Schwabens Abgründe

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Schwabens Abgründe
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Herausgegeben von Mareike Fröhlich und Maribel Añibarro


Schwabens Abgründe


Kurzkrimis aus Baden-Württemberg



Personen und Handlungen sind frei

erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder

toten Personen sind rein zufällig und nicht

beabsichtigt.

1. Auflage 2021

© 2021 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Björn Locke, Nürtingen.

Coverfotos: © Joraca – Shutterstock,

© artstore – Shutterstock, © Jürgen Fälchle –

AdobeStock.

Satz und Layout: Sabine Düde,

César Satz & Grafik, Köln.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

ISBN 978-3-8425-2294-7

eISBN 978-3-8425-2349-4

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Inhalt

Vorwort

Mareike Fröhlich

527 Tage

Maribel Añibarro

Assassine

Julia Bernard

Ammenmärchen

Sarah Kempfle

Der Enkeltrick

Cindy Jäger

Idyllische Probleme

Linda Graze

Edgar Erwin Emil

Sybille Baecker

Die Patin von Bad Wildbad

Ruth Edelmann-Amrhein

Tod bei 90 Grad

Brigitte Karin Becker

Einmal Mutter

Jutta Weber-Bock

Das rote Sofa

Regine Bott

Ein neuer Stern

Maribel Añibarro

Der Erlkönig

Anne Grießer

Camping mit Horst

Ilona P. Köhle

Angenehme Nachtruhe

Mareike Fröhlich

Muttersöhnchen

Martina Uhl

Der französische Gockel

Julia Hofelich

Täter

Beatrix Erhard

Der nette Herr Ritzel

Daniela Berg

Ein Likörchen in Ehren

Anni Jonek

Meins!

Uschi Kurz

Der Frosch

Ruth Edelmann-Amrhein

Monkey Dust

Die Autorinnen

Vorwort


Alle Autorinnen dieses Kurzgeschichtenbandes sind Mörderische Schwestern aus Baden-Württemberg.

Die Mörderischen Schwestern e. V. sind ein Netzwerk aus Autorinnen, Buchbranchenprofis und Leserinnen, das die von Frauen geschriebene deutschsprachige Kriminalliteratur fördert und unterstützt.

Der Verein setzt sich für bessere Chancen für Autorinnen auf dem Buchmarkt ein. Er bietet seinen Mitgliedern die Teilnahme an Fortbildungen und Vorträgen und ein Mentoringprogramm, in dem erfahrene Autorinnen ihre Expertise an schreibende Kolleginnen weitergeben. Zudem vergeben die Mörderischen Schwestern einmal im Jahr ein Arbeitsstipendium, das einer Autorin ermöglichen soll, trotz Familie und Beruf ihr Projekt zu verwirklichen.

Der Verein bietet die Basis zur Vernetzung unter den Autorinnen und ermöglicht somit den Austausch von Expertinnenwissen.

In Baden-Württemberg leben und schreiben um die 60 Mörderische Schwestern. Insgesamt hat der Verein über 600 Mitglieder – in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

www.moerderische-schwestern.eu

Mit der Ladies Crime Night, der Lesung mit Schuss, sind die Autorinnen auf den Bühnen unterwegs – natürlich auch in Baden-Württemberg. Möchten Sie die Geschichten dieses Kurzgeschichtenbandes live erleben? Die Termine unserer Ladies Crime Nights finden Sie unter:

www.moerderische-schwestern-bw.de

Mareike Fröhlich

527 Tage


Esslingen am Neckar

Es hat geregnet. In den Pfützen spiegeln sich die bunten Lichter der Stadt. Alles glitzert und glänzt, alles ist nass – gerade so, als hätte die Nacht geweint. Vor Freude. So wie ich. Weil ich frei bin. Meine nackten Füße verdrängen das Wasser in den Pfützen und damit die scheinbare Wirklichkeit. Doch hinter mir fügt sich alles wieder zu einem friedvollen Bild zusammen, und meine Anwesenheit ist vergessen.

