Theorien der Literatur VII

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Theorien der Literatur VII
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Theorien der Literatur

Band VII: Literatur und die anderen Künste

Günter Butzer / Hubert Zapf

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0061-4

Inhalt

  Vorwort

 Stilisierte Krokodile1. Visuelles Argumentationsmaterial2. Krokodile in der mittelalterlichen Naturdeutung3. Chroniken und Flugblätter4. Kunsttheorie und Ikonographie5. Gessner, Ligozzi und Camerarius6. Präparate7. Ikonographie der Erdteile8. Rubens9. Merian und Seba10. Vom Naturalienkabinett zum AquariumLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteratur

 Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste1. Einführung2. Goethes Italienische Reise: literarische Betrachtung des eigenen Sehe-Punktes3. Giacomo Leopardi: Rückblicke des lyrischen Ich ‚im Bild‘ der Grandtouristes4. Émile Zola: Manets Porträt und das literarische Porträtiertwerden5. Charles Baudelaire: Literatur als Gegenteil von PhotographieLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteratur

 Symphonien1. Vorüberlegungen2. Empfindsamkeit: Die Symphonie als Medium der GefühlserzeugungLiteraturverzeichnisFilmePrimärliteraturForschungsliteraturInternetquellen

  Erzählte Bilder Zerstörungen Experimente Reflexionen Innovationen 3.1 2.2 1.3 Impulse kreativer Signaturen Literaturverzeichnis

  Drama als intermediales Genre Literaturverzeichnis

 Literatur und Film: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame1. Vorüberlegungen2. Film unter dem Paradigma des Theaters: Ludwig Cremers Adaptation für das Fernsehen3. Aufbruch des Films ins Imaginäre: Bernhard Wickis The Visit4. Die Notwendigkeit der Selbstreflexion der visuellen Medien heute: Leytners Fernsehfilm-Fassung des Besuchs der alten Dame5. SchlussLiteraturverzeichnisFilmePrimärliteraturSekundärliteratur

  Hip-Hop und Literatur Literaturverzeichnis

 „Kleine Welten“ – Der Literatur-Comic1. Einführung2. Die Wechselseitige Erfindung der Künste3. Präsentationsformen des Literaturcomics: Linie und LyrikWarren Craghead III und Lydia Daher: Kleine SatellitenJürgen Partenheimer: one hundred poets4. ZusammenführungLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteratur

 Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen PraxisI. I-S-RDas Reale und die Negative TheologieII. Das Reale nach der PostmoderneIII. Das Reale in David Mitchell’s number9dream, Tom McCarthy’s Remainder und Gaspar Noés Enter the VoidLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteratur

 Religion und Fiktion1. Religion als Literatur2. Text und Bedeutung2.1 Text und Deutung2.2 Text und Begriff3. Religion und LiteraturLiteraturverzeichnis

  Die Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potenziell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind.

Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe Theorien der Literatur konzipiert, in der bislang sechs Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorliegenden siebten Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte – auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven, die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt.

Dieser Dialektik von Tradition und Innovation ist auch der vorliegende Band der Reihe treu geblieben. Er setzt jedoch insofern einen neuen Akzent, als er mit dem Thema „Literatur und die anderen Künste“ erstmals einen thematischen Schwerpunkt etabliert. Im Fokus steht dabei nicht die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten im Allgemeinen, sondern zu konkreten Kunstformen. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen den Künsten, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArts Studies analysiert werden. Er versammelt Arbeiten, die die Bild-Text-Beziehungen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken der Naturkunde, aber auch im modernen Comic behandeln, ebenso wie Studien, die die Konkurrenz der Künste in der Renaissance und ekphrastische Verfahren in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts untersuchen. In zwei Aufsätzen stehen die Rolle der Symphonik als Leitkunst für die Literatur der Romantik und der Moderne sowie die Relation von HipHop und Literatur im Zentrum. Ein Beitrag befasst sich mit der medialen Transposition eines literarischen Texts in unterschiedliche filmische Formate, ein weiterer thematisiert die Beziehung von Literatur und Film aus der Perspektive der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans. Die abschließenden Studien leuchten das intermediale Potenzial des Dramas aus und beschäftigen sich mit den interdiskursiven Bezügen von Literatur und Religion. Wie die vorherigen Bände der Reihe, sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2015/16 und im Sommersemester 2016 an der Universität Augsburg stattfand. Zu den beteiligten Fächern gehören Kunstgeschichte und Filmwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik, Germanistik und Romanistik sowie Theologie und Vergleichende Literaturwissenschaft.

