MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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ANNA DALOS

Von Darmstadt angezogen

György Kurtág und die musikalische Avantgarde um 1959

István Balázs formulierte 1986 eine These, die seither zu einem wiederkehrenden Element des öffentlichen Diskurses über György Kurtág geworden ist: Die Werke des Komponisten widersetzten sich jedem analytischen Ansatz, seine Kunst sei von Natur aus unbeschreiblich.1 In der überarbeiteten ungarischen Fassung seiner Studie hatte er diesen Standpunkt aus der neuen Publikation ausgelassen,2 denn Balázs erkannte, dass jede Musik analysiert werden kann. Gleichzeitig behielt er jedoch das wichtigste Motiv seiner Interpretation bei, dass die Unmöglichkeit der Analyse von Kurtágs Kunst in erster Linie auf der moralischen Natur dieses Schaffens beruhe. Kurtágs Musik wolle weder vorgefertigten Ideologien entsprechen, noch möchte sie eine neue Welt der Werte repräsentieren, sondern vermittle ein neues Wertesystem, das auf einer weiterentwickelten Persönlichkeit basiere.3 Kurtágs Musik übt also einen moralischen Einfluss aus. Zweifellos erlaubt diese Art der Herangehensweise keine streng musikalische Analyse, da sie die Persönlichkeit und die vermeintliche Intention des Komponisten in den Mittelpunkt der Interpretation stellt: Die Ausstrahlung der Persönlichkeit überschreibt dementsprechend die musikalischen Eigenschaften der Werke, die Kompositionen tragen keine musikalischen Merkmale, sondern ästhetisch-ethische Inhalte. Jedoch erwies sich jene Annäherung als ziemlich problematisch: Diese Interpretation verhüllt vor uns die wirklichen Qualitäten der Musik und macht es zudem unmöglich, das Lebenswerk kritisch zu bewerten.

Obwohl die ethische Interpretation des Kurtág-Œuvres insbesondere unter ungarischen Musikwissenschaftlern4 zu einem Kernelement des professionellen Diskurses über den Komponisten geworden ist, unternahmen viele Spezialisten – seit der Veröffentlichung von György Kroós Zusammenfassung über die Geschichte der ungarischen Komposition der letzten 25 Jahre im Jahr 19715 – den Versuch, die Charakterzüge von Kurtágs Kunst aus ihren musikalischen Eigenschaften herzuleiten. Die erste, sogenannte Avantgarde-Periode (1959/63), die mit dem Streichquartett op. 1 begann, wurde gründlich untersucht. Vier klar definierte, aber teilweise miteinander verbundene Themen entfalteten sich im Gefolge von Analysen: Kurtágs Beziehung zur Tradition, Kurtágs Gebrauch der Dodekafonie, die gestische, sprachliche und programmatische Natur seiner Musik und die Dominanz kleiner Formen.

I Annäherungen an Kurtágs Stil

Analytiker präsentieren die Kompositionen der Avantgarde-Periode – hauptsächlich das Streichquartett op. 1 – in der Polarität von Webern und Bartók: Laut diesen Arbeiten übernahm Kurtág die Kompaktheit und Gestik von Webern, die Melodiebildung sowie die Verwendung von Glissandi, Pizzicati und Ostinati und die Brücken-Form von Bartók.6 Die meisten Analysen weisen jedoch auch darauf hin, dass in Kurtágs Kunst die Rezeption Weberns nur sehr abstrakt erfasst werden kann.7 Es ist bekannt, dass Kurtág vor seiner Reise nach Paris, Anfang 1957 den Webern-Gedenkband der Reihe von György Ligeti erhielt,8 und dass er viele Kompositionen von Webern in Paris kopierte.9 Er hatte die Möglichkeit die Sechs Stücke für Orchester op. 6 und die Vier Stücke für Geige und Klavier in den von Pierre Boulez organisierten Domaine Musical-Konzerten zu hören.10 Während er das Streichquartett komponierte, stellte er eine Reihen-Tabelle für die Symphonie op. 21 zusammen.11 Doch bereits Tobias Bleek richtete die Aufmerksamkeit auf die begrenzte Anzahl von Dokumenten von Kurtágs Webern-Rezeption – insbesondere im Vergleich mit dem ausführlichen Quellenmaterial von György Ligetis Webern-Rezeption.12 Außerdem hatte Kurtág um 1957 wenig klangliche Erfahrung mit Weberns Werken: Seine Aussagen über sein mangelndes Verständnis von Weberns Musik, wie es Bleek betont, erklären sich gerade durch den Mangel solcher Erfahrungen.13 Die deutlichen Unterschiede zwischen den Lebenswerken Weberns und Kurtágs haben vermutlich die vorsichtigen Analytiker veranlasst, sich hauptsächlich auf das Temperament der beiden Komponisten zu beziehen. Wie Kroó formulierte: Kurtágs musikalische Welt ist, trotz der offensichtlichen geistigen Verwandtschaft zwischen den beiden Œuvres, viel geräumiger als die von Webern.14 Jürg Stenzl wies darauf hin, dass, während bei Webern der Klang mithilfe der Transformationen der musikalischen Figuren immer einem musikalischen Plan dient, es bei Kurtág keine kontinuierliche Transformation gibt. Trotzdem spielt der Klang eine dominierende Rolle.15

