MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág

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TOBIAS BLEEK

»… dem Notenbild glauben …«?1

Überlegungen zu György Kurtágs Notation

Wer sich mit der Musik von György Kurtág näher befasst, wird unweigerlich auf das Problem ihrer schriftlichen Fixierung gestoßen, denn so eigentümlich wie der musikalische Kosmos des Komponisten ist auch sein Verhältnis zur Notenschrift. In Kurtágs Musik gebe es viele Aspekte, die man mit dem »traditionellen Notensystem nicht einfangen könne«, konstatiert Reinbert de Leeuw anlässlich der Gesamteinspielung seiner Werke für Ensemble und Chor.2 Und Péter Eötvös berichtet, dass die exzellenten Musiker des Ensemble Modern bei der Vorbereitung der Uraufführung von … quasi una fantasia … op. 27 Nr. 1 im Herbst 1988 feststellen mussten, dass »die Interpretation der geschriebenen Noten und Vortragsangaben bei Kurtág nicht auf gewöhnliche Art und Weise« funktioniere.3

Dass sich das Problem der Notation bei Kurtág in besonderer Weise stellt, ist nicht erstaunlich. So gehören zu den charakteristischen Merkmalen seiner Musik ihre gestische Disposition und Intensität sowie ihre Konzeption als Sprache in Tönen.4 Und auch wenn Kurtág probt, unterrichtet oder sich selbst ans Klavier setzt, spielen die Dimension des Gestischen und das Bestreben, den Notentext zum Sprechen zu bringen, eine zentrale Rolle: »Alles wird durch Agogik, durch Artikulation, durch Gestik zur Deutung gebracht und in den Proben stellt sich heraus, daß für ihn, jetzt wieder nur in Anführungsstrichen gesagt, das, was klingt, weniger wichtig ist als wie es klingt.«5 Aber wie lässt sich das, um was es Kurtág offensichtlich geht, in Notenschrift fassen? Oder konkreter gefragt: Auf welche Weise und in welchem Maße kann es gelingen, musikalische Gesten, die sich aufgrund ihrer synthetischen Natur erst im Akt der Aufführung konstituieren, im Medium der Schrift adäquat zu fixieren? Gibt es Notationsformen, die eine stark gestisch geprägte Musik und die flexiblen Rhythmen sprachlicher Deklamation angemessener bzw. anschaulicher darstellen als andere? Und wie können all jene Aspekte der Musik Kurtágs tradiert werden, die in den Bereich des Nicht-Notierten bzw. Nicht-Notierbaren fallen und dennoch essenziell zu sein scheinen?

Kurtág hat sich mit diesem Problemfeld in den letzten sechs Jahrzehnten offensiv auseinandergesetzt – sowohl beim Komponieren als auch in seiner Zusammenarbeit mit Interpretinnen und Interpreten. Einige Stationen und Aspekte dieser Auseinandersetzung möchte ich im Folgenden exemplarisch diskutieren.6 Herausgearbeitet werden soll dabei, dass das Problem der Notation sowohl für die Interpretation und Überlieferung von Kurtágs Musik relevant ist als auch für das Verständnis seines Schaffens und die Analyse seiner Werke.

I Das Streichquartett op. 1 als Ausgangspunkt

Die Untersuchung mit einem Blick auf das Streichquartett op. 1 zu beginnen, liegt auf der Hand, denn das unmittelbar nach dem entscheidenden West-Aufenthalt (1957/58) komponierte Werk bildet den Grundstein des Kurtág’schen Œuvres und ist überdies das erste vollgültige Zeugnis für das Primat des Gestischen in seiner Musik. Programmatisch formuliert wird der gestische Duktus des Quartetts bereits in der viel diskutierten Anfangspassage des Kopfsatzes.7 Im engen Raum von sieben Takten erklingt eine Folge kontrastierender Gesten. Diese unterscheiden sich nicht nur in ihrer intervallischen Struktur, sondern weisen jeweils auch eine spezifische Bewegungsform, klangfarbliche Beschaffenheit, Ausdrucksqualität und Energie auf. Fixiert hat sie Kurtág mit den Mitteln der Standardnotation, wobei er – u. a. in Anknüpfung an den expressionistischen Webern – extensiv Gebrauch von Vortragsbezeichnungen macht (Dynamik, Artikulation, Klangproduktion).