 

Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Tillmann Bub vom Francke Verlag für die ausgezeichnete Kooperation, insbesondere auch Claire Zander und Kathrin Windholz für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck vorbereitet haben, sowie der Kurt-Bösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen.

Augsburg, im November 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf

Stilisierte Krokodile

Bild und Text in der frühneuzeitlichen Naturkunde

Robert Bauernfeind

1. Visuelles Argumentationsmaterial

Text und Bild galten in der frühneuzeitlichen Naturkunde und insbesondere der Zoologie als gleichrangige Erkenntnismittel. Zum einen verdankte die Naturkunde des 16. und 17. Jahrhunderts einen wesentlichen Impuls der humanistischen Aufarbeitung antiker Schriften; dabei bildete etwa Plinius’ Historia Naturalis einen zentralen Bezugspunkt der nachantiken Betrachtung der Natur. Zum anderen musste sich diese Revision an den Kenntnissen exotischer Tiere messen lassen, die zunächst die spanischen und portugiesischen, dann vor allem die niederländischen Seefahrer aus Amerika und Asien nach Europa brachten. Die Basis der frühneuzeitlichen Naturkunde bestand also in der Auswertung antiker Texte; für die Einordnung bislang unbekannter Arten boten hingegen Bilder eine primäre Orientierung. Ihr epistemologischer Wert erschließt sich daraus, dass die Protagonisten der Naturgeschichte – besonders prominent Konrad Gessner und Ulisse Aldrovandi – Künstler anstellten, die nach Bildvorlagen ebenso wie lebenden Tieren und Präparaten Darstellungen von hoher mimetischer Raffinesse anfertigten. Ein berühmtes Beispiel sind zwei Vipern, die Jacopo Ligozzi, Hofkünstler der Medici, für Aldrovandi gezeichnet hat. Indem Ligozzi die Schlangen als Trompe-l’oeil darstellte – die Tiere scheinen sich, ornamental in einander verschlungen, auf dem mit zwei Textblöcken beschriebenen Blatt zu winden –, verschärfte er die Suggestionskraft der Darstellung so weit, dass die Gefährlichkeit der Giftschlangen geradezu greifbar erscheint.1

Das argumentative Potential der Bilder versuchten die Autoren auch für ihre Publikationen zu nutzen. Konrad Gessner ordnete etwa die Einträge in seiner vierbändigen, ab 1551 erschienenen Historia Animalium um die Darstellung des jeweils beschriebenen Tiers an, wobei der Text das Bild durch Verweise einbezieht. Die für den Druck benutzten Holzschnitte erreichen selten die ästhetische Qualität der Zeichnungen; gleichwohl vermögen sie wesentliche Merkmale der Tiere zu veranschaulichen. Ein berühmtes Beispiel ist die Darstellung eines Paradiesvogels im dritten Band, das zugleich die methodischen Schwierigkeiten der Erfassung exotischer Fauna aufzeigt, die jeweils nur an raren Einzelexemplaren vollzogen werden konnte. Als Vorlage scheint eine Zeichnung von Konrad Peutinger gedient zu haben, dem jedoch lediglich der Balg des Vogels vorgelegen war. Da diesem vermutlich bereits vor seinem Export nach Europa die Füße entfernt worden waren, entstand dort die Annahme, der Paradiesvogel habe keine Füße und verbringe sein gesamtes Leben im Flug.2 Sie verfestigte sich so sehr, dass der Paradiesvogel bereits in Joachim Camerarius’ ab 1592 erschienen Symbola et Emblemata zum Sinnbild für ein vergeistigtes Leben überhöht war.3

