Die gefundene Frau

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Die gefundene Frau
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Rita Kuczynski

Die gefundene Frau

epubli 2016

In Erinnerung an Leon

Dank an Bernd Floßmann

Die Autorin

Rita Kuczynski, 1944 in Neidenburg/Ostpreußen geboren. Studierte Musik und Philosophie. 1976 Promotion an der Akademie der Wissenschaften der DDR über Hegel. Zahlreiche Gastvorlesungen u. a. in New York und Washington D.C., Lehraufträge im In- und Ausland. Freie Tätigkeiten als Journalistin und Publizistin u. a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Tagesspiegel und verschiedene Rundfunkanstalten

2002 Literaturpreis der China-Time Taiwan, 2002; Fellow an der Johns Hopkins University (2001; 2008)

Autorin zahlreicher Sachbücher und Romane.

U.a. „Mauerblume“,(1999); „Was glaubst du eigentlich?“ (2013)

Rita Kuczynski lebt in Berlin.

Impressum

Copyright: © 2016 Rita Kuczynski www.rita-kuczynski.de

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Schriftsatz, Fotos und Buchcover:

Bernd Floßmann, www.bookcoach.info

ISBN 978-3-7418-2123-3 (Paperback)

ISBN 978-3-7418-2124-0 (E-Book)

1

Ich liege auf dem Rücken und kann von meinem Futon geradewegs auf die Straße sehen. Ich liege also nicht auf der Straße. Die Straße liegt vor mir.

Der Futon ist eine Spende von Humana und besser, als ich dachte. Hinter der Fensterscheibe in Augenhöhe nehmen Beine mit Schuhen ihren Weg. Auch Beutel und Taschen werden am Fenster vorbeigetragen von Leuten, die ich nicht sehe und die mich nicht sehen. Ich liege zu ebener Erde und konzentriere mich auf meinen Körper. Mit aller Kraft presse ich ihn gegen die Unterlage. Ein Gefühl für die hier geltenden Druckverhältnisse soll sich einstellen. Ich verschiebe den Gedanken, schon wieder auf der Suche nach einem Punkt zu sein, auf den ich zurückkommen könnte, wenn ich meine Rückenlage aufgäbe. Wenn ich aufstünde.

Alle Neuen im Wohnheim landen zunächst im Parterre, sagte jemand vom Flur herkommend und betrat unaufgefordert das Zimmer. Vor meinem Futon kam ein hochgewachsener Mann zum Stehen. Er trug einen Jogginganzug.

Du kommst darüber hinweg, glaub mir. Darüber sind alle hinweggekommen. Und wenn nicht, sind sie wieder ausgezogen.

Er streckte mir seine Hand entgegen. Ungern gab ich meine Rückenlage auf.

Ich bin Moses, Moses Grossman. Ich bin auch einmal ausgesetzt geworden und hatte alles verloren. Erst nachdem ich aus dem Wasser gezogen wurde, habe ich eine Welt gewonnen. Kannst mir glauben, ohne den Verlust wäre ich nicht geworden, was ich bin: Läufer zwischen hier und drüben. Oder wenn du willst, Mittler zwischen Erde und Himmel. Das bleibt eine Frage der Sicht. Damit ich nicht abkomme vom Weg, höre ich auf meine Stimme, wenn sie zu mir spricht.

Ich heiße Agnes, sagte ich abwesend und sah aus dem Fenster.

Wie ich auf diesen Namen gekommen bin, verstand ich nicht. Aber er gefiel mir. Ich nahm meine Rückenlage wieder ein.

Ich weiß, Agnes, sagte Moses und verließ das Zimmer.

Ehe ich etwas erwidern konnte, waren nur noch seine blauweißen Turnschuhe zu sehen. Ihr Schritt verhallte auf dem Flur.

Ich setzte mich auf. Ab heute werde ich also Agnes heißen. Für einen Augenblick wurde mir ganz feierlich zumute. Denn noch nie hatte ich einer Schöpfung beigewohnt und dazu noch meiner eigenen. Ein Kälteschauer durchfuhr mich. Ich legte mir eine Decke über. Ich hatte ja nur dieses dünne Nachthemd aus Leinen an. Alle Neuen bekommen so ein Hemd bei der Einweisung ins soziale Wohnheim. Gestern abend war ich zu müde, in meinen Kisten nach einem eigenen Nachthemd zu suchen.

