Zeitstrukturen

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1 Die Macher und die Macht der Zeit

Darüber, ob Gott die Zeit geschaffen hat oder nicht, mag man streiten: Immerhin hat Kirchenvater Augustinus im 4. Jahrhundert n. Chr. davon gesprochen, dass die Zeit mit der Sünde in die Welt gekommen sei und dass der Mensch erst im Reich Gottes darauf hoffen dürfe, von dieser Geisel befreit zu sein.1 Nicht zu leugnen ist hingegen die Tatsache, dass Zeitstrukturen und Zeitordnungen, wie sie uns im Alltag begegnen, seit jeher das Werk menschlichen Handelns sind – geschaffen durch große religiöse, politische oder wirtschaftliche Institutionen bzw. ihre Repräsentanten –, auch wenn diese sich etwa bei der Kreation von Kalendern oder Ritualen nicht selten auf ein höheres Wesen berufen haben.2

Zeitstrukturen sind die gestalthaften Erscheinungsformen von Zeit im konkreten Lebenszusammenhang der Menschen: Da die Zeit ihnen ansonsten als solche, gewissermaßen in ihrer reinen Form kaum begegnet, erfahren sie diese normalerweise als eine vielgestaltige Ansammlung sozialer Ordnungs- und Orientierungssysteme, an denen sie ihr Handeln ausrichten müssen, wollen sie nicht aus der Gesellschaft herausfallen. Bereits dies legt die Vermutung nahe, dass die Fähigkeit zur allgemeingültigen Strukturierung von Zeit in einer Gesellschaft mit Macht und Herrschaft einhergeht, religiöser ebenso wie politischer und wirtschaftlicher. Tatsächlich wird man bei der Suche nach den Kreateur/inn/en und Protagonist/inn/en gesellschaftlicher Zeitstrukturen rasch fündig, wenn man die religiösen Verhältnisse und weltlichen Herrschaftsstrukturen unterschiedlicher Epochen in unterschiedlichen Kulturen bis in unsere Gegenwart hinein betrachtet. Dabei stellt man unter anderem einen historischen Wandel der Art und Weise fest, wie und von wem Zeitstrukturen generiert werden. Wie stellt sich dieser Wandel der Strukturierungsmodi für uns auf der Erscheinungsebene sozialer Tatsachen3 dar und welche Auswirkungen hat er für Individuum und Gesellschaft? Im Folgenden sollen diese Zusammenhänge in der gebotenen Kürze dargestellt werden.

2 Zeitordnungen und Rechtfertigungsordnungen

Die Zeitordnung, die in einer Gesellschaft jeweils vorherrscht, beruht auf einer je unterschiedlichen Rechtfertigungsordnung. Rainer Forst erklärt deren Bedeutung so: Alle „normativen Ordnungen“ einer Gesellschaft beruhen auf basalen Rechtfertigungen und dienen dementsprechend der Untermauerung von sozialen Regeln, Normen und Institutionen; sie begründen Ansprüche auf Herrschaft und eine bestimmte Verteilung von Gütern und Lebenschancen. „Normative Ordnungen setzen Rechtfertigungen voraus und generieren sie zugleich.“4 Als wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaftsordnung benötigen auch Zeitordnungen einen Begründungszusammenhang auf einer höheren Ebene. Derzeit erleben wir in den vielgestaltigen Kritiken an der herrschenden Zeitordnung eben genau jene Infragestellung ihrer Rechtfertigungsgründe, etwa indem sie als grundsätzlich entfremdend und gegen die menschliche Natur gerichtet angeprangert wird.5 In unterschiedlichen Epochen und Gesellschaftsformationen werden für die Rechtfertigung von Zeitordnungen somit epochentypische Rechtfertigungsgründe herangezogen. Konstitutiv für Rechtfertigungsordnungen sind nach Forst „Rechtfertigungsnarrative, die in historischen Situationen entstehen und über längere Zeiträume tradiert und modifiziert werden.“6 Sie seien eine Form verkörperter Rationalität, in der sich Bilder, Rituale, Fakten sowie Mythen zu wirkmächtigen Gesamterzählungen verdichten würden, die dann als „Ressource der Ordnungssinngebung“ fungieren würden. Solche Narrative könnten religiöser Natur sein, aber auch auf politische Errungenschaften, Revolutionen oder Siege, aber auch Erzählungen über epochale Niederlagen eines Volkes oder einer sozialen Gruppierung beruhen.