Musikalische Gesten sind geformte (klangliche) Ereignisse, die eine gestalthafte Qualität besitzen.8 In der diskreten Notenschrift lassen sich zwar ihre Komponenten (Tonhöhe, Rhythmus etc.) definieren und ihre Umrisse indizieren. Doch im spielenden und hörenden Vollzug tritt die Geste nicht als ein aus diskreten Parametern zusammengesetztes Objekt in Erscheinung, sondern als synthetisches Phänomen. Der Eindruck gestischer Lebendigkeit beruht dabei in wesentlichem Maße auf minimalen oder auch größeren Abweichungen und Varianzen im Bereich des zeitlichen Verlaufs, der Dynamik sowie der Phrasierung und Artikulation. Im Kopfsatz von Op. 1 sind diese Abweichungen und Varianzen das Produkt eines skrupulösen Kompositionsprozesses, in dem nicht nur der Entwicklungsverlauf einer musikalischen Geste vom Autor möglichst genau bestimmt wird, sondern auch die rhythmische Unschärfe das Resultat akribischer notationaler Festlegung ist. Verdeutlichen lässt sich dies anhand des dreitönigen Miniaturkanons, der den letzten Formabschnitt des komprimierten Satzes eröffnet (Notenbeispiel 1).


Notenbeispiel 1: György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 14−16, Editio Musica Budapest (Z. 40128), 1964, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission

Ein wesentliches Merkmal ist seine kontrapunktische und rhythmische Unschärfe. Während Bratsche und Violine 2 intervallisch einen exakten Umkehrungskanon bilden, stehen Cello und Violine 1 in einem intervallisch nicht exakten Umkehrungsverhältnis. Zugleich variiert nicht nur der Einsatzabstand zwischen den Stimmen (es kommt zu einer zunehmenden Verkürzung), sondern auch ihre rhythmische Gestalt. Zielpunkt dieser Überführung symmetrischer Dispositionen in asymmetrische musikalische Verläufe ist die gestische Belebung des Tonsatzes. Die strenge kontrapunktische Form wird von Kurtág partiell aufgelöst, um auf diese Weise eine melodische Individualisierung der verschiedenen Figuren zu erreichen. Die minutiös ausnotierten Abweichungen auf der Zeitebene verleihen ihnen ein individuelles rhythmisches Profil.

Doch wie angemessen und zweckdienlich ist diese Form der präzisen Ausgestaltung jedes Details im Notentext für das, um was es Kurtág eigentlich zu gehen scheint? Oder, um an einige Überlegungen aus Theodor W. Adornos unvollendeter Theorie der musikalischen Reproduktion zum Status der Notenschrift anzuknüpfen: Verstärkt das hohe Maß an Festlegung im Bereich des Mensuralen nicht gerade die »Differenz von Notation und Sinn«?9 Denn wie Adorno an anderer Stelle – zum Teil in Abgrenzung zu einem »positivistischen« Musizierideal – formuliert: »Die Starrheit des Zeichens verfehlt den Gestus der Musik« und birgt zugleich die Gefahr eines »Textfetischismus« und eine damit einhergehende »Liquidation des Neumischen« (des Gestischen) in sich10:

»Keine wie immer vollkommene Notation könnte die Zone der Unbestimmtheit tilgen, und indem die Wiedergabe diese stehen ließe, anstatt an ihr die interpretative Arbeit zu leisten, würde die paradoxe Sprache der Musik zu jenem Kauderwelsch, das von so vielen treulos-treuen Aufführungen radikal moderner Werke her vertraut ist.«11

Die Gefahr einer »Flucht ins Mensurale« bzw. einer Hinwendung zu einem scheinbaren »Objektivismus« sah Adorno u. a. in der Interpretationspraxis der ›Darmstädter Schule‹ gegeben.12 In Zusammenhang mit einer Aufführung der Klavierwerke von Arnold Schönberg durch Eduard Steuermann bei den Darmstädter Ferienkursen 1954 notiert er: »Die sogenannte Jugend protestiert gegen das ›überspitzte espressivo‹ in Eduards Schönbergdarstellung«.13