Auf der Straße vor meinem Fenster wurden noch immer Tragetaschen und Reklametüten aus Papier und Plastik vorbeigetragen. Ich gab mich in den Rhythmus der Straße. Ich begann die Winterstiefel zu zählen, die vor den Fensterscheiben vorbeiliefen. Das Fenster war nicht dicht. Es zog.

Ab heute also werde ich mich in aller Welt Agnes nennen. Ich werde keine Verwandten haben, auf die ich mich beziehen kann, weil sie in einer anderen Zeit längst verstorben waren. Den Grabstein samt Grabstelle, den meine Großmutter mir einst schenkte, werde ich verkaufen. Er ist beim Konkursverfahren übersehen worden. Wenn sie von dem Verkauf erführe, würde meine Großmutter mein Vorgehen ertragen. Schließlich hatte sie immer ein Einsehen mit mir.

Auf der Straße vor meinem Fenster nahmen Schritte ihren Lauf. Es war Januar. Geschneit hatte es auch. Aber Abdrücke von Schuhen im Schnee gab es nicht. Die Straßenreinigung hatte mit reichlich Sand die Gehwege gestreut. Sand als umweltfreundliche Alternative gegenüber Chemikalien hatte sich durchgesetzt. Fußabdruck in frischem Schnee entfiel daher. Im Schneesand zerfällt jeder Schritt, bevor er Abdruck werden kann. Ich stierte auf die am Fenster vorbeilaufenden Winterschuhe. Streusand auf asphaltieren Straßen in großen Mengen hinterließ den Eindruck von Unwegsamkeit. Ein Hund blieb vor dem Fenster stehen und beschnuppert die Ecken. Er beroch den Sand, der bis dicht vor die Scheibe gestreut worden war. Dann hob er das Bein und pinkelte in die rechte Fensterecke.

Na los Agnes, rief ich mich zum ersten Mal bei meinem Namen, gehen wir die Grabstelle verkaufen. Mir war kalt. Hunger hatte ich auch.

Auf der Straße war es glatt. Feuchte Kälte trieb mir Wasser in die Augen. Es war nicht Rührung, sondern Kälte der Grund, daß mir Tränen über das Gesicht liefen. An einer Kreuzung blieb ich stehen. Gelbe Wegweiser mit Zielvorschlägen für jede Himmelsrichtung. Ich entschied mich für Norden. Im Norden war als lohnenswert eine Unfallklinik angegeben. Wo ein Krankenhaus ist, ist auch ein Bestattungsinstitut, sagte mir meine Erfahrung.

Es waren gleich drei um die Klinik angesiedelt. Ich wählte das Geschäft direkt neben dem Gemüseladen. Ich öffnete die Tür, nur zwei Schritte, und ich stand etwas unvermittelt in einem Mittelgang zwischen zwei Särgen. Auf dem rechten lag ein großer Strauß. Ich roch an ihm. Die Blumen waren echt. Es dauerte, bis eine junge Frau kauend von der Kellertreppe her in den Laden hochkam. Mit den Händen wischte sie sich den Mund, bevor sie die Finger am Rock abstrich. Die Frau hatte ein T-Shirt an, auf dessen Rücken die Öffnungszeiten standen: Seit 1872 Tag und Nacht: Erd- und Feuerbestattungs - Gesellschaft mbH.

Ich trug mein Anliegen vor. Sie gab mir zu verstehen, daß ich mein Grab wahrscheinlich gar nicht mehr besäße. Jedes Nutzungsrecht für Grabstellen laufe nach zwanzig Jahren aus. Darüber gäbe es Gesetze. Ob ich je einen Verlängerungsantrag gestellt hätte. Ob ich wisse, wer die Unkosten für die Grabstelle beglichen haben könnte über die Jahre. Ich müsse mich mit meiner Friedhofsverwaltung in Verbindung setzen.