Ich stolpere durch die schlafende Stadt. Immer weiter. Ich bin wieder da. Und ich weiß genau, wo ich hinwill, verfolge mein Ziel. Als die weißen Buchstaben auf blauem Grund endlich in meinem Blickfeld auftauchen, erscheinen sie mir wie die Ziellinie nach einem Marathonlauf. Die Polizei – dein Freund und Helfer.

Tränen sammeln sich in meinen Augen, Tränen der Erleichterung. Ich habe es geschafft, bin endgültig entkommen.

Das Innere des Reviers empfängt mich mit Licht und Wärme. Beides hat mir so sehr gefehlt. Genau wie der Klang von Stimmen, wie ein Gespräch mit einem Menschen, mit jemandem, der mir zuhört. Ich hatte nichts von alledem, ich hatte Kälte und Stille.

Ein Mann in Uniform steht hinter dem Tresen. Er schaut mich an. Fragend. Ich lächele. Und wieder kommen die Tränen.

»Ich bin wieder da«, sage ich. »Ich bin Isabell Martin.«

Der Polizist zieht fragend eine Augenbraue nach oben. Mir wird bewusst, dass er ja vielleicht gar nicht weiß, wer ich bin, weil er nichts von meinem Fall gehört hat.

»Isabell Martin«, sage ich noch einmal. »Ich werde vermisst. Seit 527 Tagen.«

Der Mann nickt. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagt er. »Ich bin gleich bei Ihnen.«

Er tippt hektisch auf der Tastatur seines Computers herum – vermutlich gibt er meinen Namen ein. Als er den Kopf wieder vom Bildschirm abwendet, gleitet sein Blick zu meinen Füßen. Auch ich blicke auf meine Füße, meine nackten Füße. Wer flieht, muss gehen, wenn die Zeit bereit ist. Nur mit dem, was er am Leib trägt. Flüchtende nutzen Gelegenheiten, ohne auf Äußerlichkeiten zu achten. Ich habe es immerhin geschafft, den Mantel vom Haken zu reißen. Den Mantel, der nach ihm riecht.

 

Der Blick des Polizisten wandert weiter nach oben, bleibt stehen, starrt. Meine Hände halten sich gegenseitig, liegen in meinem Schoß, sind verhakt, verkrampft. Meine Hände, die voller Blut sind. Voller getrocknetem Blut.

»Haben Sie sich verletzt?«, fragt der Polizist.

Ich überlege, brauche einen Moment, doch dann fällt es mir wieder ein. Ich musste meinen Entführer … ich musste mich wehren … hatte gar keine andere Wahl.

»Nein«, antworte ich.

Er nickt, nimmt den Telefonhörer zur Hand und spricht leise mit irgendjemandem. Vermutlich, um meine Identität zu klären, und bestimmt, um meine Angehörigen zu verständigen.

Er legt auf, kommt um den Tresen herum, kommt direkt auf mich zu. »Der zuständige Beamte wird gleich Zeit für Sie haben.« Er lächelt – verständnisvoll, aufmunternd, nicht mehr fragend oder abschätzend.

Die Anspannung lässt allmählich nach, und ich spüre die bleierne Müdigkeit, die auf mich herabsinkt. Es ist, als würde sie mich erdrücken. Mir ist kalt, unendlich kalt. Ein Zittern erfasst meinen Körper. Ich versuche, es zu unterdrücken, versuche, keine Schwäche zu zeigen, doch es gelingt mir nicht. Stattdessen kommt die Erinnerung zurück, wie eine gewaltige Welle.

Sie erfasst mich und reißt mich mit sich. All das Adrenalin ist verschwunden, aufgebraucht, einfach fort. Ich schluchze. Ich will nicht zurück in die Erinnerung, zurück zu den letzten 527 Tagen. Denn diese Nacht ist eine Nacht der Freude, ab jetzt wird es nur noch helle Tage geben, glückliche Tage.