3 Wer macht die Zeit? Strukturwandel der Zeitstrukturierung

Zeitordnungen umfassen nicht nur Kalender als Instrumente der Strukturierung der Rahmen-Zeiten der jeweiligen Gesellschaften, sondern – je nachdem, in welchem Umfang die Durchdringung einer Gesellschaft mit zeitlichen Regeln in immer mehr Teilsystemen voranschreitet –, darüber hinaus bedeuten sie einen Gesamt-Prozess der „Verzeitlichung der Gesellschaft“7: In der modernen Gesellschaft finden sich dann fast alle Dinge, die existieren – jedes menschliche Verhältnis, jeder wirtschaftliche Vorgang, jede technische Entwicklung, Kunst, Kultur und Religion –, direkt oder indirekt in einer Relation zum Faktor Zeit wieder. Nicht zuletzt betrifft das auch die Entdeckung eines bis zur Aufklärung weithin unbekannten sozialen Konstrukts von „geschichtlicher Zeit“8. So lassen sich auch die uns auf den ersten Blick als Naturkonstante erscheinenden Fernorientierungsmuster „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ als an Epochen gebundene Kreationen des menschlichen Geistes beschreiben.9

Soweit man sehen kann, lassen sich drei, in historischer Abfolge auftretende, Strukturierungsmodi gesellschaftlicher Zeitordnungen unterscheiden. Deren gemeinsames Merkmal besteht darin, dass sie bezeichnen, in welcher Art und Weise und auf Basis welcher gesellschaftlichen Umstände bzw. Rechtfertigungsordnungen Zeitstrukturierung in einer jeweiligen historischen Epoche erfolgt und wer oder was – epochenspezifisch – das Subjekt, der entscheidende Akteur dieses Vorganges ist.

3.1 Drei Strukturierungsmodi

Es lassen sich unterscheiden:

– der autoritäre Strukturierungsmodus

– der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus

– der nachmodern-subjektbezogene Strukturierungsmodus

Beim Auftreten eines historisch neuen Zeitstrukturierungsmodus verschwindet der zuvor dominante Zeitmodus nicht; vielmehr bleiben die frühen Modi in mehr oder weniger ausgeprägter Form in den späteren weiter bestehen. Jedoch nimmt ihre Bedeutung gegenüber dem/den jeweils jüngeren Strukturierungsmodus/i ab und bleibt als historisches Relikt auf eher marginale gesellschaftliche Teilsysteme beschränkt.

3.1.1 Der autoritäre Strukturierungsmodus

Mit diesem ist die Entstehung einer Zeitordnung durch Erlass eines dazu autorisierten politischen oder/und religiösen, mehr oder weniger totalen Herrschers gemeint, aber auch durch das gegebenenfalls personenunabhängige Wirken autoritär-hierarchisch verfasster religiöser Institutionen. Der autoritäre Strukturierungsmodus umfasst die weitaus längste Phase in der Geschichte der Menschheit bzw. ihrer sozial-kulturellen Entwicklung. Sie reicht von den chinesischen Dynastien über die ägyptischen Herrscher bis in die griechische und römische Antike,10 sie umfasst europäische Kaiser und die Hochzeit der katholischen Kirche im mittelalterlichen Europa, ebenso etwa die Mayakultur11 auf dem amerikanischen Kontinent. Immerhin ist auch der noch heute gültige Gregorianische Kalender (nach ISO 8601) in seinem Ursprung das Resultat herrschaftlicher Verfügung, nämlich einer Bulle Papst Gregors des XIII. aus dem Jahr 1582. Wobei allerdings erst im Jahr 1700 die protestantischen Staaten Deutschlands diesen übernahmen, um sich dem päpstlichen Machtanspruch eines „Universalkalenders“ nicht unterordnen zu müssen.12 Ebenso lässt sich die im deutschen Verfassungsrecht festgeschriebene Sonntagsruhe bis auf einen Erlass des römischen Kaisers Konstantin zurückverfolgen.13 Inwiefern jedoch die beiden neuzeitlichen Versuche, in Abgrenzung zum alten Regime neue Kalender zu etablieren, wie der auf einem Zehnersystem beruhende französische Revolutionskalender oder jener der Oktoberrevolution in Russland14 als entweder autoritär verfügt oder im Gegenteil als besonders dem Volkswillen entsprechend gewertet werden können, kann hier nicht geklärt werden.