Bild und Text trugen somit gleichermaßen zu einer für die frühneuzeitliche Naturkunde bezeichnenden Ambivalenz bei: Einerseits tradierte die Rezeption der antiken Schriften auf Mythen und Legenden beruhende Informationen auch dann, wenn diese durch die eigene Anschauung falsifiziert waren, andererseits war auch die empirische Erfassung, mit der überkommene Annahmen kritisiert werden sollten, kaum gegen Fehldeutungen gefeit, da gerade im Falle exotischer Fauna oft nur einzelne Exemplare untersucht und keine überindividuellen Merkmale festgestellt werden konnten. Im Folgenden soll an einer Motivgeschichte des Krokodils vom 15. bis ins 18. Jahrhundert dargelegt werden, wie sich bestimmte Stereotype in der Darstellung der Tiere etablierten und tradiert wurden, und damit die frühneuzeitliche Ikonographie des Krokodils umrissen werden. Die These lautet, dass die Übernahme bestimmter Formeln aus dem Bereich der Hochkunst die naturhistorischen Illustrationen selbst dann noch stilisierte, wenn die Augenzeugenschaft der Autoren die entsprechenden Eindrücke bereits falsifizieren konnte.

2. Krokodile in der mittelalterlichen Naturdeutung

Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet ein Blatt aus der Peregrinatio in Sanctam Terram, Bernhards von Breydenbach 1486 publiziertem Reisebericht über seine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Der Holzschnitt zeigt in streumusterhafter Anordnung acht Tiere, die Bernhard und seine Gefährten auf ihrer Route über Ägypten gesehen haben wollen, darunter eine Giraffe und ein Einhorn sowie rechts oben ein Krokodil. Alle sind durch Inschriften bezeichnet, so auch das Krokodil als „Cocodrillus“.1 Eine schwarze Linie rahmt das Bild, unter ihr versichert Bernhard die Betrachter der Wahrhaftigkeit der Darstellung: „Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sacra.“2

Schon die Darstellung des Krokodils lässt daran jedoch Zweifel aufkommen: Furchtbar gewunden erscheint das echsenähnliche Wesen mit dem langen, nach oben gereckten Hals, den übermäßig langen Gliedmaßen mit gekrümmten Krallen und besonders dem in Form einer 8 zweifach gerollten Schwanz.

Das Bild ist einer von sechsundzwanzig Holzschnitten, die der niederländische Künstler Erhard Reuwich, der Bernhard auf der Reise begleitet hatte, für die Peregrinatio angefertigt hat. Dass Bernhard und Reuwich nicht alle der dargestellten Tiere mit eigenen Augen gesehen haben können, versteht sich schon in Anbetracht des Einhorns. Die Beobachtung von Krokodilen erwähnt der Text hingegen bei der Schilderung einer Nilfahrt. Reuwich dürfte jedoch keine Gelegenheit gehabt haben, die Tiere detailliert zu studieren; eher scheint er sich bei der Darstellung an Vorlagen aus mittelalterlichen Bestiarien und Enzyklopädien orientiert zu haben.3 Frederike Timm zufolge muss Reuwichs Augenzeugenschaft an der Vorprägung dieser Bild- und Texttradition relativiert werden.4