Ob ich überhaupt noch Rechte an der Grabstelle hätte, sei eher unwahrscheinlich. Das Land gehöre in meinem konkreten Fall der Kirche. Auch Ansprüche am Gottesacker verjähren. Wenn ich einen Nutzungsvertrag mit dem Friedhof vorweisen könne, hätte ich vielleicht eine Chance. In jenem Fall könne ich eventuell eine Abtrittserklärung für zehn Jahre erwirken, vorausgesetzt, daß kein Sterbefall einträte. Das Ganze bedürfe selbstverständlich der Schriftform. Ein Nutzungsvertrag unter zehn Jahre rentiere sich jedoch keinesfalls. Ob der Friedhof da mitmache, hielte sie eher für unwahrscheinlich. Ich sollte mal besser nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

Ich bedankte mich für die Auskunft und schlug den Weg zum Friedhof ein. Bevor ich bei der Kirchhofsverwaltung vorsprach, ging ich zum Grab meiner Großmutter. Ich brach einen Zweig aus der Buchsbaumhecke und sagte meiner Großmutter: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, sagte ich damit einem Fixpunkt, aus der Zeit, in der es noch feste Orte gab, auf die zurückgekommen werden konnte, selbst nach allem Ende.

2

Im Friedhofsbüro erfuhr ich, daß das Grab zwei Erdstellen umfaßte. Ich nahm zur Kenntnis, die Doppelstelle war von einem Unbekannten für die nächsten fünfzehn Jahre bezahlt worden. Auf meine Frage, wer dieser Unbekannte sei, antwortet die junge Frau mit klarem Schweigen. Nach angemessener Pause sagte sie, ich könne also über das Nutzungsrecht im Sterbefall frei verfügen. Verpachten könne ich die Grabstelle allerdings nicht. Das Land gehöre der Kirche.

Angenommen den Fall, fragte ich, es gäbe doch eine Möglichkeit, die Grabstelle zu verpachten, wie hoch könnte der Pachtzins denn veranschlagt werden?

Ungerührt von der Frage, sah die Frau in einer Tabelle nach. Bei zwei Grabstellen betrüge der Mietszins für das Doppelgrab in zehn Jahren 12000 DM. Aber das ginge nicht. Das sei gegen alle Vorschriften und gegen die Friedhofsordnung dazu.

Besser als nichts. Wieviel wäre denn in etwa für den Grabstein zu bekommen?

Das falle nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Da müsse ein Steinmetz befragt werden.

Ich bedankte mich und verließ das Büro durch den Blumenladen. Vor seiner Tür lagen Kränze. Auch Wachsblumen waren zum Verkauf in den Schnee gesteckt.

Ich nahm den Hauptweg des Friedhofs und lief hinaus aus einem Ende, das hinter mir lag. Ich hatte den Ort aufgegeben, der auch mir gehörte in einer Zeit, die nun nicht stattfinden würde. Ich lief aus dieser Zeit, die meine nicht mehr werden konnte und stand auf der Auffahrtsstraße zur Stadtautobahn.

Wenn dies wirklich ein Ende war, über das ich hinausgegangen war, war ich eine Hinterbliebene. Vielleicht sollte ich mir aus Gründen der Pietät kondolieren. Ich hielt den Buchsbaumzweig fester in der Hand. Er stank. Ich hielt ihn trotzdem. Vielleicht sollte ich mir gratulieren, daß ich nun auf den Namen Agnes hörte.

 

Ich hatte einen Ursprung zu mir verlassen. Nicht verloren hatte ich ihn, wie ich befürchtete. Nein, verlassen. Ich stand auf der Straße und war nicht erstaunt, daß ich mit einer zuvor nie gekannten Bestimmtheit zu sagen wußte: Es ginge weiter nach solch einem Ende. Ich registrierte, daß ich nicht einmal irritiert war. Gleichgültigkeit, gegenüber einem eigentlich viel zu lange herausgezögerten Abschied, war das Erste, was sich an Gefühl einstellte. Nicht Trauer, sondern Erleichterung, war das zweite. Sie ging über in Gleichmut, wenn von Mut in diesem Zusammenhang überhaupt die Rede sein soll.

Ich hieß jetzt Agnes und war wieder frei. Wofür war unklar. Das änderte an dem Gefühl selbst nichts. Im Gegenteil, es verstärkte mein Wohlbefinden.