II Neue Spielräume: Erweiterung der Notation um 1960

Dass Kurtág sich mit dem von Adorno beschriebenen Problemfeld auseinandersetzte und nach Wegen suchte, um seine Musik adäquater zu notieren, ihr neue Spielräume zu eröffnen und sie zugleich vor einer ›objektivistischen‹ Wiedergabe des Notentexts zu bewahren, legen die auf das Streichquartett folgenden Werke nahe. Noch 1959 begann er, das von ihm bislang verwendete traditionelle Notensystem punktuell zu erweitern und zum Teil auch kategorial umzuformen.14 Den Ausgangspunkt dieser folgenreichen Entwicklung bildet in Kurtágs publiziertem Œuvre das Bläserquintett op. 2 (1959). Im 5. und 8. Satz arbeitet der Komponist erstmals mit einer rhythmisch-freien Notenschrift, in der die unterschiedlichen Längen der Töne und Pausen und ihr Verhältnis zueinander nicht mehr eindeutig festgelegt sind. Weiter ausdifferenziert und explizit definiert wird diese relative Dauernotation in den Klavierstücken op. 3 (1960). Die ersten fünf der insgesamt acht Stücke15 verzichten ganz oder teilweise auf die herkömmliche Zeitnotation mit ihrer ›digitalen‹ Fixierung der Tondauer16. Den stattdessen verwendeten ›analogen‹ Zeichenbestand, den Kurtág in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickeln wird (Abb. S. 80), erläutert eine dem Notendruck beigefügte Legende. Er umfasst drei Grundwerte für die Tondauer (»relativ längerer Ton«, »relativ kürzerer Ton« sowie »vorschlagartig«), zwei Symbole für die Verlängerung bzw. Verkürzung eines Tons, die grafische Markierung längerer und kürzerer Zeiteinheiten durch eckige Klammern sowie zwei Zeichen für die Modifikation von Tempo und Dynamik (»mit zunehmender Intensität, beschleunigend« sowie »mit abnehmender Intensität, verzögernd«). Hinzu kommen – und das ist bezeichnend für einen Komponisten, in dessen Werken die kompositorische Gestaltung der Stille eine zentrale Rolle spielt – vier Symbole für Zäsuren unterschiedlicher Länge, die ebenfalls nicht proportional definiert sind (»sehr kurze Pause«, »kurze Pause«, »etwas längere Pause«, »lange Pause«).17

 

Auch in seinem nächsten Werk, den Acht Duos für Violine und Cimbalom op. 4, arbeitet der Komponist mit zwei verschiedenen rhythmischen Notationen. Während die zeitlichen Verläufe in den Stücken 1–5 mit den Mitteln der herkömmlichen proportionalen Zeitnotation exakt definiert werden, kommt in den letzten drei erneut die relative Dauernotation zum Einsatz. In einem Programmbuchtext zu dem zwischen Mai 1960 und Januar 1961 entstandenen Werk berichtet Kurtág, er habe es im Auftrag der »experimentierfreudigen« Geigerin Judit Hevesi komponiert: »ich schrieb in der Violinstimme quasi Übungsstücke für sie im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit, also mit musikalisch-spieltechnischen Problemen, die sie weiterführen und ihre Ausdrucksfähigkeit bereichern sollten.«18 So lässt sich das siebte Stück, das den Zyklus ursprünglich beschließen sollte19, als Studie über die vielfältigen gestischen Gestaltungsmöglichkeiten einer melodischen Figur interpretieren (Notenbeispiel 2).