Detaillierte Analysen von Kurtágs Einsatz der Dodekafonie lieferten Simone Hohmaier und Péter Halász.16 Beide studierten die Zwölftönigkeit des Streichquartetts – obwohl es eine Zeitlang so ausgesehen hatte, dass der 1. Satz von Kurtágs Kantate Sprüche des Péter Bornemisza die erste streng zwölftönige Kurtág-Komposition war17 –, und verdeutlichten, dass Dodekafonie in Kurtágs Kunst keine konsequent angewandte Technik ist. Die Reihe dient dementsprechend keineswegs als alleinige Grundlage für seine Arbeiten, sondern funktioniert als eines von vielen verwendeten Kompositionswerkzeugen.18 Tobias Bleek behauptet sogar, dass Kurtág die Dodekafonie in keiner Weise orthodox benutzt habe; dies zeigt auch, dass seine Quelle nicht Webern war. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Kurtágs Interpretation der Dodekafonie auf Hanns Jelineks Lehrbuch von 1952 basiere.19

Es ist eine allgemeine Beobachtung, dass Kurtágs Musik gestische Musik ist, in der die Sprachähnlichkeit im Mittelpunkt steht. Kroó meint, dass nicht nur Silben, Wörter und Schreie in den Kompositionen vorkommen, sondern dass dieses Vokabular auch eine echte Syntax erzeuge.20 Rachel Beckles Willson setzt die sprachlichen Merkmale von Kurtágs Musik parallel zu ähnlichen Werken Ligetis. Diese Parallele wird durch die bekannte Tatsache gerechtfertigt, dass das 1958 geschriebene Ligeti-Werk Artikulation einen tiefgreifenden Einfluss auf Kurtág ausgeübt hat. Ausgehend von dieser Parallele nimmt Beckles Willson die Existenz eines charakteristisch ungarischen Idioms an, jedoch betont sie, dass Kurtágs musikalische Sprache gerade mit seiner Syntaxlosigkeit gegen die traditionellen Denkweisen protestiere.21 Die programmatischen Merkmale von Kurtágs Werken hängen auch mit dem gesprochenen und gestischen Inhalt dieser Musik zusammen. Basierend auf Kurtágs Aussagen und Erinnerungen assoziiert Peter Hoffmann die beiden Außensätze des Streichquartetts mit bestimmten Szenen von Franz Kafkas Die Verwandlung, während die mittleren Sätze als Echos von Kurtágs Alltag in Paris interpretiert werden.22


Notenbeispiel 1: György Kurtág, Die Sprüche des Péter Bornemisza (III/3), »Virág az ember« György Kurtág, »Die Sprüche des Péter Bornemisza | Concerto | für Sopran und Klavier | op. 7«, © Copyright 1973 by Universal Edition A.G., Wien/UE14493

Laut Stephen Walsh leitet sich die Kürze der Kurtág-Formen auch aus der Gestensprache ab,23 während andere – wie beispielsweise Stenzl24 – die aphoristischen Formen auf Webern zurückführen. Vielleicht aufgrund einer missverstandenen Aussage von Kurtág hält sich auch die Idee hartnäckig, dass die Struktur seiner Zyklen – vor allem aber das Streichquartett op. 1 – aus der Bartók’schen Brückenform stamme, obgleich sie immer aus geradzahligen Sätzen bestehen.25 Als ein wichtiges Analyseprinzip wird der Kurtág eigene Grundtyp des periodischen Denkens betrachtet, also das Frage-Antwort-Paar, das einige seiner Kompositionen charakterisiert. Ein paradigmatisches Beispiel ist der Satz Virág az ember [Der Mensch, eine Blume], der zuerst in den Sprüche[n] von Péter Bornemisza (Notenbeispiel 1) auftaucht.