Obwohl es bei Kalendern stets um Machtdemonstrationen geht, indem darin das Alte als überwunden dargestellt wird, etwa gegenüber der verhassten Siebener-Symbolik der christlichen Tradition,15 darf man sich die Entstehung von Kalendern bzw. neuen Zeitordnungen nicht als aus dem Nichts geschöpfte Kreationen vorstellen.16 Zumeist setzen sie auf bereits Vorhandenem auf und modifizieren dies. Das gilt gleichermaßen für religiös begründete Zeitordnungen: So entstand der christliche Sonntag in Abgrenzung zum jüdischen Sabbat,17 übernahm jedoch mehr oder weniger explizit das Ruhegebot aus dem Alten Testament,18 während der islamische Freitag, der wiederum in Abgrenzung zu beiden entstand, zwar dem Sieben-Tage-Rhythmus folgt, jedoch kein Arbeitsverbot beinhaltet.

3.1.2 Der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus

Dieser Modus tritt, wie die Bezeichnung nahelegt, mit der Moderne auf, die hier sehr weit und mit großen Übergangsphasen gefasst wird. Hans-Willy Hohn charakterisiert sie zeittheoretisch sehr schön bildhaft als die Epoche, in der „aus einem göttlichen Gut eine Handelsware wurde“19. Was die Strukturierung von Zeit betrifft, unterscheidet sich dieser Modus vom autoritären dadurch, dass erstens die allgemeine Verzeitlichung der Gesellschaft, das heißt die Durchdringung aller Teilsysteme mit zeitlichen Referenzen bzw. Vorgaben stark vorangeschritten ist, dass sich die Bedeutung von Zeit im Alltag der Menschen also bei weitem nicht mehr nur auf die zeitlichen Vorgaben des geltenden Kalenders beschränkt. Fast alle Lebensbereiche werden nun mehr oder weniger in Abhängigkeit eines heterogenen Bündels zeitlicher Normierungen bewertet, in die sich die Menschen, ohne gefragt zu sein, einzufügen haben. Dadurch entstehen u. a. so genannte „Time Scapes“, Zeit-Landschaften20. Äußeres Anzeichen für ein zunehmend engmaschiges Netz der Zeit ist unter anderem die wachsende Verbreitung von Uhren seit Beginn der Industrialisierung, nicht nur in den Städten.21

 

Der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus, der charakteristisch ist für die Phase der ersten industriellen Moderne, setzt sich gleichsam aus drei Komponenten zusammen, und zwar a) der Zeitlogik des Marktes, b) den Zeitnormen moderner Technologien, c) der Wirkung staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen und ihrer Administrationen auf die Strukturierung der geltenden Zeitordnung.

3.1.2.1 Marktlogik

Charakteristisch ist das Vordringen zum einen des Prinzips „schneller ist besser“ sowie eines Rationalisierungsimperativs, der darin besteht, bereits reduzierte Aufwandszeiten im unendlichen Regress weiter und weiter zu reduzieren; ich habe diesen als das Prinzip der „infinitesimalen Verwendungslogik der Zeit“22 bezeichnet. Dieser Mechanismus hat tendenziell die Wirkung, die Rechtfertigungsordnungen der alten, vormodernen Gesellschaftsformationen, repräsentiert durch politische Herrscher oder dominante religiöse Institutionen und deren Weltsichten, zu de-legitimieren: Die Marktlogik und ihre zeitlichen Implikationen hinterlassen auf längere Sicht einen Bedeutungs- und Machtverlust des Politischen und des Religiösen. In dem Ausmaß, wie sie von Modernisierungsprozessen erfasst worden sind, strukturieren nun anstelle autokratischer Herrscher/innen und ihres Machtapparates anonyme, aber nicht weniger unabweisbare, abstrakte Wirkmechanismen die Zeiten der Gesellschaft. An die Stelle der Hegemonie eines oder mehrerer handelnder personaler Subjekte und der ihnen unterworfenen Institutionen treten nun die stummen Handlungs-Logiken der gesellschaftlichen Teil-Systeme Wirtschaft und Technologie. Die Zeiten des Marktes bzw. die hiermit ausgelöste Verwendungslogik der Zeit – dass nämlich komparativ zu Wettbewerbern längere Aufwandszeiten zu vermeiden sind, weil sie zu suboptimalen wirtschaftlichen Ergebnissen führen – können, anders als etwa Kalenderzeiten, also nicht mehr politisch gesteuert werden.