Ich spüre eine Berührung, zucke zusammen. »Nein, nicht«, schreie ich, springe auf und weiche zurück.

Es ist nur der Polizist, der lächelt, mir eine Decke um die Schultern legt. Eine goldene Rettungsdecke.

Wie passend, kommt es mir in den Sinn.

Er wartet, bis ich mich beruhigt habe, bis ich mich wieder auf den Stuhl setze. Dann kniet er sich vor mich hin wie ein Prinz vor seiner Prinzessin, so wie bei Aschenputtel. Er betrachtet meine dreckigen Füße, hält Wollsocken in der Hand und nickt mir aufmunternd zu.

Wo hat er die her? Halten Polizeireviere warme Strümpfe für Menschen, die verschwunden waren und ohne Schuhe zurückkehren, bereit?

»Danke«, sage ich, aber es klingt mehr nach dem Krächzen einer bösen Hexe als nach Aschenputtel.

Er hält die eine Socke tatsächlich so, dass ich mit dem Fuß hineinschlüpfen kann, danach die zweite. Nachdem meine Füße versorgt sind, steht er auf. Erst jetzt sehe ich, dass sich hinter dem Tresen zwei weitere Beamte eingefunden haben. Sie schauen mich an, als wäre ich etwas ganz Besonderes. Ja, das bin ich. Ich bin die, die es geschafft hat, die Frau, die entkommen ist.

»Frau Martin?«

Die Stimme der Frau trifft mich völlig unvorbereitet. Wieder zucke ich zusammen. Ich habe sie nicht kommen sehen, die Frau in Jeans und weißer Bluse. Aber sie lächelt, so, wie der Polizist gelächelt hat. Und sie zeigt mit der Hand auf einen Flur mit vielen Türen, einen Flur, den ich ebenfalls noch nicht wahrgenommen habe.

»Mein Name ist Dr. Hofner«, sagt sie. »Ich bin Psychologin. Es ist alles in Ordnung. Kommen Sie bitte, wir möchten Ihre Aussage aufnehmen.«

Sie geleitet mich in ein Zimmer – PVC-Boden, ein Tisch mit vier Stühlen, eine Neonröhre – und bittet mich, Platz zu nehmen.

»Ich möchte nach Hause.« Ich bleibe an der Tür stehen.

»Das verstehe ich sehr gut«, sagt sie. »Doch wir brauchen Ihre Aussage. Die ist für uns sehr wichtig. Das verstehen Sie sicher.«

Natürlich verstehe ich das, sie müssen schließlich meinen Entführer festnehmen. Er muss bestraft werden. Für das, was er mir angetan hat. Also gehe ich hinein, in diesen Raum, der mehr nach Zelle aussieht, und setze mich.

Die Frau setzt sich mir gegenüber. Wie war ihr Name doch gleich? Ich habe es vergessen. Ob ich nachfragen soll?

Ich frage nicht, denn es ist nicht wichtig. Bald bin ich wieder zu Hause, und alles andere spielt keine Rolle.

Nun betritt ein Mann den Raum, er stellt sich als irgendein Kommissar vor. Er lächelt nicht, sondern ist sehr ernst. Auf den Tisch legt er Papiere. Sicher meine Akte. Meine Vermissten-Akte.

»Frau Martin«, sagt er. »Können Sie …«

Martin. Ich weiß, dass ich es bin, und trotzdem bin ich mir unsicher. Weil mich so lange niemand mehr so genannt hat. Weil …

»Frau Martin?« Der Polizist schaut mich fragend an.

»Entschuldigung«, sage ich automatisch und merke selbst, dass ich den Kopf einziehe. »Ich wollte Sie nicht verärgern. Ehrlich.«

Nun lächelt auch der Polizist. Keine fiese Fratze, sondern ein warmes Lächeln. Und diese Wärme kommt bei mir an. Berührt mich. »Es ist alles gut«, sagt er.

