Vision und Wirklichkeit

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Sari: Edition IGW #9
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Im Westen ist die Religion weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden. »Schön, wenn dein Glaube dir hilft«, lautet das Motto. Glaubensfragen muss jedes Individuum selbst beantworten. Allgemeingültige Antworten kann es in der Welt der Postmoderne nicht geben. Wenn der Versuch trotzdem unternommen wird, empfindet man das als moralisierend. Glaubensfragen sind für viele Menschen sekundär und eine Sache des persönlichen Geschmacks. Sie sind auf der gleichen Stufe anzusiedeln wie musikalische Präferenzen oder die Frage, ob man lieber bei Migros oder Aldi einkauft. Kaum jemand fragt noch wie Martin Luther vor 500 Jahren, ob er einen gnädigen Gott bekommen kann. Die Frage, ob Jesus Christus leiblich auferstanden ist, ist für die meisten Zeitgenossen weniger wichtig als die Frage, wer die Champions League gewinnt.

Hat die Kirche in dieser Welt der Belanglosigkeiten eine Zukunft? Hat sie etwas zu sagen, das alle angeht? Es ist verlockend, sich angesichts dieser Situation in einen beschaulichen Eigenheimpietismus zurückzuziehen, wo man sich bequem einrichten kann und Pastoren geistliche und psychologische Bedürfnisse zufriedenstellen. Aber das ist keine Option für eine Kirche, welche die Kirche von Jesus Christus sein will. Denn so, wie er in der Welt war, ist auch sie in der Welt. Das bedeutet, immer wieder die Entscheidung zu treffen, den aufreibenden Mittelweg zwischen Beschaulichkeit und Anpassung zu gehen. Beschauliches Christsein kann es nicht geben, weil das Evangelium mitten in die Welt gehört. Angepasstes Christsein kann es nicht geben, weil die Botschaft des Evangeliums mitsamt seinen anstößigen Elementen auch heute gehört werden muss.

Der Urkirche waren Herausforderungen dieser Art bestens bekannt. Die antike Welt war im Grunde genommen pluralistisch, allerdings nur, solange der messianische Anspruch des Staates nicht infrage gestellt wurde. Die ersten Christen hätten nur auf den Satz »Jesus ist der Herr« verzichten müssen und sie hätten sich die Auseinandersetzung mit dem römischen Kaiser ersparen können. Sie hätten sich darauf verständigen müssen, dass ihr Glaube der persönlichen Erbauung dient und den Verehrungsanspruch des Kaisers nicht tangiert, und sie wären völlig sicher gewesen. Doch genau das taten sie nicht, denn es wäre eine Verleugnung ihres Glaubens gewesen, der besagt, dass Jesus der Herr ist.

Dass der Glaube eine öffentliche Angelegenheit ist, war keine Erfindung der Urkirche, sondern geht auf Jesus zurück. Jesus beschränkte sich nicht darauf, die Menschen aufzufordern, an das Evangelium zu glauben. Er rief nicht zu einer Gotteserfahrung, welche die Gläubigen in eine geistliche Welt entführte, in welcher man seinen Frieden fand, weil man sich nicht um die Belange der Gesellschaft kümmerte. Jesu Predigtmenü reichte von den großen religiösen Fragen (ist Scheidung erlaubt? – Mt 19,2–12) über aktuelle gesellschaftliche Fragen (wie geht man mit dem Abschaum der Gesellschaft um? – Lk 15,1–32) bis zu den brennenden politischen Fragen seiner Zeit (wie verhält man sich gegenüber seinen politischen Unterdrückern? – Mt 5,41; soll man dem Kaiser Steuern zahlen? – Lk 20,20–26).

Die Kirche muss sich auf die Fährte des Galiläers setzen lassen, wenn sie nicht in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit versinken will. Christen folgen ja einem Propheten, der sich eingemischt hat. Jesus war ein Störenfried der Mächtigen. Es war Lesslie Newbigin, der Spiritus Rector der Missional Church, der in den 1980er-Jahren darauf hingewiesen hat, dass die Kirche die Einschränkung ihrer Rolle auf den privaten Sektor niemals hinnehmen darf. Zweifellos hat er damit Jesus und die Urkirche auf seiner Seite. Und er hat damit der Kirche den Weg gewiesen, den sie zu gehen hat.