Ich machte mich auf den Weg zum Steinmetz. Abdrücke im Schneesand gab es auch hier nicht. Also brauchte ich keine Befürchtungen zu haben, daß Spuren sich abzeichnen konnten, die verrieten, von welchem Ende her ich nun auf mich zulief. Ein Zurück zum Ursprung blieb daher ausgeschlossen.

Beim Steinmetz angekommen, stöberte ich durch den Garten. Vor den gebrauchten, den abmontierten Grabsteinen blieb ich stehen. Sie waren aneinander gestellt worden. Ich las die Namen, las Geburts- und Sterbetage. Auf vielen Steinen lagen die Daten für den Tag des Todes weniger als zwanzig Jahre zurück.

Der Steinmetz kam. Er erkundigte sich nach meinen Wünschen. Ich trug ihm mein Anliegen vor.

Ohne das Objekt gesehen zu haben, könne er natürlich gar nichts über den Wert sagen. Aber wenn es sich wirklich um Marmor von schwarzer Schwalbe handele, meinte er, könne ich mit einer beträchtlichen Summe rechnen. Zumal, wenn der Bildhauer tatsächlich Vargas war und meine Großmutter nicht auf eine der unzähligen Fälschungen hereingefallen sei. Es gab doch gerade in jener Zeit den großen Vargasskandal. Ich registrierte erst jetzt, der Mann, der da vor mir stand, war an die siebzig Jahre alt. Wenn es ein echter Vargas sei, könne ich ihn sogar als Kulturgut dem hiesigen Museum anbieten. Gegen ein entsprechendes Entgelt würde er aber ein besseres Geschäft vermitteln. Wir vereinbarten einen Termin um den Grabstein zu besichtigen.

Langsam lief ich zum Wohnheim. Zeit hatte ich nicht zu verlieren. Ich hatte keine mehr. Und ich war erstaunt, mit welcher Gelassenheit ich diese Einsicht hinnahm. Ich war wieder frei. Solch ein Satz hört sich gedankenlos an. Aber für mich stimmte er. Ich hatte alles hinter mir gelassen. Insofern ist auch nichts Unredliches daran, wenn ich sage, daß ich meine eigene Hinterbliebene geworden war.

Falls der Stein ein Kulturgut ist, war es nur sinnvoll ihn zu verkaufen, dachte ich. Von dem Geld kann ich mir vielleicht eine Wohnung mieten. Ich muß Expertisen einholen, um zu erfahren, was der Grabstein wert ist.

Im Wohnheim stellte ich den Buchsbaumzweig ins Glas. Ich füllte es nicht mit Wasser. Der Zweig sollte nicht wachsen. Ich legte mich auf den Futon und sah wieder auf die Schritte vor dem Fenster. Ich meinte, den Geruch von Hundepisse wahrzunehmen, als ich die noch immer feuchte Stelle mit Schnee in der Fensterecke sah.

Abrupt stand ich auf. Der Grabstein muß geschätzt werden. Ich muß hier raus.

3

Als ich an der Grabstelle ankam, war der Steinmetz schon da. Er hantierte am Sockel des Grabsteins.

Die Schwierigkeit bleibt die Verschraubung. Am sichersten wäre, den ganzen Stein auszuheben, sagte er zur Begrüßung. Ich müsse ihm helfen. Allein schaffe er es auf keinen Fall. Die paar Meter von der Grabstelle zum Lieferwagen haben es in sich, meinte der Steinmetz.

Erst jetzt sah ich das Auto. Es stand quer zum Aufgang G. Mit Aufgang G begannen die Erdstellen für Familiengräber. Sie zogen sich hin bis Aufgang L. Der Motor des Lieferwagens lief. Die Laderampe war herruntergefahren. An ihre Enden rechts und links leuchten rot Blinklichter.

Der Gottesacker war glücklicherweise nicht tief gefroren. Der Steinmetz zeigte auf einen Erdbohrer. Er hatte ihn in den Boden des Gehweges gedreht. Er holte ihn heraus und hielt ihn mir vor die Nase.

Höchstens zehn Zentimeter.

Mit den Fingern wischte er die Erde ab, die oberhalb der zehn Zentimeter am Bohrer haften geblieben war.

Ich habe die Expertisen mitgebracht, sagte ich. Es ist ein echter Vargas.