Im Gegensatz zu anderen von antiken Autoren beschriebenen Exoten wie Nashörnern, Nilpferden oder Haien war die Kenntnis von Krokodilen während des Mittelalters nämlich nicht verblasst. Bartholomäus Anglicus erwähnt Krokodile in De proprietatibus rerum ebenso wie Vinzenz von Beauvais im Speculum maius.5 Noch älter ist die Beschreibung von Krododilen im Liber Monstrorum, einer frühmittelalterlichen Abhandlung über die drei Arten von Monstren und Ungeheuern, die dem anonymen Verfasser am Schrecklichsten erscheinen, nämlich Wundermenschen, gefährliche Tiere sowie Drachen und Schlangen. Der mittlere Themenblock enthält einen Eintrag über Krokodile, demzufolge die am Nil heimischen Tiere sowohl am Ufer als auch im Wasser lebten, überwiegend dösten, aber vom Geruch von Menschenfleisch erregt werden könnten, auf das sie gierig seien.6 Als deskriptive Auflistung bildet der Liber Monstrorum eine Ausnahme in der mittelalterlichen Tradition der Naturbetrachtung, die hauptsächlich von dem Bestreben geleitet war, in Naturphänomenen Gleichnisse geistlich-moralischer Maximen zu erkennen. Ihre berühmteste Ausformung ist bekanntlich der Physiologus, eine seit der Spätantike nachweisbare Sammlung von Tierbeschreibungen, die jeweils als Beispiele christlichen Verhaltens ausgelegt werden. Bis ins 13. Jahrhundert überliefert, beinhalten einige Physiologus-Handschriften auch Kapitel über Krokodile. Sie beschreiben das Krokodil als menschenfressendes Mischwesen aus Schlange und Löwe, das seine Opfer beim Verschlingen betrauert. Damit ist auf das Phänomen der sogenannten Krokodilstränen angespielt, denn tatsächlich sondern verschiedene Arten von Krokodilen während des Fressens ein Tränensekret ab; der Physiologus deutet dies als Heuchelei und vergleicht das Krokodil mit Mächtigen und Raffgierigen, die am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott ihre eigenen Missetaten beweinen, dann aber keine Gnade mehr finden, sondern zur Hölle fahren.7 Diese Deutung übernahm noch Konrad von Megenberg in seinem 1348 bis 1350 entstandenen Buch der Natur, das als erste Naturkunde in deutscher Sprache zu den einflussreichsten Lehrbüchern des Mittelalters zählt.

Neben dieser moralisierenden Auslegung von Texten gab es im Mittelalter, wie Johannes Tripps aufzeigte, auch bildhafte Arrangements von Krokodilen. Krokodilhäute wurden aus Ägypten nach Europa exportiert, wo sie als Zeichen der Allmacht Gottes ins Bildprogramm gotischer Kirchenbauten integriert werden konnten; dies entspricht einer gängigen Gleichung von Krokodilen mit dem biblischen Leviathan (Hiob 40, 25–32). Krokodile konnten aber auch als Drachen gelten; ihre Häute wurden besonders dort in Kirchen aufgehängt, wo ein Drachenkampf zu den regionalen Heiligenlegenden gehörte. Bis heute erhalten blieb ein Präparat in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mantua, das dort um 1500 befestigt wurde. In Metz, wo der Hl. Klemens das Oberhaupt einer Drachenbrut gebannt haben soll und sich die Einwohner im Gegenzug zum christlichen Glauben bekannten, wurde das aus Teilen einer Krokodilhaut angefertigte Modell des Drachen nicht nur in der Kirche aufbewahrt, sondern auch bei Prozessionen getragen.8 Der Drachenkampf bzw. -bann ist ein Topos mittelalterlicher Heiligenlegenden und verweist meist auf den Sieg des Christentums über das Heidentum.

Als Erhard Reuwich also ein krallenbewehrtes Ungetüm in Holz schnitt und als Krokodil bezeichnete, mögen ihn zwei Traditionen geleitet haben: Die moralisierende Deutung älterer Texte in der Tradition des Physiologus, zu der keine eigene Kenntnis der Tiere nötig war und in der das Krokodil zum Sinnbild schlechten Verhaltens geraten war, und die bildhafte Ausstellung manipulierter Krokodilpräparate, die den Leviathan, aber auch Drachen und den Satan selbst porträtieren konnten. Ob Bernhard von Breydenbach und seinem begleitenden Künstler überhaupt daran gelegen war, die vielleicht am Nil beobachteten Tiere zu dokumentieren, oder ob sie in der Erwähnung des allegorisch stark aufgeladenen Geschöpfs womöglich negative Reiseerlebnisse kompensieren wollten, sei dahingestellt. Reuwichs Holzschnitt beinhaltet jedenfalls die früheste druckgraphische Darstellung eines Krokodils in Europa und zählt damit zu den bedeutendsten Tierdarstellungen der Inkunabelzeit.