Kreuzen am Wind

Alles das macht deutlich, dass die Aufgabe, die vor der Kirche liegt, herausfordernd und voller Unwägbarkeiten ist.

Bei einem Marathonlauf über 42 Kilometer holen die Läufer die letzten Reserven aus sich heraus. Als Hilfe dient ihnen eine blaue Linie am Boden, der sie stur folgen, um direkt auf das Ziel zuzulaufen. Das Rezept ist quasi simpel: Einfach so schnell wie möglich der blauen Linie folgen und nicht darüber nachdenken, was links und rechts von ihr liegt.

Wenn es um den Bau der Kirche geht, gibt es so etwas wie eine blaue Linie nicht. Es wäre verlockend, eine solche zu haben (und manche denken, es gäbe sie), denn dann müsste man ihr nur treu folgen und wir kämen ans Ziel. Aber es reicht nicht, einfach nur treu zu sein und die Dinge so zu machen, wie man sie schon immer gemacht hat. Wir müssen nicht nur treu sein in der Ausführung unsere Auftrags, wir brauchen ebenso Umsichtigkeit, Weisheit und Kreativität.

Für die Kirche der Zukunft bietet sich ein anderes Bild an. Kirche der Zukunft zu bauen, ist wie Kreuzen am Wind auf offener See. Mal kommt der Wind von hier, mal von dort. Ihn vorauszusagen, ist schwierig und manchmal unmöglich. Darauf muss man weise und schnell reagieren und wissen, wie man die Segel richtig setzt. Man muss erkennen, welcher Wind der Wind des Zeitgeistes ist und wo der Heilige Geist weht. Was heute funktioniert, funktioniert in 20 Jahren vielleicht nicht mehr. Der Wind kann drehen, ja er wird drehen, und wir haben bereit zu sein.

Die Unwägbarkeiten der Zukunft verlangen danach, fest in der Welt des Evangeliums verwurzelt zu sein und ebenso in der Welt, in welcher Kirche gebaut wird, zu Hause zu sein, sodass man die beiden Welten miteinander verbinden kann. Wo dies geschieht, kann die Kirche in der Zukunft nicht nur überleben, sondern Zukunft auch gestalten.


BIOGRAFISCHES

Dr. theol. Roland Hardmeier, Jahrgang 1965, verheiratet mit Elisabeth Hardmeier-Gurtner. Von 1995 bis 2010 Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Autor mehrerer Bücher, selbstständiger Dozent und Referent, Dozent bei IGW.

Kontakt: rha@roland-hardmeier.ch.

KLOSTER ALTE GÄRTNEREI STEFFISBURG

Ein Familienkloster in der evangelikalen Gemeindelandschaft

Mike Bischoff

Unsere Kirche: Warum ein Kloster gründen?

Familienkloster! Was hat ein Kloster in einem Buch über die Zukunft der Kirche zu suchen? Eine ernst zu nehmende Frage, die sich nicht in drei Sätzen beantworten lässt. Innerhalb der evangelikalen Gemeindelandschaft sind wir Exoten. An diesen Status haben wir uns gewöhnt. Wir sind evangelisch, die meisten von uns sind verheiratet und haben Kinder, niemand von uns trägt eine braune Kutte und die lichte Gegend auf meinem Kopf ist höhere Gewalt und keine Tonsur. Trotzdem nennen wir uns Kloster Alte Gärtnerei. Wie kommt das? Der bekannte Kirchenforscher und Autor von Gebet für die Welt, Patrick Johnstone, hat einmal vereinfacht von drei Formen gesprochen, wie sich Kirche im Lauf der Geschichte manifestiert hat:

ekklesiastisch (Fokus auf Versammlung/Gottesdienst und Gebäude)

monastisch (Fokus auf Gemeinschaft und Ausbildung)

apostolisch (mobil, unterwegs, pionierhaft)