Die ersten fünf Noten – wie Kurtág selbst formuliert – werden zu einer Frage-und-Antwort-Periode (2 + 3 Noten) geformt, gefolgt von einer dreitönigen Coda.26 Peter Hoffmann meint darin Kurtágs Intention von der Verknüpfung des radikalen musikalischen Denkens mit der Bewahrung der Tradition zu erkennen.27 Simone Hohmaier hingegen weist auf den Einfluss der späten Beethoven-Quartette und der letzten Klaviersonaten hin, die für Kurtág – im Kontext des periodischen Denkens – so wichtig waren.28

 

II »Das sprachliche Niveau« und das Komponieren aus Rohmaterialien

Die oben erwähnten, oft widersprüchlichen Interpretationen basieren auf der Tatsache, dass die Kurtág-Werke, die zu dieser Zeit entstanden, in Bezug auf ihre Kompositionstechnik außergewöhnlich sind – sowohl in der ungarischen als auch in der europäischen Musikgeschichte. Während Kurtágs Kompositionen im ersten Fall beispiellose Dokumente der Besetzung der westlichen neuen Musik sind,29 repräsentieren sie im zweiten Fall die Geburt der postmodernen Musik, die sich der radikalen Moderne entgegensetzt.30 Analytiker sind sich jedoch einig, dass diese Stücke aus technischer Sicht eine hohe Qualität erreichen: Kroó sagt, dass Kurtág sich in diesen Arbeiten als Meister des neuen Stils und der neuen Technik präsentiere,31 während Tobias Bleek die These von Stockhausens Webern-Schrift (»Zum 15. September 1955«) auf Kurtág projiziert, in der Stockhausen betont, dass, obwohl Webern nicht nachgeahmt werden könne, aber kein zeitgenössischer Komponist »das sprachliche Niveau« seiner Musik unterschreiten solle.32

Es stellt sich wohl zu Recht die Frage, ob die Kompositionen der ersten, avantgardistischen Periode von Kurtág wirklich das wahrgenommene sprachliche Niveau von Weberns Kunst erreichen. Und wenn ja, wie sind Kurtágs Aussagen zu verstehen, in denen er auf die Grenzen seiner eigenen kompositorischen Fähigkeiten hinweist? »Die Technik des Komponierens konnte ich mir eigentlich nie richtig zu eigen machen«, sagt er.33 Besonders hervorzuheben sind seine Aussagen im Bezug auf die Partituren Weberns und Stockhausens, die er studierte, sowie seine Lektüre über neue Musik zu dieser Zeit. In einem Interview mit Ulrich Dibelius sagte er, dass ihn die Analyse von Weberns Werken verwirrt habe.34 Auf die Frage von Friedrich Spangemacher antwortete er beschämt, dass er der Partitur von Stockhausens Gruppen nach der ersten Seite nicht folgen konnte,35 und dass in den Aufsätzen von Boulez und Stockhausen – zum Beispiel in Stockhausens Schrift, »… wie die Zeit vergeht …«36 –, auf die ihn Ligeti aufmerksam gemacht hat, er sich »in wenigen Sekunden« verloren habe: »Ich verstand ihr Denken nicht«, erinnerte er sich.37

