Frühling in der Schweiz

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Frühling in der Schweiz
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1887 kam Ricarda Huch mit 22 Jahren nach Zürich, wo den Frauen die Universität offenstand. Sie legte die Maturaprüfung ab, studierte Geschichte, wurde 1891 promoviert und unterrichtete danach an der Höheren Töchterschule, arbeitete in der Stadtbibliothek.

«Frühling in der Schweiz» ist ein hinreißendes Zeugnis des «Frauenstudiums» in Zürich. Huch bezog ein Zimmer bei der so freundlichen wie skurrilen und unglücklich verheirateten Frau Wanner in der Gemeindestraße. Zu den endlos debattierenden Russinnen an der Universität ging sie auf Distanz, befreundete sich aber mit anderen akademischen Pionierinnen: Marianne Plehn wurde später zu einer der ersten Professorinnen der Naturwissenschaften in Deutschland, Agnes Bluhm wurde zu einer der ersten praktizierenden Ärztinnen in Berlin, Marie Baum spielte als Soziologin und Sozialpolitikerin in der Frauenbewegung der Weimarer Republik eine wichtige Rolle.

Daneben vermittelt «Frühling in der Schweiz» ein anschauliches Bild der Zürcher Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist eine große Liebeserklärung an Zürich und die Schweiz, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Konflikts Ricarda Huchs mit der Gestapo.

Ricarda Huch, geboren 1864 in Braunschweig, studierte und arbeitete von 1887 bis 1896 in Zürich, wo sie auch zu publizieren begann. 1926 wurde sie als erste Frau in die Preußische Akademie der Künste gewählt, aus der sie 1933 unter Protest austrat. 1937 wurde sie denunziert, vor dem Hintergrund der Ermittlungen gegen sie erschien «Frühling in der Schweiz» 1938 im Zürcher Atlantis Verlag.


Foto Ayṣe Yavaṣ

Ute Kröger lebt als freie Publizistin in Kilchberg ZH. Im Limmat Verlag sind Werke über Else Lasker-Schüler, Erika Mann sowie Gottfried Semper lieferbar, die literaturgeschichtlichen Standardwerke «Zürich, du mein blaues Wunder» und «Nirgends Sünde, nirgends Laster» sowie «Vreneli’s Gärtli» von Oskar Panizza (herausgegeben und mit einem Nachwort von Ute Kröger).

RICARDA HUCH

FRÜHLING IN DER SCHWEIZ

JUGENDERINNERUNGEN

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ute Kröger


Inhalt

Frühling in der Schweiz

« … WEIL ES EBEN FRÜHLING UND HELL SEIN SOLLTE. »

I.

II.

III.

IV.

V.

LITERATUR (THEMATISCHE AUSWAHL)

ARCHIVALIEN

BILDNACHWEIS

Am Abend des 1. Januar 1887 kamen wir, mein Bruder und ich, in Zürich an und stiegen im Hotel Bellevue am See ab; es war noch das alte Haus, kleiner und stilvoller als das jetzige. Beim Abendessen saß eine Gesellschaft von Herren und Damen uns gegenüber – denn man speiste an der table d’hôte –, die sich sehr lebhaft und lustig unterhielten in einer Sprache, von der ich kein einziges Wort verstand. So viel konnte ich unterscheiden, dass es keine von den bekannten westeuropäischen Sprachen war, auch eine slawische schien es mir nicht zu sein. Während ich darüber nachdachte, kam es mir vor, als ob einer der Herren einen mongolischen Typus habe. Sollten sie kalmückisch oder tatarisch sprechen? Wahrscheinlich war das bei ihrem durchaus europäischen Aussehen und Verhalten nicht. Später erfuhr ich, dass kurz vorher in den sogenannten Escherhäusern am Zeltweg ein Brand ausgebrochen war und dass die davon Betroffenen bis zur Ausbesserung der in ihren Wohnungen entstandenen Schäden ins Hotel gezogen waren. Sie sprachen ihr angestammtes Zürichdeutsch, das mir bald so vertraut klingen sollte. Dem Herrn mit dem mongolischen Typus bin ich noch oft am Zeltweg auf dem Wege zur Universität begegnet.