In der heutigen evangelikalen Bewegung sind wir vor allem mit dem ekklesiastischen und apostolischen Modell vertraut. Die monastische (klösterliche) Ausprägung erscheint als katholisch und Relikt vergangener Zeiten; selten dient sie als Zukunftsmodell für die Kirche des 21. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren gibt es aber nun eine Bewegung, welche die alten Schätze der Klöster mit neuen Impulsen versehen will. Überall auf der Welt, vor allem im englischsprachigen Bereich, gründen junge Evangelikale neue Gemeinschaften und nennen diese bewusst Klöster und nicht Gemeinden. Im Englischen spricht man dabei von New Monasticism, einem neuen Mönchtum. Inspirationsquellen sind zum Beispiel die keltischen Klöster, die Ian Bradley einmal wie folgt definiert hat:

»Die dominierende Institution des keltischen Christentums war weder die Dorfkirche noch die Kathedrale, sondern das Kloster (…), eine Kombination aus Kommunität, Rückzugsort, Missionsstation, Hotel, Krankenhaus, Schule, Universität, Kunstzentrum und das Kraftwerk für die Gemeinschaft vor Ort – eine Quelle nicht nur der spirituellen Energie, sondern auch der Gastfreundschaft, der Gelehrsamkeit und der kulturellen Aufklärung.«1

Daran faszinieren die Ganzheitlichkeit sowie die Verwurzelung des Glaubens im Alltag und in der Breite des gesellschaftlichen Lebens. Ein weiterer prägender Einfluss geht von Dietrich Bonhoeffer aus. Die Bewegung des New Monasticism ist ohne seine Bücher Nachfolge oder Gemeinsames Leben nicht denkbar. Geradezu als Initialzündung gelten die folgende Gedanken Bonhoeffers, die er seinem Bruder gegenüber in einem Brief von 1935 geäußert hat:

»Die Restauration der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit der alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln. Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromisslos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas.«2

Diesem Aufruf sind überall auf dem Erdball Menschen gefolgt. Bekannte Beispiele sind die Moot-Community in London (eine sogenannte Fresh Expression of Church innerhalb der anglikanischen Kirche) oder die Simple-Way-Gemeinschaft in Philadelphia, zu der Shane Claiborne gehört.

Doch nun zurück zu unserer Gemeinschaft. Was hat uns bewegt, selbst ein Kloster zu gründen? Über Jahre haben uns im Vorfeld der Gründung geistliche, aber auch gesellschaftliche Fragestellungen bewegt. Was braucht es beispielsweise, um heute einen anspruchsvollen Job auszuüben und sich gesellschaftlich engagieren zu können, ohne dass die Familie darunter leidet oder gar daran zerbricht? Wo finde ich Unterstützung, wenn beide Eltern berufstätig sind und gerade keine Großeltern in der Nähe sind, wenn meine Kinder krank sind? Wie kann christlicher Glaube heute authentisch und praktisch im Alltag gelebt werden? Welche Formen von christlicher Gemeinschaft gibt es, die über den Besuch von Gottesdienst und wöchentlicher Kleingruppe hinausgehen?

 

Auf der Suche nach Antworten auf diese Lebensfragen sind wir auf die Jahrhunderte alte Tradition der Klöster gestoßen, welche Spiritualität, Arbeit und gemeinschaftliches Leben miteinander verbindet und in einen Rhythmus bringt. Auch auf drängende gesellschaftliche Phänomene schien uns der klösterliche Lebensstil Antworten zu geben.

► Gemeinschaft und gemeinsame verbindliche Nachfolge versus Individualismus

► Leben und Dinge teilen versus Konsum und Materialismus

► gelebte Spiritualität im Alltag versus Säkularisierung

► Entwicklung eines Lebensrhythmus und einer Lebensregel versus Multi-Optionen-Gesellschaft und Ziellosigkeit