Gut, hallt das Echo in mir nach, und ich spüre, wie sich meine Muskeln allmählich wieder entspannen. Alles wird gut.

»Können Sie mir sagen, was in den letzten Tagen passiert ist?«

»In den letzten 527 Tagen? Ich kann nicht … ich meine …« Ich breche ab, starre auf meine Hände.

»Sie sind hier in Sicherheit, Frau Martin«, versichert er mir. »Können Sie mir sagen, was in den letzten Stunden passiert ist? Wo waren Sie in den letzten Stunden? Wie sind Sie hierhergekommen?«

Ich schließe die Augen, atme tief ein und wieder aus und versuche, der Angst, die in jedem Winkel meines Körpers und meiner Seele sitzt, die gegen die Freude der Freiheit kämpft, Herr zu werden.

»Er kann dir nichts tun«, flüstere ich und lasse die Bilder der Vergangenheit auf mich zurasen. Bedrohlich wie ein ganzes Heer von Kriegern, die mich vernichten wollen. Aber ich lasse mich nicht vernichten, ich bin in Sicherheit. Alles wird gut.

»Die letzten Stunden, sie waren wie immer. Ein fester Ablauf. Kein Abweichen. Immer genau dasselbe. Ich war im Kellerraum eingesperrt. Ein Kellerraum aus roten Backsteinen und mit einem Betonboden. Mit einer blauen Eisentür, die so einen Schlitz hatte. Zum Reinschauen … zum …« Es ist so heiß hier. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht …

»Trinken Sie einen Schluck Wasser«, sagt diese Ärztin. Das war sie doch, eine Ärztin. Oder? Wie hieß sie noch mal?

»Frau Martin, trinken Sie.« Sie schiebt einen weißen Plastikbecher über den Tisch.

Ich blicke von ihr zu ihm, schaue zur Tür und dem Mann in Uniform, der dort steht. Es sind drei. Drei Personen, die mich beschützen können. Vor ihm. Ich trinke. Schnell. Dann bin ich schneller zu Hause.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagt der Polizist.

Hatte er mir seinen Namen überhaupt gesagt? Aber eigentlich ist das egal, denn eigentlich sind Namen nicht wichtig.

»So eine Klappe, in der Tür«, wiederholt er meine Worte.

Ich nicke. »In der Wand, gegenüber der Tür, war ganz oben ein schmaler Streifen. Ein kleines Fenster. Ich kam nicht dran. Der Raum muss fünf oder sechs Meter hoch gewesen sein. Ein Keller. Verstehen Sie? Ein düsterer Kerker aus rotem Backstein.«

Der Polizist nickt, er versteht mich.

»Aber immerhin hatte ich ein wenig Licht, und so konnte unterscheiden, ob Tag oder Nacht war. So konnte ich zählen.«

»Zählen?«, fragt er.

»Die Tage. 527. Ich habe mit kleinen Bruchstücken des Backsteins Striche auf dem Boden gemacht. 527 Striche. Verstehen Sie?«

»Ja, ich verstehe.«

Erst jetzt fällt mir auf, wie weich seine Stimme ist. Weich, wie dicker dunkelroter Samt.

»Frau Martin, Sie sagten, dass er Sie dort eingesperrt habe. Waren Sie nur in diesem Kellerraum oder durften Sie diesen Raum ab und zu verlassen? Um auf die Toilette zu gehen?«

Ich schüttle den Kopf und starre dabei wieder auf meine Hände. Blutverkrustete Hände. »Nur der Raum. Ein Eimer war meine Toilette. Den hat er einmal am Tag gewechselt. Und einmal am Tag durfte ich meine Zähne putzen. Da brachte er mir eine Schüssel mit Wasser, eine Holzzahnbürste und Zahnpasta. Er hat mich dabei immer genau beobachtet, mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Und er hat mich gezwungen, mich zu waschen. Dafür musste ich mich ausziehen. Nackt auszie… Ich wollte nicht … wollte meine Kleider nicht ausziehen …, weil ich … Aber als ich mich geweigert habe, hat er mich geschlagen. Mit der Faust ins Gesicht. Als ich am Boden lag, hat er mich getreten. Mehrfach. Es tat so weh. Dann hat er seine Hose geöffnet … er hat … mich angepinkelt. Gelacht hat er und gesagt, dass ich mich jetzt ausziehen müsste, weil ich sonst für immer und ewig nach seiner Pisse stinken würde.«

