Zeitstrukturen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2 Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Zeit

Wenn das Sprichwort Recht behält, wonach Zeit Geld ist, wird Geschwindigkeit zu einem wichtigen ökonomischen Faktor. Mit dem Anstieg der Übertragungsgeschwindigkeit von Information oder des Tempos für die Herstellung eines Produktes kann die Zeit, die man für solche Vorgänge braucht, verkürzt werden. Soll die gleiche Menge eines Gutes hergestellt werden und wird die Geschwindigkeit dabei beispielsweise verdoppelt, so könnte die Hälfte der Zeit, die früher dafür notwendig war, freigespielt werden und stünde für andere Tätigkeiten oder für Erholung zur Verfügung. Wird die Geschwindigkeit der Datenübertragung gesteigert und werden Produktionswege verkürzt, wie Jean Baudrillard gezeigt hat, wird Zeit nach der Logik der Gewinnmaximierung genutzt, die einen die frei gewordene Zeit dafür zu verwenden zwingt, noch mehr Information zu verarbeiten bzw. noch mehr Produkte herzustellen. Beschleunigung trägt nicht dazu bei, Zeit für sich zu gewinnen, sondern „frisst“ Zeit, ist also „chronophag“10, und zwingt einen, in der ursprünglich zur Verfügung stehenden Spanne nun das Doppelte zu leisten. Die Dimensionen werden immer mehr verkürzt und drohen, in der Gegenwart aufzugehen.11 In jedem Fall wird Zeit gleichsam immer „weniger“, und der eigene noch freie Zeithorizont läuft Gefahr, sich zu erschöpfen.

Das Phänomen, dass unter den Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums Zeit immer knapper wird, führt unweigerlich zur „Erfahrung von Zeitnot und Stress und dem Gefühl, keine Zeit zu ,haben‘ “ sowie zu dem Eindruck, dass „[f]ür die eigentlich wertvollen Tätigkeiten […] keine Zeit“12 bleibe. So führt berufliche Mehrbelastung unweigerlich zu Freizeitstress, weil man versucht, in der arbeitsfreien Zeit immer mehr von dem unterzubringen, was man für wertvoll hält. Da die Ansprüche, die an den Menschen herangetragen werden, ständig steigen, um Fortschritt zu garantieren, fordert Beschleunigung der äußeren Zeitabläufe viele immer mehr heraus und lässt Fragen nach ihren Grenzen laut werden.

Dieser soziologische Befund macht auf eine auch anthropologisch bedeutsame Diskrepanz zwischen zwei den Menschen bestimmenden Zeiten aufmerksam. Während die Rhythmen und Abläufe, die der inneren Zeit folgen, in ihrem Tempo kaum gesteigert werden können, erhöhen sich die zeitlichen Anforderungen von außen. So treten die innere und die äußere Zeit immer weiter auseinander. Nicht mehr die jeweilige Eigenzeit gibt das Maß für Produktionszeit, Freizeit oder andere soziale Abläufe vor. Vielmehr dreht sich das Bestimmungsverhältnis um. Äußere Zeit wird zum Maß für die innere, ohne dass diese aus Gründen leiblicher Verfasstheit mit den äußeren Vorgaben mithalten könnte.

Ein solches Missverhältnis unterliegt psychischen und physischen Grenzen und kann, wenn die Spannung zu groß wird, zu Pathologien führen. So fußt etwa das Burnout-Syndrom13 auf Störungen, die darin gründen, dass die Differenz zwischen innerer und äußerer Zeit zu groß geworden ist.14 Wenn soziale und leibliche Zeit zu weit auseinandertreten, kann es schließlich nicht nur zu psychischen Problemen kommen, sondern auch zu leiblichen, die sich etwa in gehemmten Bewegungsabläufen äußern.