Am folgenden Morgen suchten wir ein Zimmer für mich, und gleich das erste, das wir ansahen, gefiel mir; im Grunde mehr als das Zimmer die Wirtin. Sie hieß Frau Wanner, und das Haus, das sie bewohnte, war ihr Eigentum. Es lag an der Gemeindestraße, war von einem damals verschneiten Gärtchen umgeben und hatte die Nummer 25. Frau Wanner hatte ein rasches Wesen und ein lustiges Zwinkern in den Augen; ich war sofort überzeugt, dass wir uns verstehen würden. Nachdem mein Bruder abgereist war, der mich nur begleitet hatte, weil es nicht passend schien, dass ein Mädchen von zweiundzwanzig Jahren die weite Reise von Braunschweig nach Zürich allein machte, bezog ich die beiden Zimmer, die ich gemietet hatte. In der ersten Nacht erwachte ich durch ein Geräusch von Schritten, Rascheln, Klappern und Trampeln im Nebenraum. Ich lauschte eine Weile, ohne dass es aufhörte, und es wurde mir unbehaglich. Noch gar nicht orientiert in dem fremden Hause, konnte ich nicht wissen, wer nebenan hauste und was da getrieben wurde. Zwar sagte ich mir, dass Einbrecher oder sonst Leute mit bösen Absichten sich hüten würden, so viel Lärm zu machen; aber ein Angstgefühl und die dunkle Erinnerung an das Wirtshaus im Spessart ließen sich doch nicht verscheuchen. So nahm ich denn mein Kopfkissen und mein Deckbett und richtete mich auf einem Diwan in meinem Wohnzimmer ein, das, wie ich bemerkt hatte, an das Schlafzimmer der Frau Wanner stieß. Dass sie nicht mit in dem etwaigen Komplott war, nahm ich bestimmt an. Als ich ihr am anderen Morgen mein Erlebnis erzählte, lachte sie und klärte es folgendermaßen auf: Sie finde es unpraktisch, sagte sie, täglich das gebrauchte Essgeschirr aufzuwaschen, warte vielmehr damit, bis kein sauberes Stück mehr vorhanden sei; dann lohne es sich. Inzwischen schichte sie die gebrauchten Teller und Schüsseln in der Speisekammer auf, die an mein Schlafzimmer grenzte, und die Essenreste, die etwa daran wären, lockten natürlich die Mäuse herbei. Das Tanzen und Springen derselben zwischen den Tellern hatte das mir so unheimliche Geräusch verursacht. Ich war über diese Art des Haushaltbetriebes maßlos erstaunt, aber Frau Wanner, die mir das so unbefangen auseinandersetzte, gefiel mir im Grunde umso mehr. Nach zwei oder drei Tagen erzählte sie mir, meine Vorgängerin in der Wohnung sei eine Sängerin am Pfauentheater gewesen. Es handelte sich um den alten «Pfauen», ein unansehnliches Haus am Heimplatz, in dem, wenn ich mich recht erinnere, auch von recht unansehnlichen Kräften Operetten gespielt wurden. Diese Sängerin, ein sehr nettes Mädchen, sei die Geliebte eines rumänischen Studenten, der sich nach ihrer Abreise verlassen und unglücklich fühle; ob ich nicht ihre Nachfolgerin bei ihm werden wolle? Als ich mein Erstaunen über diesen Vorschlag äußerte, sagte sie, ich sei doch auch mit einem Geliebten gekommen; als ob das, wenn es sich so verhalten hätte, sie zu ihrer Zumutung berechtigt hätte. Ich sagte, das sei mein Bruder gewesen, ich hätte ihn ihr doch vorgestellt! Jawohl, sagte sie lachend, aber so etwas glaube man doch nicht. Weder nahm ich Frau Wanner ihre Einstellung, noch nahm sie mir meine schroffe Ablehnung des rumänischen Studenten übel, den abzulehnen es übrigens keines Aufwandes von Tugend bedurft hätte; im Gegenteil, als sie sich überzeugt hatte, dass ich nichts wollte als arbeiten und wirklich vom Morgen bis zum Abend arbeitete, ging ihre Zuneigung zu mir in eine fast leidenschaftliche Liebe über. Sie tat, was sie konnte, um es mir behaglich zu machen. Ich verstand nicht, die Petroleumlampe zu behandeln, da wir zu Hause Gas brannten, und ich überhaupt nicht gewöhnt war, irgendetwas im Hause zu tun, sie zeigte es mir, und als sie sah, wie mich das Petroleum ekelte, besorgte sie die Lampe regelmäßig für mich. Sogar dazu ließ sie sich herbei, für mich zu Mittag zu kochen.

