüberlegungen

  The Gospel According to John in the Light of Marcion's Gospelbook 1 Literary-Critical Assessment: The Gospel According to John as an Edited Version of the Manuscript of the Beloved Disciple 2 Redactional-Critical Assessment: Gospel According to John in the light of Marcion’s Gospel Summary

 Methodological Assumptions in the Reconstruction of Marcion's Gospel (Mcn)1 The first Trajectory – or Markan/Q Priority, the Two-Sources Hypothesis and the Posteriority of Mcn1.1 Markan/Q Priority and the Two-Sources Hypothesis1.2 The Markan/Q Priority, the Two-Sources Hypothesis and the Posteriority of Mcn as Framework for its Reconstruction2 The Priority of Mcn in the Synoptics3 Which text of the Lord’s Prayer? Different frameworks and their results3.1 The Lord's Prayer in Mcn following the Markan/Q Priority and the Two-Sources Hypothesis3.2 The Lord's Prayer in Mcn based on the Priority of Mcn in the SynopticsSection 1:Section 2:Section 3:Section 4:Section 5:Section 6:Section 7:Section 8:Section 9:Section 10:3.3 The Lord's Prayer in Mcn based on the Priority of Mcn and Mcn being written by MarcionThe frame of the pericope:Section 1: ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖςSection 3: the additional ἐλθέτω σου ἡ βασιλεία3.4 Early reception of the Lord's Prayer

  4 The Lord’s Prayer in Mcn

 Abraham als Element der Kanonischen Redaktion1 Abraham in der Marcionitischen und in der Kanonischen Ausgabe1.1 Abraham in der marcionitischen Ausgabe1.2 Abraham in der Kanonischen Ausgabe2 Abrahamskindschaft2.1 Abrahamskindschaft in der marcionitischen Ausgabe2.2 Abrahamskindschaft in der Kanonischen Ausgabea. Nutzlosigkeit der Abrahamskindschaft ohne Ausweis der Würdigkeitb. Verlierbarkeit der Abrahamskindschaftc. Erworbene Abrahamskindschaftd. Zusammenfassung

  3 Abrahams Glaube und seine Werke der Gerechtigkeit 3.1 Zum Verhältnis von Jakobus und Paulus 3.2 Unpaulinisches bei Paulus: Glaube und Werke 3.3 Glaube und Werke bei Jakobus und Paulus: Ein inszeniertes Missverständnis

  4 Einige Ergebnisse a. Abraham im Neuen Testament b. Textualität und Selbstreferentialität der Überlieferung

  Kanonische Ausgabe und neutestamentliche Theologie 1 Zum Profil der textgeschichtlichen These 2 Kanonische Ausgabe und kanonische Auslegung 3 Kanon und historisch-kritische Hermeneutik 4 Der „Sinnüberschuss“ der Einzelschriften in der Kanonischen Ausgabe 5 Kanonische Ausgabe, historischer Jesus und Altes Testament 6 Fazit

  Literaturverzeichnis

  Die Autoren

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im März 2015 an der TU Dresden zum Thema „Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert/The New Testament and its Text in the 2nd Century“ stattfand; sie wurde großzügig durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Die meisten Beiträge gehen auf die Vorträge zurück, die bei dieser Tagung gehalten wurden; der Beitrag von Wolfgang Grünstäudl basiert auf einem Vortrag, den er im Juni 2013 an der TU Dresden gehalten hatte.

 

An dem Zustandekommen dieses Bandes waren viele Menschen beteiligt, denen hier unser Dank ausgedrückt werden soll. Zunächst ist Nathanael Lüke, Fridolin Wegscheider und Johann Meyer für ihre organisatorische Begleitung der Tagung zu danken. Ein besonderer Dank gilt unserer Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die für einen reibungslosen verwaltungstechnischen Ablauf der Tagung gesorgt hat. Für die Begleitung und unermüdliche Hilfe im Redaktionsprozess danken wir Daniel Pauling, Tobias Flemming, Fridolin Wegscheider und Kevin Künzl.

Dresden, im September 2017

Jan Heilmann und Matthias Klinghardt

Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh.

Eine Einführung

Jan Heilmann, Matthias Klinghardt

1 Die Kanonische Ausgabe und die Kanonische Redaktion
1.1 Forschungsobjekt

Der Titel dieses Bandes besitzt trotz seiner offenen Formulierung einen programmatischen Kern. Er impliziert eine Basisthese, auf die sich alle Beiträge – in Zustimmung, Weiterführung, Differenzierung und Kritik – beziehen: Das Neue Testament ist das Ergebnis einer Edition im 2. Jh. Zu Beginn sollen dieser gemeinsame Bezugspunkt der folgenden Beiträge kurz erläutert und seine inhaltlichen Implikationen skizziert werden.