3. Chroniken und Flugblätter

Die Vorbildfunktion von Reuwichs Bildern wird etwa daran augenfällig, dass sein Krokodil noch in einer frühen deutschen Ausgabe von Sebastian Münsters Cosmographia, erschienen 1546 in Basel, als Illustration eines Abschnitts über Ägypten diente.1 Diese folgte auf die zwei Jahre zuvor erschienene lateinische Erstausgabe, die bekanntlich zu den enzyklopädischen Hauptwerken der Renaissance zählt. Sie führt die von Hartman Schedel modernisierte Tradition der Weltchronik fort und beinhaltet einen auf sechs Bücher verteilten chronologisch-geographischen Überblick der Weltgeschichte vom biblischen Schöpfungsbericht bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zentraleuropa; nur die beiden letzten Bücher behandeln Asien, Afrika und Amerika.

 

Tiere spielen in Münsters geographisch orientiertem Werk eine untergeordnete, in ihrer teils sensationellen Charakterisierung jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Im Bereich der vertrauten Länder Mitteleuropas gilt das Interesse an Tieren vornehmlich dem Nutzwert. Je weiter der Text jedoch von seinem Entstehungsort fortführt, desto mehr Betonung liegt auf dem Befremdlichen und Sensationellen der Fauna. Im Niemandsland jenseits der Überprüfbarkeit orientierte sich Münster an den Überlieferungen der antiken Literatur. Die Bücher über Asien und Afrika geben hinsichtlich der Fauna meist Plinius und Strabo wieder; die Mitteilungen über Amerika beschränken sich auf Auszüge aus den Briefen Amerigo Vespuccis.2

Dass Reuwichs kleines Scheusal in frühen Ausgaben der Cosmographia zu sehen ist, ist erstaunlich, hatte Münster doch mit Rudolf Manuel Deutsch einen namhaften Künstler für die Illustrationen seines Buchs engagiert, der für die Erstausgabe auch ein Krokodilbild angefertigt hat. Deutschs Bild dürfte die erste naturnahe Darstellung eines Krokodils in der Druckgraphik sein. Das Tier stolziert, das Maul halb geöffnet, in Seitenansicht von links nach rechts durch eine steinige Uferlandschaft, die links unten an ein fließendes Gewässer grenzt. Wesentliche Merkmale von Krokodilen, so die kegelförmigen, teils über den Kiefer ragenden Zähne, die fünf Finger mit Krallen an den Händen sowie die Nackenspalte, sind für eine Identifikation der Ordnung ausreichend wiedergegeben.3 Gleichwohl weist die Darstellungen auch Unstimmigkeiten auf, insbesondere den zu klein geratenen Kopf, der wie ein entfleischter Schädel aussieht; womöglich hat sich Deutsch an einem Präparat in entsprechendem Zustand orientiert. Für ein Präparat als Vorlage spricht bei diesem Bild – ebenso wie bei den meisten folgenden – im Übrigen die für Krokodile ungewöhnliche Stellung der Extremitäten, da Krokodile meist mit seitlich abgewinkelten Extremitäten liegen, während eines ihrer seltenen Läufe hingegen schwierig zu beobachten sind.

Das Bild illustriert einen Textabschnitt über die antike ägyptische Stadt Arsinoe, den Münster hauptsächlich aus Strabons Geographie übernommen hat. Dort habe es einen Kult gegeben, bei dem ein als heilig geltendes Krokodil von Priestern mit Opferspeisen gefüttert worden sei. Es folgt ein Abriss über Verhalten und Merkmale der Tiere, der u.a. die Frage aufwirft, ob Krokodile eine Zunge haben oder nicht, auf das wundersame Wachstum der Tiere hinweist, die aus kleinen Eiern schlüpften, und die Gefährlichkeit der Krokodile andeutet. Auch Münster erwähnt im Übrigen Krokodilstränen, deutet sie aber nicht moralisch, sondern bezeichnet sie als sprichwörtlich.4