Auf irgendeine Empfehlung hin war ich die ersten Tage zum Essen in das Zunfthaus zu den Zimmerleuten gegangen. Noch sehe ich den großen schwarzbärtigen Wirt vor mir, der grüßend von Tisch zu Tisch ging; ein biederer alter Herr und ein junger Engländer namens King, mit dem ich einige Male Schlittschuh gelaufen bin, wurden neben mich gesetzt. Obwohl mir alle mit Freundlichkeit, Rücksicht und Respekt begegneten, hatte ich doch den Eindruck, dass ich auffiel, weil es nicht Sitte war, dass einzelne Damen dort zu Mittag aßen. Ich war deshalb Frau Wanner sehr dankbar, dass sie sich zwar nicht verpflichtete, mir täglich etwas zu kochen, aber durchblicken ließ, dass sie es meistens tun werde. Sie durchbrach damit ihre Grundsätze; sie war nämlich der Meinung, es sei etwas Jämmerliches, dass die Menschen jeden Mittag zur bestimmten Stunde ihr Essen vorgesetzt haben wollten, gewissermaßen eine Verkommenheit des Spießbürgers, man solle dann essen, wenn man gerade Hunger hätte, und auch nicht viel Zeit mit den Vorbereitungen dazu verlieren. Obwohl ich nicht ohne Verständnis für diese Lebensauffassung war und selbst nicht dazu neigte, die Äußerlichkeiten des Lebens allzu wichtig zu nehmen, wusste ich ihr doch auch etwas zu entgegnen. Gerade weil wir, meine Geschwister und ich, sehr frei aufgewachsen waren, fast ohne andere Erziehung, als die Atmosphäre des Hauses und das Beispiel der Angehörigen bewirkte, hatte ich mir die wenigen Lebensregeln, die mir, meist von meiner geliebten Großmutter ausgehend, gegeben wurden, fest eingeprägt, und dazu gehörte die, dass eine bestimmte Einteilung der Beschäftigungen des Tages dem Leben ein Gerüst verleihe, das für die Menschen gut und eigentlich notwendig sei; wer sich einen Stundenplan setze und daran halte, könne mehr leisten als ein anderer. Diese Regel hatte sich mir so eingefleischt, dass es mich heute noch beunruhigt, wenn meine Mittagsruhe sich über drei Uhr erstreckt, weil sie zu Hause von zwei bis drei angesetzt war. Da ich außerdem um die Mittagszeit hungrig und nach angestrengter Arbeit einer Pause bedürftig war, konnte ich Frau Wanners Lebensanschauung, abgesehen von der Theorie auch mit augenscheinlich einleuchtenden Gründen, zu erschüttern suchen. Zu alledem konnte ich mir sagen, dass tägliches Kochen zu einer bestimmten Stunde auch Frau Wanner selbst und ihrer Familie zugutekommen würde.

 

Frau Wanner hatte vier Söhne, zwei von etwa fünfzehn und vierzehn, zwei kleine von etwa vier und drei Jahren. Von dem ersten Paar war der ältere blond und etwas derb, dem Vater nachschlagend, der zweite dunkel und feiner, der Mutter ähnlich; und dieselbe Verteilung wiederholte sich bei dem zweiten.

Mit dem Vater dieser Kinder, dem Gymnasiallehrer Wanner, hatte es eine besondere Bewandtnis, von der seine Frau mich bald in Kenntnis setzte. Sie konnte ihn durchaus nicht leiden und wünschte, von ihm geschieden zu werden, was aber doch nicht so leicht zu bewerkstelligen war; inzwischen hatte sie ihn in das obere Stockwerk ihres Hauses gesteckt, wo er allein und begreiflicherweise sehr übler Laune hauste. Für ihn zu kochen, weigerte sie sich entschieden. Er ernährte sich infolgedessen hauptsächlich mit kaltem Aufschnitt, Schinken, Wurst und dergleichen, weswegen sie ihn, Spott zum Schaden fügend, den Wurstlackel nannte. Sie gab ihm nie eine andere Bezeichnung, wenn sie von ihm sprach. Von dem ersten Söhnepaar hielt der ältere zum Vater, der jüngere zur Mutter, die Kleinen waren noch zu jung, um etwas davon zu begreifen. Anfänglich versuchte ich schon um der Kinder willen, im versöhnenden Sinne zu wirken. Ich ermunterte zum Beispiel zu Familienspaziergängen am Sonntagnachmittag, wozu Frau Wanner sich bereit erklärte unter der Bedingung, dass ich mitginge. Die Kleinen waren hocherfreut über diese gemeinsamen Unternehmungen, aber für mich war es ein heikles Vergnügen, denn ich musste beständig auf einen Ausbruch der Feindseligkeit gefasst sein und versuchen, geistesgegenwärtig vorzubeugen oder abzulenken. Indessen mussten diese gefährlichen Ausflüge bald wieder aufgegeben werden. Der Bruch war infolge von Frau Wanners Abneigung, ja Hass, unheilbar. «Möchten Sie ihn haben?», fragte sie mich streng, als ich ihr wieder einmal gut zugeredet hatte. Da ich ehrlicherweise nicht behaupten konnte, ich möchte ihn haben, hielt sie sich für gerechtfertigt.