Wir sind es gewohnt, solche Äußerungen mit Skepsis zu behandeln: Bestenfalls dokumentieren sie das mangelnde Selbstwertgefühl des Komponisten, schlimmstenfalls seine Tiefstapelei. Dennoch stellt sich die Frage: Wenn wir die ersten Kompositionen, die das neue Kurtág-Œuvre eröffnen, als technisch hochwertige Werke betrachten, die keine kompositorisch-technische Diskrepanz aufweisen, werden wir sie überhaupt verstehen? Ist es nicht möglich, dass Kurtágs individuelle Musiksprache, die auf der Intertextualität basiert, aus der Tatsache entstanden ist, dass der Komponist – im Gegensatz zu seinen Analytikern – erkannte, dass er »das sprachliche Niveau« der 1950er Jahre, was durch Weberns Musik, genauer gesagt eigentlich von der Stockhausens und Boulez’ vorlag, nicht erreichen konnte? Und ist es nicht möglich, dass die ersten, mit Opus-Nummer gekennzeichneten Kurtág-Kompositionen Abdrücke dessen sind, was der Komponist aus seiner, in den Jahren 1957 und 1958 gesammelten Erfahrungen de facto geistig oder musikalisch verarbeiteten konnte, mit anderen Worten, was er aufgrund seiner eigenen, eher geschlossenen Tradition davon verstehen konnte?

Die 40 Sätze der ersten sechs Werke mit Opus-Nummer wurden für verschiedene Ensembles erarbeitet (Tab. 1).38

Tabelle 1: György Kurtágs Werke zwischen 1959 und 1968


JahrWerk
1959Op. 1: StreichquartettOp. 2: Bläserquintett
1960Op. 3: Acht Klavierstücke
1961Op. 4: Acht Duos für Geige und Cimbalom
1962Op. 5: Jelek für Bratsche (revidiert: 1992)Op. 6/c: Szálkák für Cimbalom (beendet: 1973)
1963–68Op. 7: Die Sprüche des Péter Bornemisza

Auffällig ist jedoch die Kraft des Traditionalismus in den meisten ausgewählten Gattungen: Das erste Werk ist ein Streichquartett. Kurzum, die Ouvertüre von Kurtágs neuer Periode ist mit einem Genre verbunden, das traditionell als die größte Herausforderung der Kompositionstechnik betrachtet wird. Op. 2 wendet sich dem Genre Bläserquintett zu, einem der wichtigsten Genres im ungarischen Musikleben der 1950er Jahre.39 Die Reihe Acht Klavierstücke (op. 3) – mit dem neutralen Titel – verweist vermutlich zudem auf Kodálys Zehn Klavierstücke (op. 3): Solche Anspielungen auf klassische Opus-Nummern sind in Kurtágs Œuvre auch später nicht selten.40 Die ersten drei Zyklen machen gerade darauf aufmerksam, dass der Komponist zu Beginn seiner neuen Periode vorhatte, die Neuheiten seiner Kunst in bewährten traditionellen Genres zu präsentieren. Gleichzeitig zeigt die Auswahl der Instrumente (in erster Linie die Benutzung von Cimbalom) im Acht Duos (op. 4) und Szálkák (Splitter, op. 6/c) einen spezifischen nationalen Traditionalismus, obwohl der Hinweis auf die ungarische Musiktradition im Op. 2 und 3 auch klar ist. Vielleicht enthalten die für Bratsche geschriebenen Jelek (Zeichen, op. 5) die geringste Zahl der traditionellen Elemente. Sein Titel ist hauptsächlich autobiografisch geprägt: Wie Kurtág über seine in den Pariser Monaten unter dem Einfluss von Marianne Stein entstandenen Kompositionen schrieb, gab er mit deren Hilfe tatsächlich der Außenwelt »Zeichen«.41 Dies mag auch die Tatsache erklären, dass Jelek – ähnlich wie Szálkák – im späteren Kurtág-Œuvre ihr eigenes Leben weiterführen, das heißt eine der wiederkehrenden Grundformeln seines Lebenswerks darstellen.42

