MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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Zum Aspekt des Expressiven und den genannten energischen Akzentuierungen sei eine schöne Pointierung Helmut Lachenmanns zitiert: dessen Charakterisierung der Musik Weberns als »Mahler aus der Vogelperspektive, radikal auf knappste Signale reduziert«.26 An diese Worte mag man beim Hören gerade von Kurtágs Werken oft denken, zumal sich bei ihrem Erleben immer wieder Fragen nach Ausführlichkeit und Deutlichkeit stellen und das Miniaturhafte und Aphoristische durch Andeutungen oder Schatten bestimmter Erfahrungen grundiert erscheint – insbesondere durch Erfahrungen anderer Musik.

Um diese Grundzüge von Kurtágs Ästhetik adäquat zu fassen, sollte man über den Webern-Impuls deutlich hinausgreifen. Neben Stockhausen und Ligeti ist hier auch jener Komponist zu nennen, den Lachenmann mit guten Gründen im Zusammenhang mit Webern zu reflektieren suchte (und der seinerseits auch erhebliche Spuren im Komponieren der nachfolgenden Generationen hinterlassen hat), nämlich Gustav Mahler. Und dies gilt gerade für jene (Über-)Pointierungen von Expressivität, die markanter sind als die Webern’schen Klang-Signale. Charakteristisch für Kurtág sowie für die Tradition, in die er sich mit alledem einschreibt, ist an diesem Punkte nicht zuletzt das beharrliche Agieren mit Ambivalenzen und Brechungen. Die eruptiven oder geradezu eskalierenden Momente seiner Musik, also die expressionistischen Tendenzen, bleiben zwar manchmal unterschwellig oder werden von gegenläufigen Momenten relativiert oder sogar aus den Angeln gehoben. Doch bieten sie mit alledem eine spezifische Art der emotionalen Dringlichkeit, die nicht nur an Mahler, sondern auch an Alban Berg, Arnold Schönberg oder Bernd Alois Zimmermann denken lässt. Ein markantes Beispiel hierfür ist jene Stelle in den Hölderlin-Gesängen, an der im Rekurs auf ein Gedicht von Paul Celan die Worte »Pallaksch. Pallaksch« mit äußerstem Nachdruck artikuliert werden – »in äußerster Wut und Verzweiflung« lautet in der Partitur die Anweisung an den Sänger. Es liegt nahe, an Stellen wie diesen besonders die Auseinandersetzung mit Schönberg als wichtigen Impuls zu identifizieren. Dies gilt erstens mit Blick auf die Verknüpfung der charakteristischen Kürze vieler Kurtág-Werke mit ihrer pathetischen Seite. Doch zweitens rückt es die auf Beethovens Bagatellen wie auch auf Schönbergs eigene kurzen Stücke beziehbare, von Kurtág aber besonders konsequent verfolgte Idee einer auf einen »beweglichen Geist« zielenden, Diskontinuierliches, aber auch Bedeutungsschwere zulassenden Musik ins Blickfeld. Zu dieser Kunst, die in ihrer Art der Verdichtung in ganz spezifischer Weise neue Wege der Wahrnehmung reflektiert, schrieb Schönberg voller Emphase: »Große Kunst muß zu Präzision und Kürze fortschreiten. Sie setzt den beweglichen Geist eines gebildeten Hörers voraus, der in einem einzigen Denkakt bei jedem Begriff alle Assoziationen, die zu dem Komplex gehören, einschließt.«27