Liebe Frau Wanner! Dass sie Frau eines Gymnasiallehrers und Tochter eines Herrn Schoch war, der im Appenzellerland, ich glaube in Trogen, eine viel besuchte Erziehungsanstalt geleitet hatte, überraschte mich sehr, als ich es erfuhr; ich hatte sie für eine Frau aus dem Volke gehalten. Ihr Gesicht war schmal und feingeschnitten, aber es tat ihrem guten Aussehen Abbruch, dass ihre Haut infolge von häufigem Biergenuss fleckig gerötet war. Sie hatte sich, wie ich glaube, das Biertrinken dadurch angewöhnt, dass sie es für die bequemste Art der Ernährung hielt. Für ihre Kinder sorgte sie gut, soweit ich es beurteilen konnte, wenn auch vielleicht etwas summarisch. Sie hatte einen guten Verstand und war nach Appenzeller Art immer mit witziger Rede bei der Hand; gegen die, welche sie nicht leiden mochte, konnte sie scharf, sogar grausam sein.

Zu diesen gehörte ein Landsmann von ihr, der schon längere Zeit bei ihr wohnte, Oskar Kellenberg. Er studierte die Rechte und ließ sich dabei mehr Zeit als üblich, da er vermutlich dachte, er werde lange genug in Walzenhausen oder sonst wo im Appenzellerland Fürsprech sein und wolle einstweilen die Studienjahre in Zürich gründlich auskosten. Frau Wanner, die Raschheit und Tätigkeit liebte, rechnete ihm das als Trägheit an, umso mehr, als er spät aufzustehen pflegte. Immerhin hatte sie ihn mit leidlich guter Miene geduldet, bis er sich in mich verliebte. Die glücklichen Zwanzigjährigen! Ein magisches Rosenlicht umspielt sie und berückt die davon angehaucht werden. An diesem Frühlingszauber hatte ich damals teil und nahm als etwas Selbstverständliches, ja fast ohne es zu merken, hin, dass man mir Liebe entgegenbrachte; war ja auch mein Herz empfänglich für alles, was ich sah und erlebte. Frau Wanner hatte es im Allgemeinen gern, wenn ein junger Mann mich verehrte, und sagte dann mit Heranziehung eines Ausdrucks, der in Zürich von dem jungen, in Gärung befindlichen Wein, dem Sauser, gebräuchlich ist: Er ist im Stadium oder er ist im Ricarda-Stadium. Es erfüllte sie mit Befriedigung wie eine ihr selbst dargebrachte Huldigung, solange ich mir aus dem Betreffenden gar nichts machte. Nun erwiderte ich zwar Kellenbergs Neigung nicht, hatte ihm auch gesagt, dass ich gebunden sei und ihn keinesfalls heiraten werde; aber ich konnte ihn gut leiden, unterhielt mich mit ihm über manche Dinge, die Frau Wanner nicht interessierten, und nahm es gern an, wenn er mich sonntags auf größeren Ausflügen begleitete, die ich allein nicht hätte unternehmen können. Dadurch wurde ihre Eifersucht gereizt, sie fasste einen immer lebhafteren Widerwillen gegen ihn und verfolgte ihn mit spitzigen Bemerkungen, die ihn zum Ausziehen veranlassen sollten. Dass er sich mit stoischer Gleichgültigkeit gegen ihre Pfeile panzerte und tat, als fühle er sie gar nicht, brachte sie umso mehr gegen ihn auf.