Die Wiederverwendung zuvor komponierter musikalischer Rohstoffe ist jedoch nicht nur ein charakteristisches Merkmal der Zeit nach den Sprüche[n] des Péter Bornemisza. Tobias Bleek weist darauf hin, dass Kurtág sein Klavierstück, das er auf Marianne Steins Rat geschrieben hat, bereits in der ersten Avantgarde-Periode als »Reservoir« benutzte.43 Beispielsweise wurden die letzten drei Sätze der Acht Klavierstücke, die er als Teil einer Variationsserie konzipierte, auch vom Skizzenmaterial des Pariser Klavierstücks auf den nachfolgenden Zyklus übertragen.44 Die drei Sätze sind innerhalb der Acht Klavierstücke deutlich von den anderen Sätzen getrennt, und insbesondere die enge Verbindung zwischen dem 6. und dem 7. Satz ist klar. Der 7. Satz variiert nicht nur den 6., sondern die beiden Sätze sind attacca miteinander verbunden. Außerdem gibt Kurtág in dem 7. Satz nicht die Taktart an, sondern nimmt die achttaktige Komposition als Fortsetzung vom 6. Satz im 3/4-Takt. Das Variationsprinzip wird auch durch die thematische Beziehung verstärkt: Die kleinen scharfen Rhythmen des 6. Satzes kehren in den Vorschlägen des 7. wieder.45 Die im letzten Takt des 6. Satzes erscheinenden Zweiunddreißigstelnoten dienen als Auftakt für den 7. Satz. Die Sätze 7 und 8 werden durch einen »Ellbogenakkord« verbunden: Der »Ellbogenakkord«, der den 7. Satz schließt, wirkt wie Arnold Schönbergs »Variationsmotiv«,46 da sich die spätere Variation aus einem Motivelement der früheren Variation entfaltet. Gleichzeitig ist der Abschluss des 8. Satzes äußerst überraschend: Die heroisch-banale Schließung verweist auf Liszt und scheint nicht nur den letzten drei Sätzen, sondern auch dem gesamten Zyklus stilistisch fremd zu sein.

III Grundtypen der Sätze

Der 6. und 7. Satz passen auch nicht in die charakteristischen Satztypen der ersten Periode. Die fast 40 Sätze können in fünf Grundtypen eingeteilt werden (Tab. 2).

Tabelle 2: Satztypen in Kurtágs Werken


SchnellSchnellSchnellLangsamLangsam
AgitatoVivoRisoluto»Klänge der Nacht«Periodisch
Op. 1/1Op. 1/3Op. 1/2Op. 1/4Op. 2/1
Op. 2/2Op. 2/3Op. 1/5Op. 2/4Op. 2/6
Op. 2/8Op. 3/5Op. 3/1Op. 2/5Op. 2/7
Op. 3/8Op. 4/6Op. 4/3Op. 3/2Op. 3/3
Op. 4/2Op. 4/8Op. 5/2Op. 4/4Op. 3/4
Op. 5/1Op. 5/4Op. 5/6Op. 5/3Op. 4/2
Op. 6/1Op. 6/3Op. 6/4Op. 4/5
Op. 4/7
Op. 5/5
Op. 6/2


Notenbeispiel 2: György Kurtág, Jelek op. 5, 6. Satz, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest, mit freundlicher Genehmigung

Die drei schnellen Typen – die basierend auf den Charakteranweisungen als »Agitato«, »Vivo« und »Risoluto« benannt werden können – überlappen sich häufig. »Agitato« und »Vivo« enden entweder mit einem endgültigen Abschluss oder mit einer Schwächung. Aber während sich die musikalischen Charaktere im »Agitato« sehr oft ändern, die sehr raschen »Vivo« neigen dazu, immer Ostinati und Wiederholungen anzuwenden.47

Die schnellen Musikprozesse werden oft aleatorisch entfaltet. Bei »Risoluto«-Sätzen hingegen spielt das rhythmische Element eine Schlüsselrolle, und diese Sätze haben immer einen eindeutigen Abschluss. Das Tempo ist jedoch bei keinem der drei Typen konstant: Es fällt auf, dass jeder Satz durch eine Art Tempo-Schweben gekennzeichnet ist. In ihnen passiert so viel, dass das metrische Denken – trotz Ostinati und rhythmischer Bewegungsformeln – nicht die Kontrolle übernehmen kann. Und obwohl Kurtág meistens Taktstriche verwendet – er lässt sie nur in elf unter den 40 Sätzen weg, und in zwei anderen mischt er die zwei Schreibweisen48 –, sehen wir kaum Taktzeiger in der Partitur: Kurtág kündigt nur die Grundeinheit an.