Ich schlucke, versuche, nicht zu hyperventilieren, mich auf die Tatsachen zu konzentrieren. »Ich habe mich ausgezogen und gewaschen. Und er hat dabei zugesehen. Nur zugesehen. Er hat mir neue Kleider gebracht. Kurze, durchsichtige Kleider, Fummel, die aussahen, als würden sie irgendeiner Prostituierten gehören. Überall hat die Haut durchgeschaut. Und das, obwohl ich in einem Keller eingesperrt war. Es war kalt. Überall nur Stein und Beton. Backstein. Die Kälte ist auf mich gekrochen, ist in mich hineingekrochen. Er hat mir nicht mal eine Decke gegeben. Nur zum Schlafen. Morgens hat er mir die Decke wieder weggenommen, damit er meinen Körper anglotzen kann. Jeden Tag. Immer das Gleiche. Vor seinen Augen ausziehen, waschen und den Fummel wieder anziehen.« Ich schaue dem Polizisten in die Augen. »Und er hat hinter der Tür gesessen, durch den Schlitz gegafft und dabei …« Ich will die Worte nicht aussprechen, will sie nicht hören.

»Dabei was?«

»Das wissen Sie doch!«, schreie ich. Mein Speichel spritzt auf den Tisch, bleibt in feinen Tröpfchen darauf liegen.

Der Polizist hält meinem Blick stand, sagt nichts. Er lässt mir Zeit und nickt schließlich. »Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen, versuche, mich zu erinnern, doch ich sehe immer nur seine Augen. Er hat eine Sturmhaube getragen, wenn er den Raum betreten hat.

Ich lasse die Hände sinken. Meine Hände, an denen sein Blut klebt. »Grün«, sage ich.

Feine Falten ziehen sich über die Stirn des Polizisten, als er die Augenbrauen fragend zusammenzieht.

»Seine Augen«, sage ich, »sie sind grün. Er hat eine Maske getragen. Sein Körper ist sportlich gebaut, und er ist groß.«

Er wirft der Ärztin einen kurzen Blick zu. Ich hatte sie vergessen, so still sitzt sie da, schreibt mit, beobachtet mich.

»Hat er Sie je …«, beginnt er.

»Vergewaltigt?«, vollende ich den Satz, bevor er sich der Peinlichkeit hingeben muss, es auszusprechen. »Nein, hat er nicht. Dazu war er zu feige.« Ein fahler Geschmack breitet sich ich in meinem Mund aus. »Immer, wenn er den Raum betreten hat, musste ich mich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Er hat sich hinter mich gestellt. Erst weiter weg, um mich zu begaffen. Dann kam er einen Schritt näher. Und noch einen. Bis ich seinen keuchenden Atem in meinem Nacken spüren konnte.«

Mir wird schlecht. Schnell greife ich nach dem Plastikbecher, trinke gegen die Übelkeit an. Die Hälfte des Wassers verfehlt meinen Mund, rinnt über mein Kinn, tropft auf die Decke, die noch immer über meinen Schultern liegt. Die goldene Decke.

»Brauchen Sie eine Pause?«, fragt die Frau, und mir fällt ein, dass sie eine Psychologin ist.

Obwohl ich mich hundeelend fühle, schüttle ich den Kopf. Wenn ich es schnell hinter mich bringe, komme ich schneller nach Hause, schneller in mein altes Leben zurück.