Wenn Frau Wanner anderen meinen Fleiß als Vorbild anpries, so durfte ich das Lob als wohlerworben betrachten. Ich pflegte spätestens um sieben Uhr aufzustehen; oft spielte mir Frau Wanner dann einen Walzer – stramm aufrecht in der Haltung einer eifrigen Schülerin saß sie am Klavier –, und ich tanzte dazu. Dann arbeitete ich mit kurzen Pausen bis Mitternacht. Ich hatte mir ein Jahr gesetzt, um mich auf die Maturitätsprüfung vorzubereiten, und musste mich anstrengen, wenn ich das Ziel erreichen wollte. Nicht nur, dass ich von Latein und Mathematik noch gar nichts wusste, ich musste auch in allen übrigen Fächern meine Kenntnisse von Grund aus aufbauen. Zum Beispiel hatte ich viel gelesen, kannte Don Carlos, Wallenstein, Faust zum Teil auswendig; aber ich wäre nicht imstande gewesen, von diesen Dramen oder irgendeinem anderen eine ausreichende Inhaltsangabe zu machen. Für das Tatsächliche hatte ich überhaupt nicht viel Sinn. Bei dem mir angeborenen Hang für die Historie hatte ich ziemlich viel Geschichtswerke gelesen; aber ich liebte die Geschichte als den farbigen Strom des Geschehens, aus dem große Persönlichkeiten auftauchten, die ich kämpfen und siegen oder unterliegen sah, als den Stoff, in den meine Fantasie hineingriff, um ihn dramatisch zu gestalten, und merkte mir nur, was mich in Bezug darauf interessierte; viel zuverlässige Kenntnisse hatte ich nicht. Alles, was ich etwa wusste, langte nicht, um Examensfragen zu beantworten. Sogar in Hinsicht auf moderne Sprachen, in denen ich guten Unterricht gehabt hatte, musste mindestens das Gedächtnis wieder aufgefrischt werden.

Im Lateinischen unterrichtete mich ein Professor am Gymnasium, ich glaube, er hieß Walder, ein etwas humorloser, griesgrämlicher Mann, der mit Misstrauen an die Sache heranging, weil er nicht glaubte, das erforderliche Pensum werde sich in so unverhältnismäßig kurzer Zeit bewältigen lassen; als er sah, dass ich schnell Fortschritte machte, wurde er freundlicher und hatte schließlich wohl annähernd so viel Freude an den Stunden wie ich. Vor der Mathematik hatte ich mich gefürchtet: Ich bildete mir ein, das sei etwas, was nur Männer könnten. Leider habe ich den Namen des jungen Mannes, eines Seminaristen, vergessen, der mich in Algebra, Geometrie, Physik, kurz, in allen mit der Mathematik zusammenhängenden Fächern unterrichtete. Er besaß die Gabe, sich in die Geistesverfassung eines völlig Unkundigen hineinzuversetzen und beantwortete mit Geduld und Klugheit die vielen Fragen, die ich stellte, bis ich die Art des mathematischen Denkens erfasst hatte. Dann ging es auf einmal spielend, und ich arbeitete auf diesem Gebiet, von dem ich alles ganz und gar bis auf den letzten Zipfel vergessen habe, mit besonderer Vorliebe. Naturwissenschaftlichen Unterricht hatte ich bei Herrn von Beust. Der Vater der Brüder Beust war ein 48er-Flüchtling gewesen und hatte in Zürich eine Schule nach damals neuen Grundsätzen eingerichtet, die gut besucht wurde. Nach seinem Tode führte der eine Sohn sie weiter, eben der, bei welchem ich Stunden nahm. Er war ein stattlicher blonder, unverheirateter junger Mann; wenn ich kam, öffnete mir jedes Mal seine Mutter die Tür, rücksichtsvoll ihre Gegenwart andeutend.