Notenbeispiel 2: György Kurtág, Entwurf zu Op. 4, Nr. 7 (Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung Basel). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Paul Sacher Stiftung Basel

Thematisiert werden dabei zentrale Punkte von Kurtágs impliziter Poetik und Interpretationsästhetik: die Konzeption der eigenen Musik als gestisches Phänomen und die Überzeugung, dass sich eine gelungene Interpretation um eine adäquate Realisierung des gestischen Zusammenhangs bemühen muss, also nicht nur um die Töne, sondern auch um das, was sich zwischen ihnen ereignet. Das Bindeglied zwischen der Ebene der Komposition und der Interpretation ist die simple, aber entscheidende Frage, wie man auf überzeugende Weise von einem Ton zum nächsten kommt.20 In der finalen Fassung des siebten Duos hat der Komponist den Prozess gestischer Variation – analog zum bereits diskutierten ›Miniatur-Kanon‹ im Kopfsatz von Op. 1 – mithilfe der Standardnotation so präzise wie möglich definiert. Bemerkenswert ist allerdings, dass Kurtág die Anfangstakte, wie die erste Akkolade des abgebildeten Entwurfs zeigt, zunächst in relativer Dauernotation skizzierte. Die Entscheidung, den zeitlichen Verlauf der komprimierten Gesten akribisch festzulegen und damit auch die agogischen Gestaltungsspielräume der Interpreten zu beschränken, fiel in diesem Fall also erst im Laufe des Kompositionsprozesses.

Beim ersten Duo hingegen gibt es keinerlei Indizien, die darauf hindeuten, dass Kurtág zunächst zwischen verschiedenen Aufzeichnungsformen geschwankt hätte. Anhand des aphoristischen Stücks lässt sich exemplarisch zeigen, welche Implikationen die Verwendung der relativen Dauernotation für den Komponisten und die Spieler hat (Notenbeispiel 3).


Notenbeispiel 3: György Kurtág, Acht Duos op. 4, Nr. 1 Universal Edition (UE 13999), 1965) – Editio Musica Budapest, 1965, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission

Das Duo beginnt im Cimbalom mit dem Zweiklang dis′ – e″, in den die Violine nach einer kurzen Pause die fallende Zweitonmelodie g′ – f′ einfügt. Abgerundet wird dieser erste konzentrierte Formabschnitt, dem ein geschlossenes chromatisches Fünftonfeld zugrunde liegt (es, e, f, fis, g), mit dem Ton fis im Cimbalom. Durch den Phrasierungsbogen und das niedergedrückte Haltepedal wird er in eine direkte Beziehung zum Nonenklang dis′ – e″ gesetzt. Zugleich lässt er sich aber auch als eine Reaktion auf die fallende große Sekunde in der Violine deuten. Während die Verdichtung der Form und des Ausdrucks sowie die fragmentierte Melodik an die expressionistischen Miniaturen Weberns erinnern, ist die individuelle Gestalt des gestischen Komplexes ein Resultat von Kurtágs relativer Dauernotation. Die Länge der einzelnen Töne und Pausen und ihr Verhältnis zueinander sind hier nicht mehr eindeutig festgelegt, sondern in relativen Werten notiert (kurze Pause, relativ längerer Ton, relativ kürzerer Ton, vorschlagartiger Ton). Das heißt, nicht ein vom Komponisten vorab exakt definiertes Zeitgerüst bildet den verbindlichen Rahmen für die Konstitution der Geste, sondern der genaue zeitliche Verlauf des gestischen Komplexes entsteht erst im Moment seiner klanglichen Realisierung. Ein wichtiges Ziel der unbestimmten Notation ist es dabei zweifellos, die Interpreten auf den gestischen Duktus der Musik aufmerksam zu machen und ihnen zugleich die notwendige Flexibilität für die Ausformung der verschiedenen Gesten einzuräumen. Wann genau die Geigerin bzw. der Geiger mit der fallenden Zweitonfigur einsetzt, wird davon abhängen, wie die Cimbalistin bzw. der Cimbalist den eröffnenden Nonenklang artikuliert, wobei die Erlebniszeit der Interpreten letztendlich das entscheidende Kriterium ist.21 Ausgeschlossen wird damit zugleich die Gefahr eines ›objektivistischen‹ Abspielens des Notentextes, denn der zeitliche Verlauf lässt sich nicht einfach ›ablesen‹, sondern muss in einem Akt der Sinnerschließung zunächst dechiffriert und dann individuell gestaltet werden.