Wir, sechs Familien und eine Singlefrau aus Steffisburg, haben uns entschieden, dieses Experiment gemeinsam zu wagen. Wir wollen den Lebensrhythmus der alten monastischen Orden mit den Herausforderungen des Familien- und Berufsalltags des 21. Jahrhunderts in Einklang bringen. In einem weiteren Kreis gehören sogenannte Companions und Friends dazu. Das sind Menschen, welche sich für den Lebensstil der Alten Gärtnerei interessieren und gerne zwischendurch an den Angeboten des Klosters teilnehmen. Seit Frühjahr 2012 leben wir im Dorfkern von Steffisburg (Kanton Bern/Schweiz) in verschiedenen Gebäuden, die in Finkendistanz zueinander stehen. Gemeinschaftliches Leben bedingt geografische Nähe und sogar gemeinsame Räume. Herzstück sind ein großer gemeinsamer Park mit Feuerstelle, Spielplatz und ein Gebetsraum; jede Familie hat aber eine eigene Wohnung als Ort des Familienlebens und des persönlichen Rückzugs. Sichtbar wird unsere Gemeinschaft auch im gemeinsamen Lebensrhythmus und im gemeinsamen Nutzen von Ressourcen. Wir teilen Räume, Grund und Boden, Autos und Ressourcen aller Art und entdecken darin erstaunlich großes Potenzial! Interessanterweise funktioniert dies auch auf der persönlichen Ebene. Frei nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid und geteilte Freude ist doppelte Freude.

Einige von uns haben theologische Ausbildungen im Gepäck. Aber alle arbeiten entweder außer Haus in säkularen Berufen oder in der Familie. Niemand verdient seinen Lebensunterhalt im Kloster. Weiter unterscheidet uns von klassischen Klosterbewegungen, dass wir aus Überzeugung Ehe und Familie mit dieser Lebensform vereinbaren wollen. Inspiriert vom Lebensrhythmus der alten Klöster versuchen auch wir, unseren eigenen Rhythmus zu finden. Regelmäßige Begegnungen und gemeinsame Projekte beleben Beziehungen. Bei einer Gruppe von 13 Erwachsenen mit Kindern geht dies nicht ohne Planung. Deshalb haben Fixpunkte in folgenden Bereichen in unseren Agenden ihren Platz gefunden:

► Zeiten der Freundschaft (z. B. gemeinsames Essen)

► Zeiten des Gebets (z. B. kurzes Abendgebet um 22.00 Uhr und gemeinsamer Wochenstart mit Abendmahl)

► Zeiten des Arbeitens (z. B. im Garten)

► Zeiten des Lernens (z. B. Diskussion von gesellschaftlichen und theologischen Themen, gemeinsames Bibellesen am frühen Morgen)

► Zeiten des Feierns (z. B. den Schweizer Bundes- oder Nationalfeiertag 1. August und Ostern)

Den daraus entstehenden Lebensrhythmus mit seinen wiederkehrenden Elementen erleben wir als langfristig lebbaren und erfrischenden Ausgleich zum oftmals hektischen und zerstückelten Alltag. Schließlich umrahmt und prägt das Kirchenjahr mit seinem eigenen Rhythmus unsere wöchentlich und monatlich wiederkehrenden Aktivitäten. Uns ist bewusst, dass die monastische Tradition viele Jahrhunderte alt ist und wir diese nicht erfunden haben. Wir wollen von diesen reichen Erfahrungen profitieren, sind aber nicht einer bestimmten Richtung verpflichtet. Wir fühlen uns frei, diese Schätze mit neuen Impulsen zu ergänzen, die dem Kontext unserer Zeit entsprechen.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass unser Weg auch nicht die einzige Form ist, wie Christsein und Kirche in unserer Zeit verkörpert werden kann. Vielmehr verstehen wir uns als Ergänzung, Bereicherung und Alternative zu bestehenden Gemeinde-, Kirchen- und Klosterformen. Zudem erleben wir immer wieder, wie Gäste aus verschiedenen Gemeindeformen und Hintergründen während ihrer Zeit bei uns auftanken können. Daran schätzen wir die Gespräche mit ihnen und immer wieder erleben wir eine gegenseitige Befruchtung. Wir sind Teil der internationalen 24-7-Prayer-Bewegung und auch dadurch mit verschiedenen Christen international verbunden.