1.1 Die editio princeps des Neuen Testaments

Die Ausgangsthese einer Edition des Neuen Testaments im 2. Jh. ist nicht neu. Sie geht auf David Trobisch zurück, der schon vor 20 Jahren herausgearbeitet hatte, dass die 27 Einzelschriften des NT nicht in einem längeren, anonymen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess zu einer literarischen (und theologischen) Einheit zusammengewachsen sind.1 Diese Einheit sei vielmehr das Produkt einer einmaligen, historisch in der Mitte des 2. Jh. zu verortenden Edition. Diese Ausgabe trug bereits den Titel „Neues Testament“ (ἡ καινὴ διαθήκη) und war von vornherein als zweiter Teil einer christlichen Bibel, also mit dem Blick auf das „Alte Testament“ konzipiert. Weil diese Ausgabe des NT sich in der Folge gegenüber konkurrierenden Ausgaben durchsetzte und kanonische Geltung erlangte, wird sie als „Kanonische Ausgabe“ bezeichnet.

Trobischs These wurde von der Forschung bislang nur zurückhaltend aufgegriffen: Abgesehen von etlichen sehr allgemeinen (zustimmenden und ablehnenden) Voten und seltenen Thematisierungen von Einzelaspekten steht eine umfassende Diskussion des Konzeptes als solchem aus. Diese Zurückhaltung hat vermutlich mehrere Gründe. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass schon der methodische Ansatz auf unvertrautes Terrain führte. Denn im Unterschied zur älteren Forschung zur Entstehung des NT, die durchweg auf der sekundären Bezeugung der einzelnen Schriften durch die patristische Literatur basiert, hatte Trobisch die These einer editio princeps aus Beobachtungen an den neutestamentlichen Handschriften gewonnen. Die Einsicht, dass den Handschriften als den primären Zeugen für das NT ein größeres methodisches Gewicht vor den sekundären Testimonien der Patristik (und den tertiären Schlussfolgerungen daraus) zukommen muss, setzt sich nur langsam durch. Neben dem ungewohnten methodischen Zugang erklärt sich die Zurückhaltung wohl auch durch die gravierenden Implikationen der These: Sie erfordert eine Neuorientierung in weiten Teilen der gesamten neutestamentlichen Forschung, aber auch der Patristik. Es ist das Ziel dieses Bandes, die Diskussion dieser These zu beginnen: ihre Voraussetzungen zu überprüfen, ihre Tragfähigkeit zu evaluieren und die Reichweite ihres Erklärungswertes zu erkunden.

1.2 Die Kanonische Redaktion der Evangelien

Die entscheidende Innovation dieser These einer editio princeps liegt nicht so sehr in der Vorstellung, dass das NT schon im 2. Jh. vollständig vorlag (was ja immerhin eine Neujustierung der patristischen Belege für die Diskussion „umstrittener“ Schriften erfordert – etwa die Bestreitung der paulinischen Verfasserschaft des Hebr durch Origenes), als vielmehr in der Annahme, dass alle nt.lichen Schriften einer einheitlichen und vereinheitlichenden redaktionellen Bearbeitung durch den (oder die) Herausgeber dieser Kanonischen Ausgabe unterzogen wurden. Trobisch hatte diese integrierende Redaktion an paratextuellen Signalen festgemacht: Kodexform, Nomina Sacra und Überschriften. Aber es liegt auf der Hand, dass eine redaktionelle Bearbeitung sich nicht auf diese Elemente beschränkt haben muss.