Der 6. Satz von Jelek (op. 5) ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, wie ein solcher schnell-dichter, aber metrisch schwebender Satz aufgebaut sein kann (Notenbeispiel 2).49 Pausen und musikalisches Geschehen wechseln einander ab. Das musikalische Geschehen selbst verwendet immer konstante und variable Elemente: Die Bewegung wird immer aus Sechzehnteln gebaut, aber die Anzahl dieser Sechzehntel ändert sich stets. Während in der zwei- oder dreistimmigen Struktur eine Note immer als Orgelpunkt fungiert, ändern sich seine Höhe und Position – sogar seine Position innerhalb des Akkords – ständig. Es ändern sich die Strichart sowie die Dynamik, der Stimmumfang und die Länge der Pausen. Die verwendeten musikalischen Parameter sind sehr einfach, und der Rezipient erkennt sehr bald die Logik des Spiels, weiß aber nie genau, was als Nächstes passieren wird.

Übrigens beruht die überwiegende Mehrheit der Formen von Kurtág auf dieser Unvorhersehbarkeit. Anders formuliert, Kurtág baut auf die Erwartungen des Rezipienten und die Nichterfüllung dieser Erwartungen. Beispielsweise verwendet der 5. Satz des Streichquartetts Ostinati. Trotzdem erklingt nicht immer dieselbe Formel, da sich der musikalische Prozess ständig verändert; während immer das Gleiche passiert, ändert sich immer etwas. Darüber hinaus ist ein Prozess des Zerfalls deutlich spürbar: Die Entschlossenheit des Anfangs wird durch die Zersplitterung des Endes ersetzt. Der Schluss des Satzes – die durchkomponierte Zersplitterung – spielt eine herausragende Rolle in der Komposition: Die Formel wird mehrfach wiederholt, und die Wiederholungen werden mit langen Pausen getrennt. Der Prozess lässt den Rezipienten in Unsicherheit, wann die Bewegung endlich aufhört oder wie lange das Motiv noch wiederholt wird. Auf diese Weise schuf Kurtág eine der Grundtypen seiner Kompositionsabschlüsse: die unendliche Beendung, die ein wiederkehrendes Element seiner späteren Kompositionen sein wird: Beispielsweise ist der Schluss vom Rondo-Satz der Szenen aus einem Roman (op. 19, 7. Satz) sogar thematisch mit dem Ende des 5. Satzes verwandt. Diese Parallele zeigt, dass Kurtág in der ersten Avantgarde-Periode mit solchen kompositorischen Lösungen experimentierte, die später in seinem Œuvre grundlegende Bedeutung erlangten sollten. Was jedoch noch wichtiger zu sein scheint, ist die psychische Anwendung der unendlichen Beendung, nämlich, dass der Rezipient es nicht wagt, beim Zuhören sich zu bewegen. Das heißt, wenn Kurtág seine Komposition schreibt, rechnet er mit den Reaktionen des Rezipienten.

 

Eine der beiden Arten von langsamen Satztypen ist der »Klänge der Nacht«-Typus, der im ungarischen Komponieren eine lange Tradition hat und der sich auf Bartóks Klavierzyklus Im Freien (1926) und dessen Klänge der Nacht-Satz zurückführen lässt. Kurtág konzentriert sich hauptsächlich auf Geräuschelemente, daneben aber auch auf Melodien, die sich auf ungarische Volksmusik beziehen. Es war bereits bekannt, dass der 4. Satz des Streichquartetts Vogelstimmen verwendet, die die Erinnerungen an Kurtágs Alltag in Paris wachrufen.50 Die Verwendung von Vogelstimmen, die vielleicht auch als Messiaen-Hommage interpretiert werden kann, und die Verarbeitung von Geräuschelementen machen deutlich, dass dieser Grundtypus für Kurtág einerseits eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung bei der Anwendung von Kammermusikinstrumenten spielt. Andererseits schaffen diese Elemente die Möglichkeit, improvisatorische Mittel zu benutzen, die sich dann in Richtung von Aleatorik bewegen. Während sich der 3. Satz von Jelek – der wie im Falle von Bartóks Klänge der Nacht in drei Stimmen notiert ist – ausschließlich auf die Geräuschelemente konzentriert, bauen der 4. Satz von Acht Duos und das Bläserquintett sowie der Abschlusssatz von Szálkák auf die Kombination von Geräuschelementen und Melodien. Diese Melodien alludieren einerseits auf die Vierzeiligkeit ungarischer Volkslieder, andererseits aber auf Wendungen der instrumentalen Volksmusik Ungarns.