Unsere Herausforderungen: Selbstzweck, Multiplikation und Kommunikation

Unsere Gemeinschaft ist jung und dynamisch. Die meisten von uns sind Verantwortungsträger in Wirtschaft, Medien und Politik. Die bunte Kinderschar und das große Anwesen sorgen für Betrieb. Über Langeweile im Alltag können wir nicht klagen. Das ist die eine Seite. Gleichzeitig sind die ersten Pionierjahre vorbei, vieles ist geregelt und hat sich eingespielt. Wir kennen uns schon recht gut und der gemeinsame Rhythmus gibt uns Stabilität. Konflikte kommen immer wieder vor, aber insgesamt gesehen haben wir trotz großer Unterschiede in unseren Persönlichkeitsprofilen eine harmonische Gemeinschaft. Das ist schön und dafür sind wir dankbar. Doch darin versteckt sich auch unsere erste Herausforderung. Unsere Gemeinschaft soll nicht Selbstzweck sein. Wir sind gefordert, geistlich wach zu bleiben. Unsere paradiesische Umgebung und die tolle Gemeinschaft dürfen uns nicht daran hindern, immer wieder bereit zu sein für nächste Schritte, für Projekte, die der Gesellschaft und unseren Nachbarn zugutekommen.

Dazu sehen wir in den Geschichten der alten iroschottischen Christen ein Vorbild: Sie haben ihr Leben als Peregrinatio, als Leben in der Fremde, verstanden. Sie sind darum immer wieder aufgebrochen, haben neue Klöster gegründet. Leute wie Columban verzichteten mit ihrem »In-die-Fremde-Gehen« auf die gewohnte Geborgenheit. Die Missionare aus Irland verließen mit der Peregrinatio den Schutz ihrer vertrauten Gemeinschaft. Diese Bereitschaft wollen wir uns zum Vorbild nehmen. Dies führt zur zweiten Herausforderung. Strukturell gesehen ist unser Kloster nicht beliebig erweiterbar, auch weil der verfügbare Wohnraum in unmittelbarer Nähe beschränkt ist. So gesehen sind numerische Wachstumsmöglichkeiten nur bedingt vorhanden. Von Anfang an war uns darum klar, dass Wachstum bei uns fast ausschließlich durch Multiplikation möglich ist.

Im Herbst 2015 haben wir darum entschieden, im benachbarten Thun ein zweites Kloster zu gründen. Eine Kernfamilie zieht zusammen mit einer Familie aus dem Kreis der Companions vom beschaulichen Steffisburg direkt neben ein stadtbekanntes Ausgangslokal. Auf der anderen Seite der Liegenschaft befindet sich die städtische Heroinabgabestelle. In die dritte verfügbare Wohnung im Haus wollen sie eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen und ihr bei der Integration in unsere Gesellschaft zur Seite stehen. Der Kontext und damit verbunden auch das Profil dieser neuen Gemeinschaft sind also ganz anders. Parallel dazu begleiten wir eine Familie in Schweden, die ebenfalls in den Startlöchern für ein eigenes Projekt steht. Die Familie hat uns letztes Jahr hier in der Schweiz besucht und möchte nun mit Freunden etwas Ähnliches bei ihnen zu Hause umsetzen. In den nächsten Monaten muss sich zeigen, ob die Multiplizierbarkeit des Konzepts bei unseren beiden Neugründungen funktioniert.

In den ersten Jahren sind wir mehr oder weniger außerhalb des Radars der christlichen und säkularen Öffentlichkeit gesurft. In aller Ruhe konnten wir experimentieren, unseren Lebensrhythmus austesten, Details verfeinern und unsere Vision schärfen. Manchmal sind wohl auch die Nachbarn nicht recht schlau geworden, was diese Familien da bezwecken. Eine Online-Präsenz gab es nicht und wer uns nicht persönlich gekannt hat, hat wahrscheinlich nichts vom Klostergedanken mitbekommen. Wir glauben, dass nun eine neue Phase angebrochen ist. Eine Phase, in der wir bewusst mehr und aktiver kommunizieren. Eine Website ist in der Folge entstanden, für ein Sommerfest wurde die ganze Nachbarschaft eingeladen. Zwei IGW-Kurse über gemeinschaftliches Leben haben auf unserem Gelände stattgefunden. Doch die genaue Kommunikationsstrategie gegenüber anderen Kirchen, Medien und der lokalen Bevölkerung ist noch im Werden. Das ist unsere dritte Herausforderung.