Die relative Dauernotation lässt sich also als Versuch verstehen, der performativen Natur der musikalischen Geste Rechnung zu tragen, deren konkrete Ausgestaltung interpreten- und aufführungsabhängig ist. Die unscharfe rhythmische Notation schafft auf der Ebene der zeitlichen Gestaltung eine Zone des Unbestimmten, die den Interpreten den notwendigen Freiraum eröffnet, sie zugleich aber auch in die Verantwortung nimmt. Umgekehrt bedeutet dieser Schritt für den Komponisten einen Verzicht auf Differenzierung im Bereich des Zeitgeschehens: Die für eine vitale Gestik notwendige Unschärfe wird der kompositorischen Kontrolle entzogen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allerdings die Tatsache, dass Kurtág die Hinwendung zur relativen Dauernotation in einem auktorial geschützten Raum vollzog. Wie bereits erwähnt wurde, sind die Duos op. 4 für eine spezifische Interpretin geschrieben worden, die den Notentext gemeinsam mit dem Komponisten erarbeitete. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Verlagerung schöpferischer Entscheidungen und auktorialer Kontrolle in den Bereich der Interpretation ergeben, sollen später genauer beleuchtet werden.

III Játékok und die Folgen

Eine neue Stufe in Kurtágs Notationspraxis markiert die Arbeit an der Klaviersammlung Játékok (›Spiele‹). Das work in progress, das 1973 mit den Elő-Játékok (›Vor-Spielen‹) als pädagogisches Projekt begann, war für den in einer tiefen schöpferischen Krise steckenden Komponisten ein Akt der Befreiung, der mit einer radikalen Erweiterung des kompositorischen Spielfelds einherging. Die Befreiungs- und Erweiterungsvorgänge betreffen:

 das verwendete musikalische Material und die musikalische Sprache (die offene Bezugnahme auf Musik der Vergangenheit und Gegenwart, der Rekurs auf traditionelle Formen und tonale Wendungen etc. werden zu einem expliziten Bestandteil des ästhetischen Spiels);

 den Umgang mit dem Instrument und dem Körper des Spielers;

 den Gebrauch der Notenschrift.

Einen wichtigen Nährboden für diese Entwicklung bildeten Erfahrungen mit Improvisation und experimenteller Musik – insbesondere von John Cage und Christian Wolff sowie von jüngeren ungarischen Kollegen –, die Kurtág im Umfeld des Új Zenei Stúdió (›Studio für Neue Musik‹) in Budapest sammelte, sowie die Beschäftigung mit Volksmusik und dem Gregorianischen Choral.22 Der imaginäre Zielpunkt der Játékok scheint dabei eine weitere Stärkung des Gestischen in Kurtágs Musik zu sein. So stellt die Klaviersammlung die Geste nicht nur als geformte musikalische Gestalt, sondern auch als körperlich-expressive Gebärde und als kommunikativen Akt ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Komponist, Spielern und Hörern.23

Die substanzielle Ausweitung des gestischen Kosmos schlägt sich im angereicherten Schriftbild der Játékok nieder. So hat Kurtág die relative Dauernotation erweitert und den Bestand der Notenzeichen um Elemente einer Aktionsschrift sowie grafische Elemente ergänzt. Auch hier ist das Ziel, die Dimension des Gestischen im Notenbild möglichst deutlich aufscheinen zu lassen und den Interpreten zugleich die notwendige Freiheit für eine angemessene Realisierung einzuräumen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich auch auf der Ebene der Notation die weitreichendsten Experimente im ersten Band der Klaviersammlung finden. Kurtág stellt hier zwei verschiedene Formen schriftlicher Fixierung gegeneinander, die sich – wie es zu Beginn des Bandes heißt – »gegenseitig ergänzen«.24 Auf den linken Seiten der Druckausgabe (A) »ist das Klanggeschehen unbestimmter, freier in der Bewegung«, während auf den rechten Seiten (B) »alles genauer vorgeschrieben ist und strengeres Spiel verlangt wird«.25 Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Plastizität der Notation ist »Perpetuum mobile (objet trouvé)« (Notenbeispiel 4a und b).