Ich war damals voller Arbeitslust und Arbeitskraft. Ich hatte seit meiner Schulzeit etwa acht Jahre lang nichts Ernstliches getan, nun war ein Drang in mir, große Aufgaben zu bewältigen. Allerdings bediente ich mich unwillkürlich des Kunstgriffes, mit den verschiedenen Fächern, die ich zu bearbeiten hatte, häufig abzuwechseln. Dann gab es hie und da, auch abgesehen vom Mittagessen, eine Pause. Am Nachmittag tobte ich ein Stündchen mit Max und Paul, den beiden Kleinen. Zu meiner Entlastung erfand ich ein Spiel, bei dem ich mich etwas ausruhen konnte; ich legte mich flach auf den Boden und regte mich nicht, die beiden Buben sprangen um mich herum und über mich weg, wobei sie riefen: Fräulein Huch ist tot! Fräulein Huch ist tot!, bis ich mich plötzlich aufrichtete, nach ihnen griff und sie schreiend davonliefen. Dabei hatte ich den Vorteil, dass ich unvermerkt den Dialekt lernte, denn mein Hochdeutsch verstanden sie nicht; ob ich Englisch oder Französisch spräche, hatten sie ihre Mutter gefragt. Gegen Abend schlenderte ich manchmal allein oder mit Frau Wanner auf die Hohe Promenade, den letzten Rest der alten Bastei, wo wir das Abendlicht die Schneeberge färben sahen. Nur selten trafen wir dort einen Spaziergänger, der wie wir, an den grünüberwachsenen Gräbern eines alten Friedhofs vorüberwandelnd, den Feierabend genoss. Auch größere Ausflüge unternahm ich mit Frau Wanner; besonders gern erinnere ich mich einer Reise in ihre Heimat, wobei wir die Ebenalp und das Waldkirchlein besuchten. Die Alpenrosen, die gerade blühten, überzogen den Boden mit einem krausen, rostroten Teppich; ich war von diesem Anblick, der mir neu war, hingerissen. Auf der Ebenalp fand auf einem hölzernen Tanzboden ein ländlicher Tanz statt. Aufgefordert, mich zu beteiligen, war ich gern bereit und tanzte so ausgiebig mit, dass meine Strümpfe am Schluss vollständig durchgetanzt waren. In dem ersten Winter, wo ich noch wenig Menschen kannte, ging ich oft weite Wege allein, besonders am See entlang, der dunkel unter wogenden Nebeln starrte, und das waren besonders glückliche Stunden ahnungsvoller Träumereien. Einige Jahre später wurde eine meiner Freundinnen auf dem Wege zur Trichterhauser Mühle überfallen und nur durch das zufällige Daherkommen eines kleinen Jungen gerettet. Dadurch wurde mir die Gefahr einsamer Spaziergänge klar, und ich verlor den Mut dazu, womit ich allerdings einen unersetzlichen Genuss aufgab.

Zu Frau Wanners Hause gehörte ein Gärtchen mit einer Laube, in der ich mich, seit es warm wurde, fast den ganzen Tag aufhielt. Bei mir hatte ich ein winziges, schwarzweißes Kätzchen; wie ich in seinen Besitz gekommen war, weiß ich nicht mehr. Es war das hübscheste Kätzchen, das man sich denken kann, und hieß Fritz, doch verschwand der offizielle Name über die vielen Zärtlichkeitsbenennungen, die ich meinem Liebling gab. Die Liste von Fritzens hundert Kosenamen, die ich einmal aufstellte, betrachtete Frau Wanner mit lächelnder Nachsicht. Da in meinem Zimmer Mäuse waren, was man bei dem herrschenden Wirtschaftsbetrieb natürlich finden wird, und ich auch Mäuse gernhatte, band ich meinem Fritz ein Glöckchen um, das seine Gegenwart zeitig anmeldete und die Bedrohten warnte; auf diese Weise konnte ich Katz und Mäuse nebeneinander haben. Einen grimmigen Gegner hatte meine Katze an Herrn Wanner, dem sie zuweilen den Wurstvorrat entwendete, mit dem der bedauernswerte Mann sich ernährte. Frau Wanner wollte sich in solchen Fällen totlachen. «Der Wurstlackel ist im hellen Zorn abgezogen», jubelte sie, «er hat nichts mehr zu essen.» Ich erhielt dann ein Billett von ihm voll scharfer Ausfälle gegen mein Fritzli, das ich mit höflichen Entschuldigungen und Wiedererstattung des Geraubten beantwortete. Seit die Sonntagsspaziergänge aufgehört hatten, sah ich ihn selten mehr. Der Scheidungsprozess war im Gange, aber die immer wieder erneuten Versöhnungsversuche vor dem Friedensrichter zogen ihn sehr in die Länge.

 

Eine besonders sympathische Erscheinung meines ersten Zürcher Jahres war ein Freund Kellenbergs, den ich durch ihn kennenlernte, Alexander Wettstein, Sohn des Seminardirektors von Küsnacht. Er war in jeder Art von Sport geübt, die damals betrieben wurde, auch im Segeln, und als er hörte, dass ich noch nie gesegelt sei, wünschte er, mich dies Vergnügen kennen zu lehren. Das Rudern hatte ich bereits gelernt und ruderte oft abends auf dem See, der nur selten durch einen Dampfer, noch gar nicht durch die sogenannten Schwalben beunruhigt wurde; dort war man allein mit den Bergen und dem Abendrot. Wir gingen zu dritt zu einer der Stellen, wo Boote vermietet wurden, und Alexander nahm eins, um selbst das weiter draußen liegende Segelschiff herbeizuholen. Ungeduldig sprang er dabei zu kurz und fiel ins Wasser; wir traten sofort den Heimweg an, damit er sich trocknen konnte, und es ist nie zu einer Segelfahrt gekommen. Dagegen wurde eine gemeinsame Besteigung des Glärnisch ausgeführt, eine herrliche, freudenvolle Fahrt, auf der die Alpenblumen leuchteten und noch mehr die flinken, blanken schwarzen Bergsalamander mich entzückten. In der Hütte unterhalb der Spitze wurde übernachtet. Wir schliefen auf Strohsäcken, und meine beiden Begleiter waren brüderlich besorgt, dass ich bequem lag und gut zugedeckt war. Beim Abstieg zeigte sich, dass ich an Schwindel litt; an einer besonders ängstlichen Stelle verließ mich der Mut, ich wagte mich weder vorwärts noch rückwärts. Alexander Wettstein, der selbst das Führerexamen gemacht hatte, kam mir nicht zu Hilfe, sondern rief mir zu: «Sie müssen allein weitergehen, und Sie können es auch!» Da mir nichts anderes übrigblieb, biss ich die Zähne zusammen und konnte es wirklich. Unter Scherz und Gesang ging es in großen Sprüngen zu Tal.