3 Strukturen innerer und äußerer Zeit

Verdeutlicht man sich, dass Eigenzeit bzw. innere und soziale bzw. äußere Zeit meist nicht oder nur in seltenen Fällen völlig miteinander identisch sind, sondern mehr oder weniger auseinanderdriften, was bis zu pathologischen Konsequenzen führen kann, erscheint die Frage, die der Titel dieses Beitrags stellt, in einem anderen Licht. Denn es wird sichtbar, dass Zeit nicht nur eine objektive Seite, sondern auch eine subjektive aufweist. Um letzterer ansichtig zu werden, bedarf es allerdings einer methodischen Umkehrung: weg von der Vorstellung von Zeit als einem objektiven Gegenüber und hin zur personalen Einstellung, die einen Zugang zu Zeit als der eigenen Zeit eröffnet.15 Denn der allgemeine Blick auf Zeit, in dem diese qualitätslos zu sein scheint, aber gemessen werden kann, fördert deren Implikationen, die sie für eine bestimmte Person aufweist, nicht zutage. Es besteht beispielsweise ein wesentlicher Unterschied zwischen der Errechnung durchschnittlicher Lebenserwartung einer Generation und der Betroffenheit durch den eigenen Tod nach einer bestimmten Anzahl individueller Lebensjahre. Das Ende der eigenen Existenz hat eine andere Valenz für einen selbst als die abstrakte Wahrscheinlichkeit für das Lebensende im allgemeinen Durchschnitt.

Folgt man der Perspektive, die einen selbst involviert sein lässt, erkennt man, dass sowohl das eigene Bewusstsein als auch der eigene Leib ihre persönliche Zeitstruktur aufweisen. Mein Leibgedächtnis und meine subjektiven Rhythmen zeigen bestimmte und unverwechselbare Qualitäten auf, die anderen Menschen nicht eignen. Die eigene Vergangenheit und die eigene Zukunft sind also nicht allgemeiner, sondern individueller Natur, mehr noch: Sie machen mit aus, wer ich selbst bin. Im Laufe meines Lebens entfalte ich mich, indem ich mich leiblich zeitige, älter werde und in meiner Biografie allmählich zu mir selbst komme, also mich zu dem oder der entwickle, der oder die zu werden mir offensteht. Personale Zeit gibt es zunächst nur im Plural, sie ist individuell differenziert und strukturiert.

Fragt man also, warum Menschen eine strukturierte Zeit brauchen, so ist zu antworten: weil sie selbst zeitlich strukturiert sind. Menschen können gar nicht anders, als sich zu zeitigen und zeitlich zu leben. Das gilt einerseits in einem generellen Sinn, selbst dann, wenn man Zeit nicht schon als messbare vor Augen hat. Denn menschliches Dasein kann sich nur zeitlich vollziehen, erstreckt sich also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sodass Menschen auf die drei Zeitdimensionen ausgelegt sind und den Horizont ihrer Existenz in der Zeit finden.16 In diesem Sinn charakterisiert Zeit das menschliche Dasein im Allgemeinen und von vornherein. Andererseits ist in personaler Sicht aber auch erkennbar, dass neben dieser allgemeinen temporalen Bestimmung auch daran festzuhalten ist, dass Zeit eine individuelle Dimension aufweist. Diese schlägt sich darin nieder, dass Menschen unterschiedliche Lebensgeschwindigkeiten haben – nicht nur nach dem jeweiligen Lebensalter abgestuft –, ihre Leibesrhythmen differieren, das jeweilige Leibgedächtnis unterschiedlich ausgeprägt ist und sie unterschiedlich altern. Daraus folgt, dass die angesprochene Notwendigkeit, Zeit zu strukturieren, für die einzelne Person und deren Zeitstruktur unumgänglich ist bzw. dass äußere Zeit von jedem und jeder anders strukturiert werden muss, will man sich nicht die eigenen Lebensmöglichkeiten verbauen. Soll es nicht zu Verwerfungen oder gar zeitlichen Pathologien kommen, kann man nicht umhin, darauf zu achten, dass wichtige Zeitstrukturen für einen selbst adäquat sind.