»Bitte sagen Sie, wenn Sie eine Pause brauchen«, sagt sie. »Wir können das Gespräch jederzeit unterbrechen.«

Ich wende mich wieder dem Polizisten zu. »Danach hat er meine Zelle verlassen, mir Essen hingestellt und den Kloeimer ausgetauscht. So hat er es jeden einzelnen Tag gemacht.«

Als der Nachhall meines letzten Wortes verschwunden ist, bleibt nur Stille übrig. Genau die Stille, die mit mir in diesem Kellerloch gelebt hat.

Ein Geräusch, Quietschen, die Tür schwingt auf. Die Metalltür. Ruckartig stehe ich auf. Der Stuhl fällt um. Er ist es. Ganz sicher ist er es.

Aber es ist nur ein weiterer Polizist, der hereinkommt. Nun steht auch die Psychologin auf, kommt um den Tisch herum und berührt meine Schulter. Der Polizist bleibt stehen, sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich starre durch den Spalt der Tür nach draußen. Da sehe ich sie.

 

»Mama!«, schreie ich.

Ich will zur Tür, doch Hände legen sich auf meine Oberarme, packen zu. Ich will die Hände abschütteln, will raus hier.

»Das ist meine Mutter!«

Meine Mutter sieht mich an. Sie schlägt die Hände vor den Mund. Ich sehe, dass sie geweint hat, und die Falten um ihre Augen sind so viel tiefer als beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe.

»Lassen Sie mich!«, schreie ich.

Aber die Frau lässt mich nicht los. Die Psychologin. Sie redet mit mir. Ich höre nicht, was sie sagt, dafür ist das Rauschen in meinen Ohren viel zu laut.

»Mama«, wimmere ich, sinke auf den Stuhl. Ich kann nicht mehr, ich … ein und aus. Atmen. Ruhig.

Der Polizist verlässt den Raum, schließt die Tür, und meine Mutter ist aus meinem Sichtfeld verschwunden.

»Es ist alles in Ordnung«, höre ich die Frau sagen. »Wir brauchen nicht mehr lange. Alles ist gut. Nur noch ein paar Fragen, dann sind wir fertig.«

Ihre sanfte Stimme, ihr leiser Ton und die Vertrautheit, als würden wir uns seit Jahren kennen, lassen mich ruhiger werden. Wieder ins Hier und Jetzt zurückkommen. Ich starre auf die Tischplatte. Betrachte die Kratzer im Lack des Tisches. Dicker grauer Lack. Überdeckt das, was darunter ist. Ein Ring aus Wasser befindet sich dort, wo am Anfang der Becher gestanden hatte, und wartet darauf, dass ihn jemand wegwischt.

»Frau Martin?«

Ich schaue auf, in die Augen des Polizisten.

»Kommen wir auf Ihre Flucht zu sprechen. Wie haben Sie es aus dem Keller geschafft? Was ist passiert?«

Das Rauschen wird wieder lauter. Der Luft in diesem Raum fehlt der Sauerstoff. Es ist so anstrengend. Als zähle ich. So wie ich es auch die letzten 527 Tage gemacht habe. Zählen macht mich ruhiger.

»Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass niemand kommen, niemand mich retten wird«, sage ich und höre ihn selbst, den Hauch der Traurigkeit, der Enttäuschung. »Mir wurde klar, dass nur ich mich retten kann.«

Der Polizist nickt, so, als wollte er meine Gedanken bestätigen. »Und weiter?«, fragt er.

Ich schließe die Augen, begebe mich zurück. Zu ihm. In den Keller. In die Kälte. »Immer, wenn er nicht da war, mich nicht von der Tür aus beobachtet hat, habe ich die Backsteinwände untersucht. Ich habe nach etwas gesucht, womit ich mich befreien kann. Nach etwas, das ich gegen ihn einsetzen kann.« Ich zeige dem Polizisten meine Hände mit den blutigen Fingerkuppen. »Ich habe immer wieder versucht, einen Stein zu lösen. Um ihm diesen Stein auf den Kopf zu schlagen. Um ihn außer Gefecht zu setzen … für einen Vorsprung. Um fliehen zu können. Aus dem Kellerloch. Ich wusste, wenn ich das Haus verlassen kann, dann werde ich Hilfe finden.«

Die Erinnerung bringt den abgestandenen, modrigen Muff des Kellerloches zurück. Und ich bemerke, dass meine Hände, die den weißen Plastikbecher umschließen, ihn zusammendrücken und er zu reißen droht. Ich löse sie vom Becher und verstecke sie unter dem Tisch.