Die enorme Emphase der Webern-Begeisterung, die in der Rezeption von Kurtágs eigener Musik zuweilen den Blick auf beträchtliche Differenzen verstellte, kommt darin zum Ausdruck, dass er zu Beginn des 1. Satzes des 1. Streichquartetts auf Webern anspielt – und nicht ohne Pathos konstatierte, in der Exposition seines Op. 1 liege nicht allein »der Ausgangspunkt für diesen einen Satz, sondern für das ganze Quartett und darüber hinaus für ein ganzes Lebenswerk«.28 Doch alle zuvor genannten Beispiele indizieren, dass das Denken Weberns für Kurtág, ähnlich wie etwa für Nono oder Boulez,29 von Beginn an durchaus anschlussfähig war – und mithin Ausgangspunkt einer erheblichen Verbreiterung der klanglichen und syntaktischen Gestaltung sowie der gestischen Momente. Eine merkliche Differenz zur Webern-Rezeption vieler seiner Zeitgenossen besteht dabei allerdings auch in jenen Strategien, mit denen Kurtág immer wieder auch auf Gestaltungsideen früherer Zeiten rekurriert, namentlich auf Kanon, Kontrapunkt und Variation. Obschon man sogar auch diese Seite auf manche von Weberns eigenen Werkkonzepten beziehen kann, dürfte an diesem Punkte besonders Bartók einer seiner Ahnherren geblieben sein.

Der Bartók-Impuls zeigt sich bei alldem wohl auch in der für Kurtág grundlegenden Überzeugung, dass verschiedenste scheinbar weit auseinanderliegende Traditionslinien – in Bartóks eigenem Falle etwa durch Bach, Beethoven, Debussy sowie die Volksmusik unterschiedlichster Provenienz repräsentiert – unauflöslich miteinander verklammert werden können. In der Nachfolge dieses Denkens sind die auf Webern rekurrierenden Sätze 5 und 6 der Komposition Officium breve (1988/89) – von denen Letzterer den expliziten Hinweis »nach op. 31, VI von Webern« enthält – zutreffend als »Fantasie« bzw. als »frei« charakterisiert. Man darf Stücke wie diese wohl als Erfahrbarmachung der emphatisch expressiven, aber gewissermaßen unter der Oberfläche angesiedelten Potenziale von Weberns Musik bezeichnen. Diese Seite des Nicht-Puristischen führt dabei deutlich über das hinaus, was dieser Musik in früheren Zeiten zuweilen unterstellt wurde. Aber sie ist doch auch dort, wo Kurtág sich und den Interpreten seiner Musik Freiheiten gestattet, von einem eher tastenden als auftrumpfenden Gestus und großer Subtilität bestimmt.

Zu alledem passt, dass die meisten seiner Werke, zu denen auch sein Op. 1 gehört, im Bereich des Gestischen mit dem Erfahrungsschatz früherer Zeiten rechnen und diesen zumindest in fragmentierter Form einbeziehen. Gerade der Zuwachs an gestischen Gestaltungen, der schon im 1. Streichquartett ersichtlich ist,30 kann als weiteres wichtiges Merkmal von Kurtágs Ästhetik gelten. Ligeti äußerte darüber anlässlich eines Filmporträts über Kurtág: »Kurtág hat in den 1960er Jahren eine phantastisch konzentrierte Innigkeit ausgearbeitet. Was man doch alles mit kleinen Gesten machen kann.«31

II Die Vielfalt der Bezüge

»Meine Muttersprache ist Bartók, und Bartóks Muttersprache war Beethoven«, lautet ein oft zitierter Satz des Komponisten.32 Er unterstreicht nicht nur erneut das Grundlegende der Beethoven-Erfahrung auch für Kurtág, sondern zugleich die Tatsache, dass sämtliche Traditionsbezüge auf Wege der produktiven Auseinandersetzung hinauslaufen können – was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber im Musikdiskurs eine Zeitlang ignoriert wurde.