4 Strukturen interpersonaler Zeit

Leibzeit gibt Strukturen vor, die man nicht ungestraft zu stark verändert, indem man sich z. B. über längere Perioden Schlaf entzieht und dadurch den eigenen zirkadianen Rhythmus stört oder indem man seine eigenen zeitlichen Grenzen durch fortwährende Beschleunigung der Arbeitsabläufe oder durch zu hohe Lebensgeschwindigkeit missachtet. Über seine innere leiblich festgelegte Zeit kann man nicht grenzenlos verfügen, denn niemand hat sie sich selbst gegeben, vielmehr wird sie einem gewährt. Selbst wenn jemand Suizid verübt, tut er dies in der Zeit, die er sich, wenn er seinem Leben ein Ende gesetzt hat, nicht wieder zurückgeben kann. Die Eigenzeit, die jemandem gegeben ist, ist zugleich jene Zeit, die ihn er selbst sein lässt. Denn ohne sie könnte niemand weder sich noch sein Leben vollziehen, weil dieses keinen Entfaltungshorizont vorfände. Das bedeutet, dass individuelle Zeit je eigenes und unverwechselbares Dasein erst ermöglicht.17 Die eigene Zeit bleibt also nicht bloß in ihrer leiblichen Struktur unverfügbar, sondern auch in dem Sinn, dass sie sich als jene Zeit, die einem zu leben erlaubt, dem Zugriff auf sie und der Verfügungsmacht über sie entzieht. Zugleich und nicht in Widerspruch dazu ist sie einem aber auch aufgegeben, was bedeutet, dass jeder Mensch sein Leben und seine Zeit zu gestalten hat, die ihm für dieses sein Leben zur Verfügung steht. Wenn zu leben heißt, sich zu zeitigen – sowohl im passiven Sinn des Älterwerdens als auch im aktiven Sinn der Lebensführung –, dann ist nicht nur das eigene Leben zu gestalten, sondern auch die eigene Zeit zu strukturieren.

Bei den Entscheidungen darüber, wie man die eigene Biografie formen möchte, ist man zwar selbst in gewissem Sinn sein eigenes Gegenüber, weil man über sich und das Kommende reflektiert und urteilt. Aber es ist nicht zu übersehen, dass man dabei nicht so zu sich in Distanz steht, wie wenn man die Zeit eines oder einer anderen gestaltete. Vielmehr ist jede Person so sehr an den eigenen Leib als das Ausdrucksmedium ihrer selbst gebunden, dass sie dann, wenn sie ihre Lebenszeit gestaltet, auch sich selbst formt. Die Zeit, die einem zu strukturieren vorgegeben ist, ist also jene Zeit, in der man sein Leben und in der Folge sich selbst gestaltet. In der Strukturierung von Zeit geht es offenkundig nicht bloß um die Ordnung externer Lebensbereiche, sondern auch um die Formung von einem selbst. Mir ist gegeben, daran mitzubestimmen, wer ich einmal sein werde und zugleich gewesen sein werde. Meiner Zeit Struktur zu geben bedeutet also, mir selbst Struktur zu geben.

In der Zeit zu leben meint in zwischenmenschlichen Belangen nicht nur – wie anfangs beschrieben –, quantifizierbare Zeit so in Dienst zu nehmen, dass man mit der Hilfe von Uhren das Zusammenleben funktional gestalten kann. Zusammenleben heißt dann, wenn man die jeweilige Eigenzeit ernst nimmt, auch, diese zu teilen. Hat jemand für einen anderen Menschen Zeit, ist er für diesen da und stellt sich ihm zur Verfügung. Jemandem Zeit zu schenken bedeutet also, sich selbst zu schenken. Sofern diese Zeit zwar meine ist, ich sie aber teile, gebe ich anderen an meinem Leben Anteil und lasse sie über mich selbst verfügen. Insofern ich mich in der Zeit, die ich zur Verfügung stelle, selbst zeitige bzw. zugleich von anderen gezeitigt werde, verschränken sich personale Zeiten. Ich nehme auch an der Zeit des oder der anderen Anteil. Umgekehrt gewährt er oder sie mir nicht nur gemeinsame Zeit, sondern lässt mich auch an seinem oder ihrem Leben teilnehmen. Im Unterschied zur Verallgemeinerung von Zeit durch Metrisierung und Normierung steht in der Begegnung folglich personale Zeit im Mittelpunkt. Es sind Menschen namentlich involviert, die dadurch, dass sie Zeit gemeinsam verbringen, diese in ihrer personalen, individuellen und Qualitäten einschließenden Form in Anspruch nehmen und dadurch ihrer Lebenszeit sowie ihren Biografien Gestalt und Struktur geben.