In diesem Zusammenhang ist die Analyse des literarischen Verhältnisses zwischen dem Evangelium, das aus der für Marcion bezeugten Schriftensammlung bekannt ist, und dem kanonischen Lukasevangelium von Bedeutung.1 Obwohl diese Untersuchung von ganz anderen Beobachtungen und methodischen Voraussetzungen ausgeht, konvergiert sie mit Trobischs These der Endredaktion des NT, differenziert deren Ergebnisse und führt sie weiter. Die Analyse des Abhängigkeitsverhältnisses zeigt sehr deutlich, dass das traditionell angenommene Bearbeitungsverhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium umzukehren ist: Das für Marcion bezeugte Evangelium ist keine sekundäre Bearbeitung und „Verstümmelung“ des Lk, wie ihm von den altkirchlichen Häresiologen bis Harnack und darüber hinaus vorgeworfen wurde; vielmehr ist umgekehrt Lk eine redaktionelle Bearbeitung (und zwar überwiegend eine Ergänzung) eines älteren, vorkanonischen Textes. An dieser Stelle liegt die Konvergenz zu Trobischs These der Endredaktion des NT. Denn es lässt sich wahrscheinlich machen, dass die redaktionelle Hand, die das marcionitische Evangelium bearbeitet und in das kanonische Lk verwandelt hat, mit der von Trobisch angenommenen Endredaktion identisch ist oder in ihre unmittelbare Nähe gehört. Wenn diese „lukanische“ Redaktion ein Teil der Endredaktion des Neuen Testaments darstellt, dann lässt sich die Verfahrensweise dieser Endredaktion anhand der Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums konkretisieren und differenzieren. Diese Kanonische Redaktion hat demzufolge sehr viel mehr getan, als paratextuelle Signale, Layoutentscheidungen oder die Titelgestaltung der einzelnen Schriften zu vereinheitlichen: Sie hat tief in den älteren (vorkanonischen) Textbestand eingegriffen und eigene redaktionelle Schwerpunkte gesetzt. Vor allem hat sie die vor-neutestamentliche Überlieferung der Evangelien abgeschlossen und das Vier-Evangelienbuch in die neue Ausgabe integriert.

1.3 Die Kanonische Redaktion und der Text des Neuen Testaments

Angesichts des Umstands, dass die Herausgabe der Kanonischen Ausgabe von einem umfassenden theologischen Gestaltungswillen getragen war, der sich in umfangreichen redaktionellen Eingriffen in die älteren Texte äußert (wenige Kürzungen, etliche Änderungen und zahlreiche Ergänzungen), dann überrascht es nicht, dass ein Teil dieser Eingriffe seine Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen hat. Der Vergleich zwischen dem vorkanonischen Evangelium der für Marcion bezeugten Sammlung und dem kanonischen Lk hat an zahlreichen Stellen Berührungen mit Varianten gezeigt, die in den kanonischen Lk-Handschriften enthalten sind: In rund zwei Dritteln aller (weit über 500) Fälle korrespondieren die für Mcn bezeugten Abweichungen gegenüber Lk mit Varianten des kanonischen Lk-Textes. Diese Korrespondenzen begegnen bevorzugt (aber nicht ausschließlich) in Handschriften des sog. „Westlichen Textes“.

Diese enge Beziehung ist am besten so zu erklären, dass die Textgestalt des vorkanonischen Mcn auf die kanonischen Lk-Handschriften eingewirkt hat. Sofern Mcn kein sekundär bearbeiteter, sondern ein vorkanonischer Text mit einer breiten Rezeption ist, ist es leicht vorstellbar, dass dieses alte, vorkanonische Evangelium noch einen länger anhaltenden Einfluss auf die kanonischen Lk-Handschriften ausgeübt hat. Da sich auch der umgekehrte Einfluss der kanonischen Lk-Handschriften auf die Textüberlieferung des marcionitischen Evangeliums wahrscheinlich machen lässt,1 gab es eine Interferenz der beiden handschriftlichen Überlieferungen. Sie bezeugt das Nebeneinander von zwei verschiedenen Ausgaben desselben Textes, in diesem Fall der vorkanonischen Fassung des Evangeliums (Mcn) neben seiner kanonischen Überarbeitung (Lk).2

So, wie die Textgestalt des marcionitischen Evangeliums einen Einfluss auf die Textüberlieferung des kanonischen Lk ausgeübt hat, haben wahrscheinlich auch andere vorkanonische Texte auf die handschriftliche Überlieferung der späteren „neutestamentlichen“ Fassungen eingewirkt. Für die anderen Evangelien lässt sich ein solcher Einfluss auch feststellen; er ist allerdings nur in einem geringeren Umfang und vor allem mit einem geringeren Grad an Sicherheit feststellbar als bei Lk. Es ist eine sinnvolle Vermutung, dass sich ein ähnlicher Befund auch für die Paulusbriefe ergeben könnte; zumindest existiert mit den zehn Briefen der Marcionitischen Ausgabe eine Kontrollgröße, die eine Überprüfung dieser Annahme erlaubt. In jedem Fall liegt der Schluss nahe, dass die marcionitische Ausgabe eine Vorgängerausgabe des kanonischen Neuen Testaments war: Das Nebeneinander zweier Ausgaben und eine dazwischen liegende Redaktion ist der Kern der Grundthese, dass das Neue Testament das Ergebnis einer einheitlichen und vereinheitlichenden Edition ist.