Kurtág liebt, wie schon Bartók es tat, das Beiläufige und Lapidare. Und manche der in seinen Werken enthaltenen Gesten, Klangmischungen und satztechnischen Details bieten auch heitere und punktuell sogar humoristische Tönungen. Dabei lässt seine Art des Humors zuweilen an dieselbe, von Wechseln der Stilregister geprägte Dimension im Werk Beethovens denken – nicht zufällig hat Kurtág dessen Bagatellen für Klavier oft als inspirierend bezeichnet. Andererseits sind einige von seinen eigenen Werken undenkbar ohne ihre existenziellen und düsteren Momente. Dies gilt für den Bereich der Instrumentalwerke, vor allem aber auch für die textbezogenen. Es markiert eine deutliche Differenz zu Ligeti (sowie zu Beethoven und Lachenmann) und legt eher Seitenblicke auf Komponisten wie Nono oder Dmitri Schostakowitsch nahe.33 Mit beiden verbindet Kurtág zudem die Neigung, die existenzielle Seite mit porträtartigen Reflexionen über bestimmte Künstlerpersönlichkeiten (insbesondere Dichterinnen und Dichter) und deren Schicksal zu verknüpfen (besonders in Kurtágs Widmungen, etwa in den Kafka-Fragmenten, ist diese Neigung zu spüren). Zur besonderen Intensität von Kurtágs Klangsprache, die dieser Seite verpflichtet ist, gehören die schon erwähnten, manchmal bloß kurz aufblitzenden Momente des Konflikthaften, Dramatischen, mitunter sogar Exaltierten, die gemeinsam mit der Dimension des Gestischen die Charakterisierung etlicher Stellen als »Minidramen« erlaubt. Doch gibt es, besonders in den Werken der 1980er und frühen 1990er Jahre, auch Phasen des Verlöschens oder der Erschließung ungewöhnlicher Klangräume. In diesen Werkmomenten ist der Bezug zu Nono, mit dem Kurtág gerade in den 1980er Jahren einen engen Austausch hatte, besonders stark greifbar.

Ein eindringliches Beispiel dafür sind die Lieder der Schwermut und der Trauer op. 18, entstanden zwischen 1980 und 1994. Das Stück nimmt Bezug auf Dichtungen u. a. von Alexander Blok, Sergej Jessenin, Osip Mandelstam, Anna Achmatova und Marina Zwetajewa und kann im eben angedeuteten Sinne auch als Folge impliziter Porträts dieser in der Sowjetunion zum Teil verfolgten Dichterpersönlichkeiten gelesen werden. Doch noch bemerkenswerter in diesem sechsteiligen Zyklus ist, wie dieser mit wechselnden instrumentalen Mischungen auf den Chorklang reagiert. So treten gleich im ersten Lied vier Bajans und zwei Harmonien hinzu – auf solche Weise werden Momente des Atmens vervielfältigt und zugleich reflektiert, dabei oszilliert das musikalische Geschehen zwischen Verschmelzungs- und Kontrastmomenten. Einen neuen Tonfall bringt das Schlusslied, rekurrierend auf einen Text von Zwetajewa, der eine seltsam fahle Tönung exponiert. Um diese zu akzentuieren, wird der Instrumentalpart erheblich geweitet. Und dies führt zu einer magischen, zerbrechlichen, introvertierten Klangsprache, dominiert von leisen Schlagzeugklängen, extrem leisen Klangflächen in den Instrumenten und geflüsterten Passagen im Chorpart.


Notenbeispiel: György Kurtág, Lieder der Schwermut und der Trauer, Schluss, © 1996 by Editio Musica Budapest

 

Wohl nie stand Kurtág der Ästhetik des Spätwerks von Nono näher als in diesem Schlussteil des Werkes, der ein Jahr nach Tod des italienischen Komponisten – auf den Kurtág mit einem emphatischen Nachruf reagierte34 – bei einem längeren Aufenthalt in Berlin vollendet wurde.