Der Steinmetz winkte ab.

Das habe ich mit geschlossenen Augen gesehen. Dazu brauche ich keine Spezialisten. Laß mal stecken den Schriftkram. Am besten, vergiß ihn. Wenn wir den Stein hier heute loskriegen, hast du unverschämtes Glück. Ich habe einen Abnehmer. Bis 20 Uhr müssen wir geliefert haben. Das war die einzige Bedingung. Glaub mir, das ist ein gutes Geschäft. Du sparst den ganzen Krempel mit dem Amt für Deutsche Kulturgüter und die Erbschaftssteuer dazu.

Und wie bekommen wir den Stein von hier fort? Der Friedhof schließt gleich.

Ich habe vom Friedhofsverwalter die Schlüssel für die Ausfahrt zum Nordtor. Natürlich gegen ein Entgelt.

Und wenn der Stein in falsche Hände gerät? Welche Garantien bieten Sie? Schließlich ist das der Grabstein meiner Großmutter.

Ich habe einen Schuldschein vorbereitet, sagte der Steinmetz. Im Auto auf dem Sitz liegt er. Er war schon wieder am Graben.

Ich will ihn sehen.

Nachher.

Nein, jetzt. Ansonsten wird die Buddelei hier augenblicklich eingestellt.

Der Steinmetz ließ die Hacke fallen, ging zum Auto und gab mir einen Briefumschlag.

Ich las ihn laut.

Einverstanden! Unter einem Zusatz: Die Verwertungsrechte in Wort, Ton und Bild fallen an mich.

Ja, ja, sagte der Steinmetz, wenn wir dann endlich weitermachen können. Es ist gleich dunkel.

Ich schrieb mit einem Filzstift hellgrüner Phosphorfarbe den Satz über die publizistischen Verwertungsrechte am Grabstein auf den Schuldschein und bestand auf einer zweiten Unterschrift. Der Steinmetz gab sie ohne weiteren Kommentar. Dann buddelte er weiter.

Es war stockfinster, als der Stein endlich im Lieferwagen lag.

4

Der Schnee unter meinen Füßen knirschte. Wohin war ich entkommen mit mir?

Ich schlug mich durch zur Untergrundbahn. Auf der Rolltreppe blieb ich stehen. Ich lief nicht. Ich ließ mich rollen auf den Stufen, abwärts in den öffentlichen Schacht, der Tunnel geworden war. Das Licht war nicht schmutzig hier unten. Es war matt.

An einer Auffahrt zur Untergrundbahn wohnen, könnte mir gefallen: Zu jeder Zeit sehen, ob die ankommende Bahn ihren Weg nach oben oder nach unten nimmt. Bei Tag und bei Nacht wissen, ob der vorbeirollende Zug hinauf- oder hinunterfährt. Durch einen Blick aus dem Fenster im dritten oder vierten Stock des Hauses eine Gewißheit erlangen. Beide Richtungen im Blick haben können. Sich niederlassen an der Einfahrt zum Tunnel und damit an seiner Ausfahrt. An solch einem Schnittpunkt wohnen, ja das wäre gut. Ich wüßte Bescheid zu jeglicher Zeit: wenn es nicht aufwärts ginge, ginge es hinab. Das wäre eine Möglichkeit, jedenfalls für mich. In der Gewißheit leben, diesen einen Punkt zu kennen, an dem die Untergrundbahn zur Hochbahn und die Hochbahn zur Untergrundbahn werden kann. Aus dem Fenster im dritten oder im vierten Stock sehen können, wo lang es ginge. Ja, das wäre ein Ort für mich und darüber hinaus ein einzigartiges „Programm“. Ein Programm, das den herkömmlichen „Programmen“ schon von der Perspektive her überlegen wäre: Ich sähe hinaus und nicht hinein ins Fenster. Und wenn ich hinaus sähe aus dem Fenster, sähe ich ein Geschehen, das überprüfbar ist zu jeder Zeit. Sehe ich hingegen hinein ins Fenster, ist das Geschehen am Bildschirm schon lange nicht mehr zu überblicken, jedenfalls für mich, obwohl ich die Größe der Fenster mit Hilfe des Cursors selbst bestimmen kann.