Während der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft besuchte Wettstein uns nie, ohne mir etwas mitzubringen, etwa eine schöne Blume oder einen seltenen Stein, und einmal war es eine kleine Schildkröte. Einsperren mochte ich sie nicht, und die Freiheit des Gartens missbrauchte sie zur Flucht. Eines Tages, es war, wenn ich mich recht erinnere, im Juli, kam Alexander mich fragen, ob ich mit auf die Jungfrau wollte; er und fünf seiner Bekannten hätten vor, in den nächsten Tagen den Aufstieg zu machen. Es ist fast verwunderlich, dass er mir so viel zutraute, da er wusste, dass ich nicht schwindelfrei und überhaupt, wenn auch kräftig und gelenkig, doch ungeübt war; er mochte denken, dass er mir aushelfen könnte, wo ich etwa versagte. So verlockend die Aufforderung war, glaubte ich doch, sie ablehnen zu müssen, denn ich sagte mir, dass ich für sechs junge Männer, die alle bis auf einen erprobte Bergsteiger waren, eine Hemmung bedeuten würde. «Was soll ich Ihnen mitbringen?», fragte er beim Abschiednehmen. «Ein Murmeltierchen», sagte ich. Als das entsetzliche Unglück geschah, war ich nicht in Zürich, ich kam erst einige Tage nachher von einer kleinen Ferienreise zurück. Alle sechs waren eine kurze Strecke unterhalb des Gipfels abgestürzt und tot. Zum Verhängnis war ihnen die Ungeübtheit des einen der Teilnehmer geworden, hauptsächlich aber ein plötzlich eintretender Umschwung des Wetters. Gegen einen eisigen Schneesturm ankämpfend, erreichten sie die Spitze des Berges, rasteten dort und traten am folgenden Morgen erschöpft und erstarrt den Abstieg an. Unglücklicherweise waren sie, vermutlich wegen der Unzulänglichkeit des einen von ihnen, untereinander angeseilt, sodass sie, als einer ausglitt und stürzte, alle verloren waren. Die Schweizer Zeitungen beschäftigten sich viel mit dem Ereignis, das mehrere Familien in Trauer versetzte; einer von den sechsen war verheiratet. Von geistlicher Seite wurde das leichtfertige Aufsspielsetzen des Lebens getadelt; doch konnte man insofern nicht von Leichtsinn sprechen, als mehrere der Verunglückten das Bergführerexamen gemacht hatten. In den Berichten wurden alle Gegenstände angeführt, die die Taschen und Rucksäcke der Toten enthielten; mit tiefer Bewegung las ich, dass bei Alexander Wettstein, in ein seidenes Tuch eingewickelt, ein Murmeltier gefunden war.