Doch auch in einer anderen Hinsicht dürfte der Zyklus von einer für Nonos Musik charakteristischen Prägung inspiriert sein. Gemeint ist jene Art der Raumauffächerung, wie sie etwa in Nonos Prometeo (1981–85) und kurz darauf in Kurtágs … quasi una fantasia … realisiert ist. Kurtágs Raum-Stück (bei dem, wie schon angedeutet, vielleicht auch der Impuls von Stockhausens Gruppen zum Tragen kommt) ist erfüllt von einem Modus der Raumerschließung, der nicht machtvoll, sondern vom Gestus des Suchens und Erkundens sowie von kleinsten expressiven Übergängen geprägt ist. Zudem ist er eingebunden in ein Werkkonzept, das auch Resonanzen von Beethovens und Schumanns Musik entfaltet.35

Betrachtet man die längst als Kurtágs Markenzeichen geltenden enorm vielfältigen Referenzen zum Schaffen anderer Komponisten, sollte man die oft mehr als graduellen Unterschiede der Bezugnahmen nicht übersehen. Manche Pointierungen tauchen eher kurz auf, etwa durch punktuelle Allusionen. Assoziativ oder mit flüchtigen Anspielungen oder Pseudo-Zitaten verfährt Kurtág besonders dort, wo sich beim Komponieren gleichsam zufällig Erinnerungen an Musik anderer ergeben. Dass er zuweilen, anspielend auf Strategien der bildenden Künste, von der Idee des »objet trouvé« spricht, signalisiert den Verzicht darauf, allen intertextuellen Bezügen eine Verarbeitung oder umfassende Reflexion zuteilwerden zu lassen (von einem Werk, bei dem dies anders ist, wird gleich noch die Rede sein).

Wenn Kurtágs Musik bestimmten Bezügen gleichsam nachhorcht, die manchmal ähnlich überraschend ins Spiel geraten wie die berühmten Blechbläser-Passagen aus Stockhausens Gruppen, scheint mittels Resonanzen unterschiedlichster Deutlichkeit und Prägnanz die Eingebundenheit seines musikalischen Bewusstseins in mehrere Jahrhunderte Kunstmusik auf. Insofern enthalten die vielfältigen Referenzen einen Habitus der Selbstvergewisserung und sind als emphatische Konfigurierung eines Horizonts lesbar. Solche Emphase ist aber zugleich als bewusster Kontrast zu jenen politisch düsteren Zeiten zu deuten, die Kurtág vor allem vor 1989 erlebte und die zumindest zeitweilig mit einer staatlich verordneten Abschottung einhergingen. An diesem Punkt zeichnet sich eine Parallele zum Komponieren von Sofia Gubaidulina ab, die in ihrem Violinkonzert Offertorium (1980/86) gleichermaßen auf Johann Sebastian Bach und auf Anton Webern rekurriert (ausgehend von Weberns Bearbeitung des Ricercars aus dem Musikalischen Opfer). Gerade Gubaidulina hat damit ein denkbar nachdrückliches Bekenntnis zu einer Tradition formuliert, die durch die politischen Umstände in ihrem Land zeitweilig ignoriert wurde. In beiden Fällen sollte man jedoch – ähnlich wie bei den bekenntnishaften Rekursen auf Künstler im Schaffen Nonos – vorsichtig sein, das Biografische überzubetonen, um nicht Gefahr zu laufen, das Überzeitliche zu marginalisieren. Mit Schillers Idee einer »ästhetischen Freiheit« hat dieses Überzeitliche, das in seiner emphatischen Tönung auch weit mehr ist als die oft viel zu schlicht konstatierte Verwurzelung in der Tradition, gewiss viel zu tun.