Ich stolperte. Das Band war zu Ende. Die Rolltreppe verschwand im Boden. Ich heiße Agnes, versicherte ich mir und ging auf den Bahnsteig zu.

Eine U-Bahn verließ den Bahnhof. Eine andere fuhr nicht ein. Noch konnte ich die Richtung nicht wechseln. Ich hatte keine. Ich sah auf die Gleise. Ich nahm nicht die erste Bahn, auch nicht die zweite. Ich nahm die dritte Bahn.

Im Tunnel Notlichter, das sind Glühbirnen hinter Gittern. Die Mitte des Tunnels durch weit auseinander stehende Stahlträger nur markiert. Die eigentliche Grenze der entgegenkommende Zug.

Die Grenze daher fließend und nur von Zeit zu Zeit angezeigt. Ihre Beständigkeit abhängig von der Zugfolge, die im Berufsverkehr am höchstens ist. Ihre Dichte bestimmt durch die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Zuges. Verdoppelung der Fahrtgeschwindigkeit am Fenster das äußerste Maß, sowohl für die Mitte als auch für die Grenze. Aneinander Vorbeikommen ihr Bestand.

Aneinander Vorbeikommen! Wenn sich eine Richtung abzeichnen lassen wird für mich, wird sie in diesem Aneinander-Vorbei bestehen. Das eine im anderen also nicht berühren und dabei so tun, als ob es weiterginge. Dann geht es nämlich immer so fort. Wenn nicht hier, dann dort, wo es ein Zurück nicht gibt. Sich annehmen und in der Endlosigkeit selbst eine Chance, also einen Anfang sehen.

5

Ich hatte unbeschreiblichen Hunger auf eine Currywurst mit braunem Senf. Ich fuhr zur „Stadtmitte“, wo die Currywurst mit Senf am besten schmeckt. Das war ein übersichtliches Ziel, erreichbar auf dem Schienenweg. Ich mußte nicht einmal den Tunnel wechseln.

Das Geld vom Grabstein sollte angelegt werden, dachte ich. Am günstigsten sind zur Zeit Investmentfonds. Der Vorteil eines Investmentfonds besteht darin, daß das Geld täglich verfügbar bleibt. Ich muß schnell heran können an das Geld. Also chancen-orientierte Anlagen, stand in dem Prospekt der Bank.

Eine vom Computer simulierte Frauenstimme, kündigte den Umsteigebahnhof „Stadtmitte“ an. Elektronisch modulierte Sprach-Freundlichkeit wies auf die Möglichkeiten des Umstiegs zu den Linien hin, die diese Mitte hier kreuzten. Ich begab mich wieder auf die Rolltreppe. Sie endete an der Unterführung, die diese zwei Untergrundlinien miteinander verband. Ich mußte weiter aus eigener Kraft.

Der Stand, an dem es Currywurst mit scharfem Senf gab, befand sich am Aufgang zur Linie D. Der Weg dorthin beinahe ein Kilometer lang. Die Unterführung überfüllt von Menschen auch nach Mitternacht. Voll von Leuten, für die Draußen hier ein Drinnen geworden war. Die Wände sprachen davon. Sie waren voller Bilder, die ein Obdach gefunden hatten, denn dieser Tunnel blieb als Ort beständig. Künstler hatten es schnell begriffen und sich zu Underground-Gruppen zusammengefunden. Konzentriert zeichneten sie ihre Ansichten in Öl, in Tusche, in Aquarell. Immer neue Mischtechniken wurden an den Wänden ausprobiert. Bis auf Graffiti war alles erlaubt, was nach GRUND in dieser Unterführung suchte. Die Wände hier waren als Chance, nicht als Hindernis angenommen worden. Begrenzung als Möglichkeit, die Geborgenheit versprach. Ja, das machte den Charme dieser Unterführung aus. Einige boten gleich ihr Lebenswerk zu erheblichem Rabatt an.

Die Objektkünstler beeindruckten mich auch diesmal am stärksten. Stellten ihre Installationen den zur Verfügung stehenden Ort doch auch wieder in Frage. Füllten ihre Gegenstände den Raum mit einer so immensen Spannkraft von oben nach unten und von unten nach oben, daß sie auf seine Grenzen wiesen. Die Frage, ob und wie es weiterginge, wenn die Installation „Erde in Grün“ aus den Schutzraum nach oben durchbräche, drängte sich hartnäckig auf, je länger ich vor ihr stand.