Mein Aufenthalt bei Frau Wanner nahm dadurch ein Ende, dass ich von irgendeiner Seite an den Professor der Theologie, Fritzsche, empfohlen war und seine Damen mich aufsuchten. Sie fanden, dass ich nicht passend untergebracht sei, und redeten mir dringend zu, die Wohnung zu wechseln, bis ich nachgab. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, dass die Verhältnisse im Hause sich immer mehr auflösten. Doch verließ ich ungern Frau Wanner, das Gärtchen, die Gemeindestraße und den Zeltweg, an dessen Häusern ich manches Mal am späten Abend den alten Gottfried Keller, klein und gebückt, für mich eine große, verehrte Gestalt, hinstapfen sah. Sehr schmerzlich war es mir, dass ich mich auch von meinem Kätzchen trennen musste. Ich nahm es in einem verdeckten Korbe mit in die Dufourstraße, aber es entkam mir und langte nach zwei oder drei Tagen ausgehungert und verschmutzt wieder in der Gemeindestraße an. Wohl nahm es Frau Wanner liebevoll auf, konnte aber nicht verhindern, dass der älteste Sohn, die Abneigung des Vaters teilend, es erschoss. Vielleicht war es besser für das arme Tier, das, von seiner Liebe zu mir und der unüberwindlichen Anhänglichkeit an das Haus hin- und hergerissen, nirgends mehr Ruhe fand. Frau Wanner kam später, nachdem sie geschieden war, unter den Einfluss von Temperenzlern, entsagte dem Trinken und wurde ordentlich; doch war ich, als sich diese Umwandlung vollzog, nicht mehr in Zürich. Etwa fünfundzwanzig Jahre später überraschte und erfreute mich ein Brief ihres jüngsten Sohnes Paul, der in Italien lebte, ich glaube als Buchbinder, Frau und Kinder hatte und glücklich war. Er erinnerte sich noch lebhaft, wie er mir schrieb, der Zeit, wo ich im Garten der Gemeindestraße mit ihm und seinem Bruder spielte.

Dank meines guten Unterrichts und meines Fleißes wurde mir das Examen leicht. Die meisten Prüflinge waren schlecht vorbereitet, da das Maturitätsexamen für leicht galt, viele gingen auf gut Glück, fast ohne Kenntnisse hinein. Ich stellte bei den schriftlichen Arbeiten eine Art Nachrichtenbüro vor, das nach allen Seiten die Bedürftigen bediente. Bei einem Examen geht es gewöhnlich so, dass, wenn der erste Tag gut verlaufen ist, die günstigen Ergebnisse sich wie von selbst steigern: Die Zuversicht der Geprüften wächst und ebenso die günstige Stimmung der Prüfenden, es bildet sich zwischen ihnen eine Atmosphäre des Erfolges. So ging es damals mir: Die Zeit verging mir wie ein Fest. Als das Ergebnis mitgeteilt wurde, verkündete Professor Blummer, der derzeitige Rektor, dass ein Examinand in allen Fächern die erste Note bekommen habe, was seit Jahren nicht vorgekommen sei.

In mein erstes Semester fiel die Bekanntschaft mit einem Studenten, der eben vom Gymnasium kam und Nationalökonomie studieren wollte. Er hieß Hans Müller und war ein Mecklenburger aus guter, wohlhabender Familie, hatte sich aber den Unwillen seines Vaters zugezogen, weil er Sozialdemokrat war. Das bedeutete für die damalige Bourgeoisie ungefähr dasselbe, wie Verbrecher zu sein. Ich wusste nicht viel von sozialistischen Theorien, aber ich war für die Richtung eingenommen, die das Los der Arbeiter, also der ärmsten und rechtlosen Klasse, verbessern wollte. Überhaupt hatte ich eine unwillkürliche Neigung zum Revolutionären. Das Legitime war mir verdächtig, die Worte Freiheit und Rebell hatten einen wundervoll drommetenhaft erschütternden Klang für mein Ohr. Ich ließ mich also leicht von Hans Müller bereden, mit ihm ein Kolleg zu besuchen, das für viele junge Deutsche eine besondere Anziehungskraft hatte: Professor Platter las über Sozialismus. Ich war keine eifrige Hörerin und verstand nicht viel von dem, was er vortrug; aber die Zusammensetzung der Zuhörerschaft interessierte und belustigte mich. Es waren mehr Ausländer als Schweizer, darunter verschiedene Deutsche, die später eine Rolle in der Sozialdemokratischen Partei gespielt haben. Diese verkehrten meist in einem Lokal, das die «Kaffeeklappe» genannt wurde; ich lernte sie nur aus Erzählungen von Hans Müller kennen. Zu seinen näheren Bekannten gehörte Karl Henckell, der kurz vorher ein Bändchen sehr anmutiger Gedichte herausgegeben hatte. Er besang darin Erika Wedekind, die Tochter eines im Lenzburger Schlosse wohnenden Niedersachsen, Schwester des später berühmten und berüchtigten Frank. Schon zu jener Zeit gingen allerhand eklatante Anekdoten über ihn um. Eines Verses von Karl Henckell erinnere ich mich, der oft mit Vergnügen angeführt wurde! Das wird die Ochsen kränken – Im Stall Germania – Die Mädchen auf den Bänken – der Wissenschaft: Hurra! Manche von seinen Gedichten hatten etwas Seelenvolles, Taufrisches, Witziges, das er später nicht wieder erreicht hat.

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