 

Alister Cox sieht sich am Ende von Ransmayrs Roman durch den chinesischen Kaiser gezwungen, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen. Er gerät mit diesem Auftrag aber in eine Aporie: Der Kaiser hat ihm zwar diesen Auftrag erteilt, würde es aber nicht tolerieren können, wenn das geforderte perpetuum mobile die Zeit über seinen eigenen Tod hinaus messen könnte, weil er sich selbst nicht nur als Herrscher über Himmel und Erde versteht, sondern auch über die Zeit regieren möchte. Es treffen chronometrische und personale Zeit aufeinander. Uhrzeit erweist sich zwar als scheinbar grenzenlos, des Menschen Zeit erschöpft sich aber nicht in der bloßen Dauer. Es scheint so, als sei Cox genötigt, Ewigkeit zu strukturieren. Doch wie soll dieses Unterfangen gelingen?

Der Autor: Reinhold Esterbauer, geb. 1963, Dr. phil., Dr. theol., Prof. für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Publikationen zum Thema: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Philipp Schmidt / David Duncan (Hg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg i. Br. 2016; Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Julia Meer (Hg.), Der Leib und seine Zeit. Temporale Prozesse des Körpers und deren Dysregulationen im Burnout und bei anderen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br. 2019. GDN: 1065525885; ORCID: https://orcid.org/0000-0003-2743-3626.

Weiterführende Literatur:

– Walther Ch. Zimmerli / Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie (WBG-Bibliothek), Darmstadt 2016. Der Band enthält philosophische Beiträge zur Philosophie der Zeit, vornehmlich aus dem 20. Jahrhundert. Er gewährt einen guten ersten Überblick über unterschiedliche, zum Teil kontroversielle Ansätze.

– Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Mit den Texten aus der Erstausgabe und dem Nachlaß. Mit einer Einleitung hg. von Rudolf Bernet (Philosophische Bibliothek 649), Hamburg 2013. Der Basistext aus dem Jahr 1928 ist ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Zeit. In dieser Ausgabe findet man darüber hinaus Ergänzungen, Beilagen und weitere Überlegungen von Husserl über die Zeit.

– Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014. Schmitz, der als Begründer der „Neuen Phänomenologie“ gilt, stellt in diesem Buch seinen eigenen Ansatz vor, kommt aber auch auf Aporien der Zeitphilosophie zu sprechen und interpretiert einige klassische Ansätze.

1 Vgl. Christoph Ransmayr, Cox oder Der Lauf der Zeit. Roman (Fischer TB 19663), Frankfurt a. M. 2016, 83 f.

2 Europäische Kommission, Lage der Union 2018: Fragen und Antworten zum Vorschlag der Kommission, die jahreszeitlich bedingten Zeitumstellungen abzuschaffen (12.09.2018), online: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_18_5641 [Abruf: 01.09.2020].

3 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917) (Husserliana X), Den Haag 1966, 29–31.

4 Vgl. ebd., 29: „Der Ton setzt ein, und stetig setzt ,er‘ sich fort. Das Ton-Jetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein. Dem Fluß entlang oder mit ihm gehend, haben wir eine stetige zum Einsatzpunkt gehörige Reihe von Retentionen. Überdies jedoch schattet sich jeder frühere Punkt dieser Reihe als ein Jetzt wiederum ab im Sinne der Retention.“ (Hervorh. im Orig.)

5 Vgl. ebd., 35: „Jeweils ist immer ein Ton (bzw. eine Tonphase) im Jetztpunkt. Die vorangegangenen sind aber nicht aus dem Bewußtsein ausgelöscht. Mit der Auffassung des jetzt erscheinenden, gleichsam jetzt gehörten Tones verschmilzt die primäre Erinnerung an die soeben gleichsam gehörten Töne und die Erwartung (Protention) der ausstehenden.“

6 Z. B. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. u. eingel. v. Stephan Strasser (Husserliana I), Den Haag 21963, 112. Der Leib ist deshalb nach Husserl „in grundwesentlich anderer Weise nach gegenständlichem Sinn charakterisiert und phänomenologisch konstituiert, [sic] wie andere Dinge“. (Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. Hg. v. Margot Fleischer [Husserliana XI], Den Haag 1966, 299).

7 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus d. Franz. übers. u. eingeführt durch eine Vorrede v. Rudolf Boehm (Phänomenologisch-psychologische Forschungen 7), Berlin 1966, 172–177.