Notenbeispiel 4a und b: György Kurtág, »Perpetuum mobile (objet trouvé)«, Játékok I, Editio Musica Budapest (Z. 8377), 1979, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission



Abbildung: György Kurtág, Zeichenerklärung zu den Attila-József-Fragmenten op. 20, Editio Musica Budapest (Z. 12304), 1984, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission

Das Stück lässt sich als Etüde über eine elementare Spielgeste verstehen: das Glissando auf weißen und schwarzen Tasten. Auf der Ebene der Notation wird dieses Primat des Gestischen prägnant veranschaulicht. So zeigt das einfache Notenbild in größtmöglicher Anschaulichkeit sowohl die wellenförmigen Hand- und Armbewegungen, die der Pianist auszuführen hat, als auch den dadurch erzeugten musikalischen Verlauf. Möglich ist dies, weil Aktion und Resultat bei diesem spezifischen Stück, das in seiner materialen Einfachheit (»objet trouvé«) und grafischen Notation zweifellos einen Extremfall darstellt, einander direkt entsprechen. Wie auch in anderen Stücken der Játékok räumt der Komponist den Spielern dabei eine mitschöpferische Rolle ein, die über die Ebene der Zeitgestaltung hinausreicht. Im Rahmen des von der Schrift umrissenen Spielfelds übernehmen sie bestimmte Entscheidungen selbst: Im Falle der präziser ausnotierten B-Fassung des Stücks betrifft dies insbesondere die Frage der Wiederholung und ihrer dynamischen Gestaltung. Im Falle der offeneren A-Fassung entscheidet der Interpret bzw. die Interpretin zusätzlich über die genaue Amplitude der Glissando-Wellen, da hier eine Registertabelle fehlt, aus der die Spitzen- und Talwerte der gezeichneten Wellenbewegung abgelesen werden könnten.

Kurtágs Praxis, insbesondere im ersten Band der Játékok manche Stücke in zwei unterschiedlichen Notationen zu präsentieren, und sein Bestreben, den Spielern »eine Möglichkeit zum Experimentieren«26 einzuräumen, wirken wie eine frühe kompositorische Reflexion über zentrale Themen und Thesen der neueren Performance-Forschung. Denn zum einen machen die Játékok deutlich, dass das ›Werk‹ nicht auf seine schriftliche Fixierung reduziert werden kann und darf.27 Zum anderen lenken sie den Blick auf den Akt der Interpretation selbst und die sinnstiftende Rolle, welche die ausführenden Musiker übernehmen. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang jedoch, dass der experimentelle erste Band der Klaviersammlung einen Extrempunkt in Kurtágs kompositorischem Schaffen und seinem Umgang mit der Notenschrift markiert.

 

Die erweiterte relative Dauernotation, die Kurtág seit den 1970er Jahren in einem Teil seiner Instrumental- und Vokalwerke benutzt, basiert auf den in der Legende der Klavierstücke op. 3 erläuterten Symbolen. Im Appendix der Játékok wird dieser weiterentwickelte Zeichenbestand erstmals vorgestellt und in vielen anderen Kompositionen in identischer oder leicht modifizierter Form weiterverwendet (Abb.).

Basiselemente sind nun nicht mehr drei, sondern vier relative Dauerwerte (sehr lang, lang, kurz, Vorschlagswert) sowie drei Zeichen, die zur Modifikation der Grundwerte eingesetzt werden können (Verlängerung bzw. Verkürzung). In Kombination ergeben sie eine Skala, die – ergänzt um die traditionellen Symbole für Achtel, Sechzehntel und Zweiunddreißigstel – insgesamt 19 verschiedene relative Dauerwerte umfasst. Hinzu kommen neun Symbole für Pausen und Zäsuren unterschiedlicher Länge sowie zwei für Tempoveränderungen. Erweitert und systematisiert wird im Lauf der Zeit außerdem der für Kurtágs sprachorientierte Musik zentrale Zeichenbestand im Bereich der Artikulation und Phrasierung.28

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