2 Fragen und Aufgaben

Diese Skizze der Ausgangsthese mit ihren Implikationen stellt nicht die gemeinsamen methodischen Voraussetzungen der folgenden Beiträge dar (dafür liegen Arbeitsgebiete, Prägungen und Fragestellungen viel zu weit auseinander). Aber sie markiert doch einen Bereich gemeinsamer Interessen – verständlicherweise, denn im Umfeld der These einer Kanonischen Redaktion ergeben sich weitreichende Perspektiven, die teilweise erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis des Neuen Testaments besitzen. Dieses Potential soll hier sehr grob angedeutet werden.

2.1 Textkritik und Textgeschichte

Ein erster Aspekt schließt gleich an die Beobachtung an, dass die älteren, vorkanonischen Textfassungen die kanonische Handschriftenüberlieferung beeinflusst haben, so dass unter den Lesarten der kanonischen Handschriften auch Elemente der älteren Texte auftauchen. Diese textgeschichtliche Beobachtung stellt die Textkritik vor ganz neue Aufgaben und macht zugleich ein empfindliches Defizit ihrer Methodologie deutlich. Denn bei aller Differenzierung der erstrebten Textform („Urtext“; „Ältester Text“; „Ausgangstext“) und der angewandten Methode (Lokal-genealogische Methode; Coherence-Based Genealogical Method) ist das Verfahren insofern gleich, als es unter allen Varianten die jeweils älteste Textform zu eruieren sucht. In allen Modellen werden die zahlreichen Varianten als später vorgenommene, sekundäre Veränderungen des einen Bezugstextes (Urtext, Ausgangstext usw.) gedeutet, und zwar, sofern sie nicht auf Abschreibfehler zurückgehen, als redaktionelle Veränderungen. Man kann diese sekundären Veränderungen als Wucherung oder Verwildung kritisch beurteilen, man kann sie als Ausweis von „Lebendigkeit“ der Textüberlieferung positiv würdigen1 oder sie als gezielte theologische Korrekturen verstehen2 – in jedem Fall ist die Entstehung der Varianten gegenüber dem wie immer gedachten Bezugstext sekundär, so dass dieser Ausgangstext durch eine einfache duale Leitdifferenz „primär/sekundär“ identifiziert werden kann.

Sofern man jedoch mit Varianten in signifikanter Zahl rechnet, die nicht durch sekundäre Veränderungen entstanden sind, versagen alle bekannten Methoden. Denn wenn die Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auf Textformen zurückgehen, die vor dem Text der Kanonischen Ausgabe liegen, wenn also die „Varianten“ primär sind und der (erstrebte) „Text“ sekundär, dann führt die Suche nach den relativ ältesten Lesarten in der Regel zu vorkanonischen Überlieferungsstufen, die von der Kanonischen Redaktion geändert wurden. Um zwischen vorkanonischen und kanonischen Lesarten unterscheiden zu können, bedarf es eines gänzlich anderen Verfahrens. Wie dieses aussehen und methodisch validiert werden könnte, ist vorerst offen: Dies ist keine geringe Aufgabe.3 Die Annahme, dass ein signifikanter Teil der Varianten durch den Einfluss von Vorstufen des Textes entstanden ist, macht im Übrigen auf ein bemerkenswertes Defizit der gängigen Textkritik aufmerksam. Denn abgesehen von Schreibversehen, die sich in der Regel relativ leicht identifizieren lassen, gibt es keine historisch befriedigende Erklärung für das Zustandekommen von Varianten: Zeiten und Orte (wann und wo wurden Änderungen vorgenommen?), Akteure (wer ist dafür verantwortlich?) und Umstände (warum und wie wurde geändert?) – all das bleibt in aller Regel unbeantwortet und unbeantwortbar. Der gelegentliche Hinweis auf „Kopisten“ erklärt bestenfalls die Versehen, nicht aber redaktionelle Varianten. Demgegenüber eröffnet die Annahme der Kanonischen Redaktion eine historisch nachvollziehbare Erklärung für zahlreiche Varianten: Zeit, Ort, Umstände, Absichten usw. sind nicht beliebig, sondern Elemente der Kanonischen Redaktion und helfen, diese genauer zu profilieren.