8 Vgl. Bernhard Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin 2019, 307: „[Es] sind schon Freudsche Fehlleistungen wie Stolpern, Stottern und Sichversprechen leibkörperliche Prozesse, in denen Rede und Bewegung der eigenen Verfügung entgleiten.“

9 Über das „explizite“ Gedächtnis des Bewusstseins hinaus weist das „implizite“ Gedächtnis des Leibes vielfältige Formen auf. Vgl. Julia Meer, Die Erinnerung des Leibes. Zur Relevanz und Funktion von Leibzeit bei Alzheimer-Demenz, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 5 (2018), 207–230. Siehe auch: Thomas Fuchs, Verkörpertes Wissen – verkörpertes Gedächtnis, in: Gregor Etzelmüller / Thomas Fuchs / Christian Tewes (Hg.), Verkörperung – Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin 2017, 57–78, bes. 66 f.

10 Jean Baudrillard, Die Abschreckung der Zeit, in: Tumult 9 (1987), 109–118, 112.

11 Vgl. den provokativen Buchtitel von Baudrillard: „Das Jahr 2000 findet nicht statt“ (Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt [Merve 156], Berlin 1990). Damit wollte er schon 1990 darauf aufmerksam machen, dass bei übersteigerter Beschleunigung, durch die gleichsam alle Information in der Gegenwart kulminiere, Zukunft in der Gegenwart bereits großteils vorweggenommen und deshalb nicht mehr ausständig sei.

12 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1760), Frankfurt a. M. 2005, 214 und 221. (Hervorh. im Orig.)

13 Laut ICD-10-GM in der Version von 2021 (Vorabfassung) ist Burnout – wie schon in der Version von 2017 – nicht als Krankheit zu führen. Daher ist es in Kapitel XXI, also bei den „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“, gelistet, nämlich unter Z 73. (Deutsches Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-10-GM Vorabfassung 2021, online: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2021/block-z70-z76.htm [Abruf: 26.08.2020])

14 Manuela Pfeffer / Andrea Paletta / Gerald Suchar, Die Zeitdynamik bei Burnout-Patientinnen und -Patienten. Ergebnisse einer Bewegungsanalyse nach Laban, in: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Julia Meer (Hg.), Der Leib und seine Zeit. Temporale Prozesse des Körpers und deren Dysregulationen im Burnout und bei anderen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br. 2019, 337–360, bes. 338 und 353–355.

15 Günther Pöltner, Die zeitliche Struktur der Leiblichkeit, in: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Philipp Schmidt / David Duncan (Hg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Zeiterkrankungen, Freiburg i. Br. 2016, 17–33, hier: 18–23.

16 Martin Heidegger möchte beispielsweise zeigen, dass „das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist“. Zeit müsse „als der Horizont alles Seins Verständnisses [sic] und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht und genuin begriffen werden“. Anders gesagt: „Der Entwurf eines Sinnes von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit vollziehen.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit [Gesamtausgabe 2], Frankfurt a. M. 1977, 24 und 312).

17 Vgl. Günther Pöltner, Die zeitliche Struktur der Leiblichkeit (s. Anm. 15), 25.

Jürgen P. Rinderspacher

Zeiten fallen nicht vom Himmel

Akteure und Modalitäten moderner Zeitstrukturierung im epochalen Wandel

♦ Zeitordnungen sind – in traditionalen wie modernen Gesellschaften – normative Ordnungen, die der Rechtfertigung bedürfen. Der Beitrag unterscheidet drei Epochen mit je unterschiedlichen Modi der Rechtfertigung der Zeitordnung: einen (ursprünglich vormodernen, jedoch teilweise bis in unsere Zeit hineinreichenden) autoritären Modus, einen (im weitesten Sinne „modernen“) marktlich-technologisch-administrativen Modus und einen („nachmodernen“) subjektbezogenen Modus der Zeitstrukturierung. Zwar verspricht eine subjektbezogene Zeitordnung eine Zunahme individueller Freiheitsspielräume, jedoch stellen sich auch neue, weithin unbeantwortete Fragen nach der Konkurrenz nun individueller Zeitansprüche sowie nach Kriterien und Bedingungen zeitlicher Gerechtigkeit. (Redaktion)

„Man könnte sagen, dass die Neuordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei. Eine neu entstandene Macht, die sich behaupten will, muß an eine Neuordnung der Zeit gehen. Es ist, als beginne mit ihr die Zeit.“ (Elias Canetti)