Münsters Verzicht auf eine christlich-moralische Gleichung ist programmatisch für die Cosmographia: Zwar legitimierte auch Münster seine Studien mit der seit den mittelalterlichen Enzyklopädien topischen Motivation, im Studium der Dinge die Weisheit Gottes zu entziffern.5 Ihm war allerdings weniger an einem theologisch begründeten Weltbild und einer auf die Endzeit hinweisenden Historiographie gelegen; die Cosmographia profanisierte Wissen, wie Detlef Haberland ausführte, um der Gelehrtenwelt der Renaissance ein Handbuch der Staaten und sozialen Systeme, kulturhistorischen Entwicklungen und naturgeschichtlichen Besonderheiten bereitzustellen. Sie stellt damit einen „Paradigmenwechsel von größtem Ausmaß“ und gewissermaßen einen Endpunkt der Chroniktradition dar, an deren Stelle im 16. Jahrhundert bereits die Spezialisierung auf einzelne Bereiche der Naturkunde tritt.6

Für diese war auch der Rang der Bilder von zentraler Bedeutung. Bereits die mittelalterlichen Enzyklopädien waren in illuminierten Prachtausgaben erschienen, doch erst die Druckgraphik hatte zu einer Verbreitung illustrierter Bücher jenseits der höchsten gesellschaftlichen Eliten geführt.7 Entgegen einer im Mittelalter dominierenden Skepsis am Erkenntniswert konkreter Abbildungen, die insbesondere von Augustinus formuliert worden war, hatte in epistemologischer Hinsicht bereits Schedel Bilder als genuine Informationsmedien hervorgehoben.8


Abb. 1: Flugblatt mit der Darstellung eines Nilkrokodils

Den Holzschnitten in der beinahe durchgehend illustrierten Cosmographia kommt Mathew McLean zufolge über einen illustrativen ein ordnender Wert zu, denn ihr Layout unterteilt und betont einzelne Textstellen. Zugleich steigerte die dichte und teils hochwertige Bebilderung die Attraktivität der Publikation.9 Nicht zufällig sind dabei Exoten wie das Krokodil in größerem Format hervorgehoben, galt ihnen doch ein seit der Entdeckung Amerikas gesteigertes Interesse in der europäischen Gelehrtenwelt. Münsters Kompilation antiker Texte über Krokodile ist insofern programmatisch, als die frühneuzeitliche Naturkunde auf die Herausforderung der neuen oder zumindest seit der Antike nicht mehr in Europa gesehenen Arten mit der Auswertung der antiken Literatur reagierte; die Texte des Altertums, nicht die moralisierenden Deutungen des Mittelalters, bildeten die methodische Grundlage der neuzeitlichen Naturgeschichte. Deren weiterhin bestehende theologische Verpflichtung wird aus dem Beibehalten jenes Providentia-Topos ersichtlich, der die Erforschung der Natur als Weg zur Erkenntnis der Weisheit Gottes preist. Münsters Bemühungen, akkurate Bilder von besonders bizarr geformten Tieren wie Deutschs Krokodil, aber auch eine Kopie nach dem berühmten Rhinozeros von Albrecht Dürer in den Text einzufügen, scheint auf eine charakteristische Einstellung dieses Topos in der Frühen Neuzeit zu reagieren, der zufolge das Wirken der Natur bzw. der göttlichen Schöpfung in ihren ungewöhnlichen Ausformungen besonders deutlich zu erkennen sei; wie Lorraine Daston aufzeigte, bildete diese – mit „Neugierde“ unzureichend übersetzte – curiositas gleichsam den Nukleus der frühneuzeitlichen Epistemologie.10

Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Druckgraphik setzte eine regelrechte Kaskade von naturkundlichen Darstellungen ein. Einzelne Bilder wie Dürers Rhinozeros wurden über Jahrhunderte kopiert und fanden selbst noch in Publikationen Verwendung, die sich mit dem Tier durchaus nicht befassen, sondern mit seinem hohen Wiedererkennungswert nur mehr eine generelle Exotik markieren.11 Diese Entwicklung betraf die Wissenszirkulation in der Sphäre der Gelehrtenwelt ebenso wie im populären Bereich, wo einzelne Bilder in Flugschriften und Einblattdrucken verbreitet wurden.