III Schumann-Rezeption

Als György Kurtág im Jahre 2004, als längst in der Szene der Gegenwartsmusik anerkannter Komponist, Dozent der Darmstädter Ferienkurse war, überraschte er mit einer Haltung, die manche Kursteilnehmer damals als persönliche Marotte oder gar Verweigerungshaltung deuteten: Er verzichtete auf Lectures zu seiner Ästhetik oder zum Komponieren insgesamt, wie man sie an diesem Ort eigentlich gewohnt war. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gründliche Arbeit mit den Ausführenden seiner Musik. Für ihn war diese Arbeit, gewiss mehr als für die meisten anderen namhaften Komponistenpersönlichkeiten seiner Generation, jahrzehntelang ein wesentlicher Teil seiner Identität als Künstler. Und mit großer Beharrlichkeit umfasste diese Arbeit immer wieder auch die Reflexion der Potenziale klassisch-romantischer oder auf diese reagierender Kunstmusik.36 Dies reicht bis zu Situationen eines »objet trouvé«, die zumindest dann, wenn sie adäquat realisiert werden, etwas Überraschendes haben. »Feierlich: Hommage à Bruckner« heißt es an einer Stelle (T. 21/22) im ersten Teil des Orchesterwerkes Stele (1993/94, rev. 2006). Das verhilft dem Stück keineswegs zu einer stabilen Feierlichkeit, wohl aber zu einer überraschenden Pointierung, einer kurz aufblitzenden Vision, die in fast paradoxer Weise subtil und doch im Kontrast zu der bis dahin dominierenden, von mikrotonalen Schwankungen geprägten Fragilität steht.

Besonders eines seiner kammermusikalischen Stücke, die auf Robert Schumann fokussierte Hommage à R. Sch. (1975–90), steht dafür, dass die Auseinandersetzung mit unzähligen Werken früherer Zeiten auch vielfältige Spuren im eigenen Schaffen hinterlässt – und das reflektierende, mit ungewöhnlichen Pointierungen aufwartende Spiel mit Perspektiven früherer Musik darin eine wichtige Facette sein kann. Der erste der insgesamt sechs Sätze dieses Werkes, das die an der Aura romantischer Kammermusik orientierte Besetzung Klarinette, Viola und Klavier verlangt (und unmittelbar von der Beschäftigung mit Schumanns gleich besetzten Märchenerzählungen inspiriert ist), trägt den Titel »Merkwürdige Pirouetten des Kapellmeisters Johannes Kreisler«. Auch dies ist auf Schumann bezogen, in diesem Fall auf dessen berühmte Kreisleriana, auf deren Horizont Kurtágs Stück in vielfältiger Weise anspielt. Außer Johannes Kreisler, dem poetischen Mittelpunkt der Kreisleriana, finden sich dabei auch andere konkrete Bezugspunkte: nämlich Florestan, Eusebius und Meister Raro, also jene drei schillernden imaginären Davidsbündler-Gestalten, in deren Namen Schumann seine Kunstanschauung formulierte und auch komponierte.37 Die Davidsbündler sprechen, wie Schumann selbst betont hat, nicht selten mit humoristischem oder ironischem Zungenschlag. Und die Fähigkeit, solche sanft irritierenden Färbungen in sich aufzunehmen, ist auch den oft bruchstückhaften und von rätselhafter Einfachheit bestimmten Setzungen von Kurtágs Hommage-Stück eigen. Sie halten sich weithin abseits thematisch-motivischer Entwicklungen. Auf engstem Raum bringen sie sowohl fiebrig aufbrausende als auch eingedunkelt wirkende und fast resignativ fahle Tönungen. Doch keine dieser Grundhaltungen erhält Raum zur Stabilisierung oder üppigen Entfaltung, immer wieder gibt es Brechungen und Infragestellungen. Nachdem die ersten fünf Sätze von der für Kurtág charakteristischen miniaturhaften Knappheit und Verdichtung sind (sie dauern jeweils weniger als eine Minute), maßt sich einzig der letzte Satz eine Länge von sechs Minuten an. Es ist ein weitgehend ruhiges, verdämmerndes Adagio, an dessen Ende der Klarinettist für einen Moment eine große Trommel zu verwenden hat. Dieser absichtsvoll