»Aber?«, fragt er.

»Aber was?«

»Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr Vorhaben nicht funktioniert hat?«

Mein Hals ist so trocken. Ich schaue auf den Plastikbecher. Er ist leer. Ich schlucke. »Diese blöden Steine saßen fest. Ich habe keinen einzigen rausbekommen. Dabei habe ich mir die Fingerkuppen abgeschürft bei dem Versuch, den Mörtel rauszukratzen.«

»Was ist dann passiert?«, fragt er.

»Eines Tages hat er die Grenze überschritten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er ist näher gekommen.«

Ich sehe, dass sich seine Augenbrauen wieder bewegen, leicht zusammenziehen. Vermutlich versucht er, sich das alles vorzustellen, das Bild zu sehen. Das Bild, das ich gesehen habe. Aber kann sich das überhaupt jemand vorstellen, wenn er es nicht selbst erlebt hat? Es gespürt hat?

»Davor hatte er sich dicht hinter mich gestellt, mich aber nie berührt. Doch dann ist er einen Schritt weiter gegangen. Er hat mich mit seinem Körper gegen die Wand gepresst. Minutenlang.«

Ich warte auf seine nächste Frage, warte, dass er wissen will, was danach passiert ist. Doch er fragt nicht. Er schaut mich nur an.

»Meine Bemühungen, einen Stein zu lockern, wurden ab diesem Moment noch größer.« Ich spüre die Tränen, die sich so hartnäckig ihren Weg suchen. Tränen haben noch nie geholfen. Tränen retten einen Menschen nicht. Ich hole die Hand unter dem Tisch hervor und wische sie energisch weg.

»Nein, ich habe keinen Stein lösen können, aber von einem ist ein Stück abgebrochen. Ein Keil. Eine Waffe. Ich habe das Ding in meiner Faust versteckt und gewartet. Gewartet, bis er mich wieder an die Wand gedrückt hat. Ich habe ihn gewähren lassen. Und als er von mir abgelassen hat, habe ich mich umgedreht und ihn geküsst. Er war wie versteinert, überrascht oder angewidert, ich weiß es nicht. Während er dastand und mich angestarrt hat, habe ich dieses Stück Stein noch fester gepackt und damit zugeschlagen.«

»Zugeschlagen?«, fragt er.

»Gestochen«, korrigiere ich.

»Wohin?«

»In den Hals.«

»Einmal?«

Ich schüttle den Kopf.

»Wie oft?«, fragt er.

Ich spüre den Stein in meiner Hand, spüre das Blut, wie es über meine Finger läuft. »Ich … ich weiß es nicht.«

»Und der Mann trug die Sturmmaske?«

Ich nicke.

»Und nur die Augen waren frei?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Alles ist wichtig. Jedes Detail.«

Ich nicke erneut, auch wenn es mich unendlich viel Kraft kostet.

»Was ist dann passiert?«

»Ich bin gerannt. An ihm vorbei. Aus dem Raum. Im Flur hing der Mantel an einem Haken. Ich konnte ja nicht in dem Fummel … ich bin aus dem Haus gerannt.«

»Direkt hierher?«

»Ja.« Was ist das für eine Frage? Ich bin doch da.

»Wo wohnen Sie, Frau Martin?«

»Wie bitte?« Meine Gedanken wirbeln. Der Kerker. Der Mann mit der Sturmmaske. Die Stille. Der Stein. Die Polizei.

»In welcher Straße wohnen Sie?«

»In der Erikastraße 41.«

Er schaut in die Akte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, bis er wieder nach oben und mich anschaut.