Deutschs Krokodil etwa diente 1564 als Vorlage für eine Reihe von Flugblättern, die das Bild in diversen Variationen in einen neuen Kontext setzen.12 Ein in Straßburg gedrucktes Exemplar zeigt das Bild in der charakteristischen Anordnung zeitgenössischer Flugblätter – das Bild wird also zwischen eine ausführliche, von Reizwörtern geprägte Überschrift und einen erläuternden Text gesetzt – doch bei der insgesamt erkennbaren Orientierung an der Vorlage irritiert auf dem Blatt der median nach oben gerollte Schwanz des Krokodils (Abb. 1); im Übrigen wurde die landschaftliche Einfassung auf einen Hügel reduziert. In der für Sensationsnachrichten typischen Betonung einer authentischen Darstellung des Unglaublichen verschärft die Überschrift den Appellcharakter des Layouts:13 „Warhafftige Beschreibung eines grausamen erschröcklichen grossen Wurms/wölcher zu Lybia in Türckey/an der babylonischen Gräntzen wunderbarlicher weiß gefangen und umbbracht worden ist/der da in Latein Crocodili/und auff Teütsch Lindwurm genennet würt.“

Damit ist ein Teaser für die im Text anschließende Geschichte gesetzt, die denn auch eine Drachentötermär im Ambiente eines Orientalismus avant la lettre bietet. Sie beschreibt das furchtbare Treiben eines Krokodilpaars, das zwei Jahre lang Land und Menschen bei der Stadt „Libia“ terrorisiert habe. Auftritt dann ein Christ in türkischer Gefangenschaft, der sich vom Fang der Tiere seine Freiheit verspricht und sich, nachdem er die Hilfe Gottes erfleht hat, auf die Jagd macht. Er baut eine Falle, die List geht auf, Männchen und Weibchen fallen in die Grube, wo beide 30 Tage lang unter wildem Geschrei vegetieren; das Geschrei der Krokodile sei so schrecklich gewesen, dass es in der nahgelegenen Stadt eine Welle von Fehlgeburten ausgelöst habe. Der Held hingegen hat nun nicht nur seine Freiheit errungen, sondern wird gefeiert und belohnt. Abschließend wird die Hilfe des allmächtigen Gottes gepriesen und der Text nimmt eine Wendung: Der Verfasser gibt in der ersten Person an, er selbst habe „in Libia“ seinem Helden eines der Krokodile abgekauft und wolle nun die Kenntnis der Geschichte einer breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten.

Das einzig erhaltene Exemplar dieses Flugblatts beinhaltet eine handschriftliche Notiz: „Vidi Rostochij, war achzehen II Schuh lang. Hat 66 Zenen“. Wolfgang Harms vermutete wegen dieser Eintragung sowie des reißerischen Texts, dass das Flugblatt als Souvenir eines fahrenden Schaustellers angefertigt wurde, der ein Krokodilpräparat im deutschsprachigen Raum vorführte.14 Das Präparat könnte Ingrid Faust zufolge stark manipuliert worden sein und so als Orientierung für den Holzschneider gedient haben, das Tier mit gerolltem Schwanz darzustellen.15

Bild und Text des Flugblatts tragen somit dazu bei, Kenntnisse über Krokodile neuerlich zu verunklären. Zur Hochzeit der sogenannten Türkengefahr – nach der ersten Belagerung Wiens 1529 – scheint der Text nicht zufällig eine Drachentötung durch eine christlichen Helden im osmanischen Raum zu beschreiben und damit eine etablierte Erzählform des Kampfs gegen das Heidentum zu aktivieren, zumal die Überschrift mit der Übersetzung von Krokodil als Lindwurm deutlich die mittelalterliche Gleichung von Krokodilen und Drachen aufleben lässt; bereits Münster hatte jedoch zwischen beiden unterschieden.16 Dem Text des Flugblatts entspricht die bildliche Verzerrung des Krokodils durch den gerollten Schwanz, der Deutschs Bild mit jenem Reuwichs zu verbinden scheint.