inhomogen wirkende, seltsam surreale Schluss erscheint wie eine Antwort auf die zuvor flüchtig-andeutungsweise gesetzten virtuosen und extrovertierten Momente, die ihrerseits wie Anspielungen auf Schumanns Reflexionen von Virtuosität wirken. Wenn nun die Figur des Meister Raro eingeführt wird und ein Bezug zu Machaut ins Spiel gerät, darf dies als Hinweis auf Schumanns berühmte Aufforderung gedeutet werden, die gerade Meister Raro in den Mund gelegt wird: »Gebt den Jünglingen die Alten als Studium, aber verlangt nicht von ihnen, dass sie Einfachheit und Schmucklosigkeit bis zur Affektion treiben«, heißt es bei Schumann just im Zusammenhang mit Guillaume de Machaut. Kurtágs Hommage reagiert darauf durch eine Passacaglia, die gleichermaßen auf Schumann wie auf Strategien der viel älteren Musik verweist. Wenn er sich auf die Spuren Schumanns und anderer Komponisten begibt, hat er kein monumentales Denkmal im Sinn, sondern eine differenzierte Auslotung poetischer Ideen, deren Kern das intern Widersprüchliche ist. Wie schon im Abschnitt »Hommage à Schumann« der Kafka-Fragmente (Nr. 18 »Träumend hing die Blume«) ist die Attitüde der Zwiesprache mit einer ihm nahestehenden, von extrem körperlichen Gesten geprägten Klangsprache des 19. Jahrhunderts unverkennbar. Doch typisch für Kurtágs Schumann-Reflexe sind nicht die vereinzelten mehr oder minder deutlichen Anspielungen auf konkrete Stellen, sondern ist die expressive Intensität, mit der gerade an die Ästhetik Schumanns und ihre Eigenwilligkeiten angeknüpft wird. Namentlich Schumanns Idee einer mit Merkwürdigkeiten vollgesogenen poetischen Musik abseits der strengen klassischen Formprägungen wird dabei zum Referenzpunkt. Schumanns Musik ist für Kurtág darin ein Vorbild, dass sie zu Lösungen kommt, die die genannten Impulse Beethovens keineswegs anzweifeln oder gar suspendieren, aber mit dem bereichert, was bei Schumann (beflügelt von frühromantischen Ideen) »neue poetische Zeit« hieß. Auch Kurtág, der zwar gern auf dem Nicht-Systematischen und Intuitiven seines Komponierens beharrt, aber doch gleichzeitig höchst detailreich und genau arbeitet, entfaltet eine Musik voller poetischer Tönungen und Gesten, die – wie diejenige Schumanns – dazu angetan ist, tiefgründig existenzielle Momente anzudeuten, aber diese mit gegenläufig pointierten Akzenten zu verschränken. Selbst wenn es in seinem Schaffen eine Fülle von auskomponierten Verbindungen zu früheren Komponisten gibt, erscheint kaum ein Stück so dezidiert programmatisch wie diese Schumann-Hommage. Daraus spricht das Bewusstsein, dass die Relevanz von Schumanns Ästhetik – und gerade von Schumanns Gegenentwürfen zu streng diskursiven Gestaltungen sowie seine von Jean Paul inspirierte Verschränkung von Witz und Ernst – für das Komponieren der neueren und neusten Musik nicht unterschätzt werden sollte.38

Kernideen der romantischen Musik und namentlich ihre Leidenschaftlichkeit aufblitzen zu lassen, meint bei Kurtág dementsprechend: diese Seite nicht bloß zu beschwören oder gar überkochen zu lassen, sondern zugleich zu fragmentieren und auch Raum für Momente des Verlöschens zu lassen. Dieses Fragmentieren ist im Laufe von Jahrzehnten ein bevorzugter Modus seines Komponierens geworden, getragen, relativiert, aber zugleich intensiviert durch lapidare oder bloß hauchende Momente. Zu dieser Einsicht passt es, dass in die Hommage à. R. Sch. offenkundig auch Bezüge zur Musik Gustav Mahlers eingelassen sind.39 Mahlers Neigung zum Ambivalenten, Gebrochenen und zugleich Existenziellen, die bei Schumann anklingt und auch für manche von Kurtágs Generationsgenossen wichtig wurde (so etwa für Henri Pousseur), scheint gerade hier nachzuklingen.