Vielmehr entstehen die Zeiten des Marktes in Selbstorganisation, das heißt in Form einer nicht von den Teilnehmenden an Marktprozessen zuvor abgesprochenen Institutionalisierung von Regeln, darunter auch zeitlichen. Gleichwohl benötigt auch die marktlogische Form in den Kommunikationsprozessen und die hieraus entstehende Zeitstrukturierung einer Gesellschaft, bis hinein in die kleinen Teilsysteme, eine dahinterstehende Rechtfertigungsordnung. Diese speist sich im Wesentlichen aus erstens dem Narrativ relativen gegenseitigen Nutzens der an einer derartigen ökonomischen Kommunikation teilnehmenden Subjekte; wie es u. a. von den Klassikern der Politischen Ökonomie, A. Smith und D. Ricardo, theoretisch verdichtet worden ist. Zweitens ist damit die Behauptung der maximal sparsamen Verwendung knapper Ressourcen verbunden (effiziente Allokation) sowie drittens das Versprechen einer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch freien Gesellschaft. Darüber hinaus wird, vermittelt über die anderen Punkte, dem Markt als denkbar bestes Instrument des Ausgleichs unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen, eine friedensstiftende Funktion zugeschrieben – innerhalb eines Gemeinwesens ebenso wie im internationalen Warenaustausch. Damit kann das Prinzip der optimalen wirtschaftlichen Nutzung der Zeit als sinn-freies Regelwerk wirtschaftlichen Austausches seine hegemoniale Stellung begründen, womit Zeitökonomie nun, außer auf dem Feld wirtschaftlicher Interaktion, generell in Konkurrenz zu den sinn-haltigen Strukturbildnern Politik und Religion tritt, welche die vorangegangenen Epochen bestimmt hatten.23

Konkrete Akteure gesellschaftlicher Zeitstrukturierung werden mit der Durchsetzung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Strukturen in der Moderne zunehmend vor allem Wirtschaftsunternehmen und, seit ihrem Erstarken Ende des 19. Jahrhunderts, die Organisationen der Arbeiterbewegung bzw. Arbeitnehmervertretungen. Ihre Verhandlungsergebnisse bilden die jeweils möglichen zeitlichen Kompromisse eines historischen Zeitabschnitts zwischen dem Anspruch der Ökonomie und dem Anspruch des Humanums ab. Wobei Letzteres über die bloße Wiederherstellung der Arbeitskraft hinausweist und die gerechte Teilhabe am erreichten Wohlstandsniveau der Gesellschaft einschließt – hier, in der zeitlichen Dimension, in Form von „Zeitwohlstand“.24 Damit prägen die Tarifparteien wie niemand anderer die zeitliche Struktur der modernen Gesellschaft im Tages-, Wochen- und Jahresverlauf. Andere Teilsysteme, wie etwa die Verkehrsinfrastruktur, richten sich danach aus. Bestehende Strukturen stehen jedoch stets unter Veränderungsdruck: Sowohl infolge technischen Wandels als auch wirtschaftlicher Einzelinteressen lässt sich seit Beginn der Industrialisierung bis in die Gegenwart hinein die Tendenz beobachten, zeitliche Regularien wo immer möglich wieder zugunsten der Anpassung an die im Marktmechanismus inkarnierte Zeitlogik zu revidieren, etwa wenn es um Aufweichung des Sonntagsruhegebots geht.25

3.1.2.2 Technologie

Die Zeiten der Gesellschaft werden weiterhin durch die in moderne Technologien gleichsam eingebaute Verwendungs-Logik der Zeit geprägt, wobei diese wiederum eng an die Marktlogik gekoppelt ist. Die neuzeitliche Technologie setzt jedoch proprietäre Impulse, welche die Verzeitlichung der Gesellschaft weiter vorantreiben. Das Paradebeispiel einer modernen Technologie scheint auf den ersten Blick die mechanische Uhr, die unter anderem Jean Gimpel als die „Key-Machine“ der Transformation der nachmittelalterlichen Gesellschaft auf dem Weg in die industrielle Moderne bezeichnet hat.26 Die zeitliche Logik, die der industriellen Moderne zugrunde liegt, lässt sich jedoch besser an der Eisenbahn verdeutlichen. Denn während die Uhr als Maschine lediglich die Zeit zählt und sich darin nicht verändert, tendiert die Eisenbahn dazu, sich zeitlich immer wieder selbst zu optimieren, indem sie ihre Höchstgeschwindigkeit steigert.27 Erst auf Basis dieser Steigerungslogik verkörpert eine Maschine tatsächlich die Logik der neuen industriellen Epoche: So kann seitdem kein technisches Aggregat als effizienter gelten, das für ein identisches Arbeitsergebnis mehr Zeit benötigt als das vorauslaufende Modell.28 Da das Steigerungsspiel infiniter zeitsparender Verbesserung29 wie gesagt gleichsam in die industrielle Technologie eingebaut ist, kommt deren Zeitstrukturierungsfunktion ebenso wie der Markt ohne einen personalen Akteur aus. In der Praxis sind es dann Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Entwicklungsbüros sowie die technische Forschung, welche die zeitliche Steigerungslogik praktisch-organisatorisch in technische Aggregate umsetzen.