Aleatorik erscheint bloß in den ersten drei Werken mit Opus-Zahl,51 von denen nur ein Satz zum Typus »Klänge der Nacht« gehört. Im 5. Satz des Bläserquintetts spielen alle fünf Instrumente jeweils nach dem freigewählten Tempo des Musikers und voneinander unabhängig die von Kurtág angebotene Melodie. Während jede Stimme ihre eigene Besonderheiten aufweist – die Flöte spielt Quarten und Quinten, die Klarinette und das Horn Skalen, die aus kleinen Sekunden und kleinen Terzen aufgebaut sind, und das Fagott bläst chromatische Formel –, nimmt der Rezipient diese kontrollierten, geformten Elemente nur als Geräusche wahr. Inzwischen ruft die Oboe Erinnerungen an volksmusikalische Elemente hervor: Kurtág verweist auf vierzeilige, melismatische ungarische Volkslieder.

Der andere langsamere Satz-Typus zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen musikalischen Zeilen periodisch angeordnet sind, das heißt, sie bilden klassische Perioden, Sätze oder Erweiterungen dieser Formen. Das einfachste Beispiel dafür ist der 3. Satz der Acht Klavierstücke (Notenbeispiel 3), der als Frage-Antwort-Frage-Antwort-Struktur beschrieben werden kann. Diese Strukturen können auch als additive Formen definiert werden, da eine mögliche Form ihrer Expansion gerade darin besteht, dass die periodenartigen Grundformeln immer wieder erweitert werden. So kann beispielsweise der 7. Satz des Acht Duos den Wechsel der monotonen Wiederholungen und der winzigen Änderungen durch die kontinuierliche Erweiterung der Form darstellen. Auf diese Weise drückt der Satz, während er immer dasselbe sagt, immer etwas mehr aus: Der Rezipient erhält mit jeder Anhörung mehr und mehr Informationen. Trotz des langsamen Tempos folgt der 7. Satz dem gleichen Konzept wie der 5. Satz des Streichquartetts: Die Komposition stützt sich von vornherein auf die charakteristischen Reaktionen des Rezipienten, sie sind a priori schon hineinkomponiert.

Die Signifikanz periodischer Formen wird auch von Kurtág selbst in seinen Interviews hervorgehoben. Wie dem Interview von Friedrich Spangemacher zu entnehmen ist, war der Komponist mit der Struktur des Virág az ember-Satzes sehr zufrieden: »Ich bin ein bißchen stolz auf dieses Stück, denn ich habe es so gestalten können, dass die ersten fünf Töne schon etwas Perioden-artiges, also eine Frage und eine Antwort ergeben.«52 Als sich Bálint András Varga nach den Frage-Antwort-Strukturen seiner Werke direkt erkundigte, reagierte Kurtág: »Aus dieser Sicht bin ich vollkommen traditionell. Ohne dass es Perioden in Takten gäbe, funktioniert das Denken in Perioden. (…) Das ist ja die Periode, traditionelles Denken.«53 Das auffälligste Moment in Kurtágs Formulierung ist, wie wichtig es für ihn ist, seine Kompositionen mit traditionellen Formen wie der Periode in Beziehung zu setzen, obgleich die Definition das Frage-Antwort-Paar als Periode eher willkürlich erscheint. Kurtág bezieht sich offensichtlich hauptsächlich auf eine Art periodisches Denken, das wirklich eine wesentliche Eigenart seiner Musik ist. Bei der Analyse des Streichquartetts lenkt Peter Hoffmann die Aufmerksamkeit auf die größeren Formen, die auch aus einer Kette solcher Frage-Antwort-Paare bestehen. Die periodisierte Ordnung des 1. Satzes wird auf die gesamte Komposition projiziert.54


Notenbeispiel 3: György Kurtág, Acht Klavierstücke op. 3, 3. Satz,

Kurtág György, »8 Klavierstücke | für Klavier | op. 3« (3. Satz), © Copyright 1991 by Universal Edition A.G., Wien/UE14140