Unsere Vision: Leuchtturmprojekt

In zehn Jahren wird das Kloster Alte Gärtnerei im Teenager-Alter sein, es wird dann jugendliche 15 Jahre auf dem Buckel haben. Entgegen den Hoffnungen für unsere eigenen Kinder sehnen wir uns danach, dass unser Kloster-Teenager dann bereits eine ganze Reihe Schwangerschaften hinter sich hat oder zumindest Geburtshelfer sein durfte. Wie erwähnt, träumen wir weniger von einem gigantischen Kloster in Steffisburg, zu dem künftig die halbe Dorffläche gehört, sondern von ganz vielen ähnlichen Projekten, die in Städten und Dörfern Europas Licht und Hoffnung verbreiten. Gemeinschaften, die einen gesunden und nachhaltigen Lebensstil vorleben, tief in Christus verwurzelt sind und mit innovativen Projekten der Gesellschaft dienen. Städtische Oasen für die getriebenen und orientierungslosen Zeitgenossen. Orte, wo sie dem Sinn des Lebens auf die Spur kommen. Klöster, wo Kunst genauso dazu gehört wie das regelmäßige Gebet und die körperliche Arbeit im Hinterhof der Millionenstadt. Aus eigener Kraft ist das nicht machbar. Wenn es aber eine Idee Gottes ist, wird er zur richtigen Zeit die richtigen Menschen berufen. Was wir von unserer Seite dazu beitragen können, wollen wir mutig anpacken. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, sind wir mitten in den ersten Phasen unseres Schulungsprogramms Adventure300. Inspiriert von Gideon und seinen 300 verwegenen Kämpfern, suchen wir mutige Männer und Frauen, die sich zu Urban Monks ausbilden lassen und selbst Klöster aufbauen wollen. Geplant ist ein mehrjähriger Ausbildungs-Track, der Selbststudium zu Hause mit Präsenzmodulen in Steffisburg verbindet. Das Programm ist Teil der weltweiten 24-7-Prayer-Leiterschaftsausbildung.

Apropos Teenager. Die meisten unserer eigenen Kinder werden dann selbst Teenager und junge Erwachsene sein. Die erste Generation, die in unserem neuzeitlichen Kloster aufgewachsen ist. Deren geistliche und persönliche Reife wird dann ein zusätzlicher Gradmesser sein, ob unsere Vision Hand und Fuß hatte oder nur ein kurzlebiger Trend von ein paar Verrückten war.

GEMEINDEPORTRÄT

Kloster Alte Gärtnerei Steffisburg, Kernteam: sechs Familien mit 19 Kindern und eine Singleperson, Boiler Room der 24-7-Prayer-Bewegung.

Kontakt: info@newmonasticism.ch, www.altegärtnerei.ch.

Stadtkloster Thun, Kernteam: zwei Familien mit sechs Kindern und eine Singleperson, Boiler Room der 24-7-Prayer-Bewegung.

Kontakt: info@stadtkloster-thun.ch, www.stadtkloster-thun.ch.


BIOGRAFISCHES

Michael Bischoff, Jahrgang 1974, ist verheiratet mit Marisa. Sie haben drei Töchter. Michael Bischoff ist Theologe (lic. theol.) und ehemaliger Studienleiter von IGW und arbeitet heute als Fernseh-Journalist bei Fenster zum Sonntag. Er gehört zum Kernteam des Klosters Alte Gärtnerei.

Kontakt: bischoff74@gmail.com.

1 Pete Greig/Dave Roberts, Red Moon Rising. Witten: SCM R. Brockhaus Verlag 2005, S. 244.

2 Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung Finkenwalde 1935–1937, Werkausgabe, Band 14. München: Chr. Kaiser Verlag 1996, Brief vom 14.1.1935 an seinen Bruder Karl-Friedrich, S. 78.