Technologien wirken über das bisher Gesagte aber auch zeitstrukturierend, indem sie aus der Logik ihrer Anwendung heraus ständig neue Maßstäbe bzw. Messgrößen von Zeit generieren: Wer den Weltraum erkunden will, muss einerseits in zeitlichen Dimensionen von Lichtjahren kalkulieren, um die Funktionszusammenhänge des Alls zu verstehen. Wer einen der Planeten erreichen will, muss jedoch gleichzeitig, allein um eine dementsprechende Zielgenauigkeit der Flugkörper zu erreichen, Maschinen entwickeln, die sich im Raster unvorstellbar kleiner Zeiteinheiten von Zepto-Sekunden bewegen können, was 10 hoch minus 21 Sekunden entspricht. Spätestens mit der Realisierung selbststeuernder Autos werden solche Zeit-Skalen auch relevant für die zeitliche Strukturierung vieler Bereiche unseres Alltags sein.

3.1.2.3 Politik und Administration

In demokratischen Gesellschaften werden, wie andere lebensweltliche Rahmenbedingungen, auch die Zeitstrukturen des öffentlichen Raumes weithin demokratisch generiert. Zu den großen hoheitlichen Aufgaben des Staates in diesem Bereich gehört unter anderem die Festsetzung und Überwachung einer für alle verbindlichen Uhrzeit, ebenso wie einer Kalenderordnung, der Zeitzone(n) des Landes einschließlich des jährlichen Wechsels von Sommer- auf Winterzeit, der allerdings seit einiger Zeit umstritten ist.30 Auch die Qualifizierung und der Schutz herausgehobener Zeiten, wie der Sonntagsruhe im Verfassungsrecht31 oder nationaler Feiertage, gehören dazu. Staatliche Kompetenz regelt weiterhin die zeitlichen Rahmenbedingungen der Demokratie als solcher, etwa die Festlegung der Dauer der Wahlperioden und -termine. Ebenso setzt der Staat die Fristen für die Abgabe der Steuererklärungen und viele andere rechtsverbindliche Zeitmarken. Die Kultusministerien zeichnen verantwortlich für die vielgestaltigen zeitlichen Regularien des Schulbetriebes (morgendlicher Schulbeginn, Dauer der Schulzeit, Ferienzeiten, Dauer von Klassenarbeiten etc.), an denen sich ihrerseits wieder ein erheblicher Teil des öffentlichen Lebens auszurichten hat. Auch unterliegen die zeitlichen Regularien des öffentlichen Straßenverkehrs hoheitlicher Entscheidung, von Geschwindigkeitsbeschränkungen bis hin zur Bewirtschaftung der Parkräume. Staatlich reguliert und durch die einschlägigen Administrationen überwacht sind weiterhin die Öffnungszeiten des Einzelhandels. Nicht zuletzt konzipieren kommunale oder überregionale Verkehrsanbieter, oft parastaatlich organisiert, die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel, die von den Nutzer/inne/n mehr oder weniger ohne Mitwirkungsmöglichkeiten zu akzeptieren sind. Öffentliche Dienststellen bestimmen, zumeist in ihrer internen Organisationslogik, die Zeiten ihrer Erreichbarkeit selbst.

Spätestens seit Kafka häufig Gegenstand satirischer Betrachtungen ist der selbstreferentielle Charakter bürokratischer Organisation, der strukturbildend sowohl im Außenverhältnis auf die Zeitstrukturen anderer Organisationen und Teilsysteme der Gesellschaft wirkt, als auch in die eigene Administration hinein. Kritisiert wird beispielsweise immer wieder eine selbstinduzierte, dysfunktionale Verlangsamung – nicht Entschleunigung – von Verwaltungsabläufen. Dies führt nicht selten zu erhöhten, in der Sache nicht zu rechtfertigenden Zeitkosten für die Bürger/innen. Diese entstehen auch, wenn bürokratischer Eigensinn in Verbindung mit weiteren Faktoren zu unnötigen Hindernissen bezüglich der Alltagsorganisation der Menschen führt, damit etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf blockiert.32 Schließlich können zeitliche Asynchronitäten und Verzögerungen, verursacht durch staatliche Institutionen, aber auch schwerwiegende politische Konsequenzen haben – etwa dann, wenn der Staat im Kontext von Umweltpolitik und Klimawandel eigentlich gezwungen wäre, rasch zu handeln.33

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