»Sind Sie sicher?«

Ich brauche einen Moment. Dann lache ich. Es klingt hysterisch. Das höre ich selbst. »Natürlich bin ich sicher.«

»Wohnen Sie nicht in der Bonhoefferstraße 19?«

Bonhoefferstraße? Ich versuche, meine verfluchten Gedanken zu sortieren, um zu verstehen, was hier läuft.

»Ist es nicht so, dass Sie Martin hießen, bevor Sie geheiratet haben, Frau Krüger?«

Seine Worte dringen wie durch Watte zu mir hindurch. Verständlich und doch unverständlich.

Er schiebt mir ein Foto entgegen. Es zeigt mich im Hochzeitskleid. Und neben mir steht ein Mann mit grünen Augen. Die Übelkeit sucht sich wieder ihren Weg.

»Kennen Sie den Mann?«

Ich kann meinen Blick nicht von dem Foto lösen. Von den Augen des Mannes. So unverschämt grün. Böses Grün.

Der Polizist schiebt mir ein zweites Foto hin. Auch dort trage ich das Hochzeitskleid. Der Mann ist ebenfalls drauf. Und eine Frau. Meine Mutter.

»Ihre Ehe war nicht glücklich«, sagt der Polizist. »Zumindest nach der Aussage Ihrer Mutter. Und nach Aussage der vielen Krankenhausberichte.«

Nun schaue ich vom Foto auf und den Polizisten wieder an. »Krankenhaus?«

Er schiebt ein Blatt über den Tisch. »Quetschungen. Zwei gebrochene Rippen. Gebrochene Finger. Gebrochene Nase …«

»Hören Sie auf!«, schreie ich. »Was soll das? Ich kenne den Mann nicht. Ich wurde entführt und musste mich selbst befreien. Weil die Polizei dazu nicht in der Lage war.«

Ich muss würgen. Schlucke dagegen an. Ich will mich nicht erbrechen. Nicht hier. Auf den Tisch mit dem grauen Lack. Vor dem Polizisten und der Psychologin. Und dem Polizisten an der Tür. Vielleicht sind sie gar nicht die, für die sie sich ausgeben. Vielleicht ist es eine Falle, und sie stecken mit dem Monster unter einer Decke. Aber meine Mutter …

»527 Tage«, sage ich. »Ich wurde 527 Tage gefangen gehalten. In einem Keller. Von dem Mann mit der Sturmmaske.«

»Frau Krüger.« Der Polizist. »Sie wurden nicht entführt. Es gab keinen Mann mit einer Sturmmaske. Es gab nur Ihren Ehemann, der Sie über eine lange Zeit misshandelt hat. Ihre Mutter sagte uns, sie habe viele Monate keinen Kontakt mehr zu Ihnen herstellen können, da Ihr Ehemann es verboten hätte. Ihre Mutter hat sogar Anzeige erstattet. Aber Sie, Frau Krüger, haben Ihren Mann immer wieder verteidigt und gesagt, es wäre alles ein Missverständnis.«

»Nein. So war das nicht.«

»Und Sie sind auch nicht direkt nach Ihrer Flucht hierhergekommen, Frau Krüger. Wo waren Sie? Seit dem gestrigen Tag?«

»Nein, nein, ich bin nicht verheiratet. Das ist eine Lüge!«

Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter. Wieder rollt die Welle auf mich zu. Dunkel. Groß. Laut.

»Sie haben Ihren Mann erstochen, Frau Krüger. Mit einem stumpfen Messer. Etwas anderes haben Sie nicht gefunden, denn er hatte alle scharfen Gegenstände aus der Wohnung entfernt. Das Besteck empfand er wohl nicht als Bedrohung.«

Die Welle ist über mir. Nimmt sämtliches Licht. Nimmt mir die restliche Luft.

»Sie haben neun Mal zugestochen. In den Hals.«

Die Welle bricht. Alles wird schwarz. Es ist vorbei.