Da jeder Künstler hier unten seine Chance aufs neue bekommen sollte, wurden die Tunnelwände von Zeit zu Zeit mit weißer Farbe überstrichen. Das Prinzip der Chancengleichheit war für die Gemeinde in dieser Unterführung ein unumstößliches Prinzip und wurde mit rituellem Ernst gehandhabt.

Die Currywurst schmeckte vorzüglich. Ich holte gleich noch zwei. Wortlos schlang ich sie in mich hinein. Mir tränten die Augen von dem braunen Senf.

Die Grabstelle läßt sich schwarz verpachten, dachte ich und konnte mich gegen den Gedanken nicht wehren.

Es gibt Makler für solche Immobilien. Wenn das Doppelgrab für zehn oder gar für fünfzehn Jahre vergeben werden könnte, wäre ein guter Preis drin. Zwei Erdstellen in bester Friedhofsgegend. Mittelgang, Blick auf die Kapelle. Verkehrsgünstig liegt der Friedhof auch. War doch erst vor einigen Jahren ein Teil des Gottesackers an die Stadt verkauft worden, weil sich der Bau einer Umgehungsstraße für das Stadtzentrum nicht länger hinauszögern ließ.

 

Gedankenversunken schnipste ich den Plastikteller in den Abfalleimer und behielt das papieren helle Geräusch seines Aufpralls im Ohr. Es ging über in Klangfetzen, die ich schon zum dritten oder vierten Mal hörte, obwohl ich mich wehrte, sie hören zu wollen. Ich wollte nie wieder Opfer meiner Halluzinationen werden. Ich hatte mich nicht hinter mir gelassen, damit ich in diesem Tunnel hier Tonfolgen aus einer Zeit zu hören bekam, aus der ich auf so umständliche Weise herausgetreten war.

Ich versuchte mir, durch Konzentration auf das Geschehen an diesem Ort, zu verbieten, was ich hörte. Eine elektronische Orgel spielte das Thema des adagio, das zuletzt in New York so unerwartet auf mich zugekommen war.

Ich blieb stehen und hielt mir die Ohren zu. Das änderte nichts daran, daß eine Hammond-Orgel schon die zweite Variation auf das adagio in langsamen Halbtonschritten aufsteigen ließ, um in plötzlichem Tempowechsel schneller immer schneller zu werden. Der abrupte Wechsel des Tempos und die sich noch immer beschleunigende Variation, brachte ein Vibrieren in mich. Ich hatte Mühe, vor erhabener Rührung nicht loszuheulen. Rührung, von der unklar war, wem und was sie galt.

Wie sehr haßte ich Liederlichkeiten in Gefühlssachen. Verabscheute diffuse Trauer und deren unberechenbaren Umschlag in Selbstmitleid. Lebenslänglich bin ich mit ungeheuerlicher Kraft und Härte gegen jegliche Sentimentalität in mir angegangen. Sollten die Anstrengungen aus all den Jahren ihr Ende darin gefunden haben, daß ich in dieser Unterführung vor einem Abfalleimer voll von fettigen Papptellern mit all den Sentimentalitäten konfrontiert wurde? Sollte meine Arroganz, diffuse Gefühle durch Willensstärke niedergehalten zu haben, hier an diesem Imbißstand widerlegt werden? Dem einzigen Stand im gesamten Netz der Untergrundbahn, an dem es die Currywurst mit scharfem Senf gab. War ich in diese Unterführung geraten, damit ich mit meiner Selbstüberhebung vor einem weißen Plastiktisch konfrontiert werden konnte. Sollte meine Überstiegenheit ausgerechnet an dem Wurststand zum Aufgang D auf den banalen Punkt zurückgeführt werden, daß auch mein Hunger gestillt werden konnte, und zwar durch Currywürste mit braunem Senf?

Ich versuchte durch Konzentration, die eigene Schwäche wegzudrücken. Versuchte auf Druck mit Gegendruck zu reagieren. Aber meine Kraft reichte nicht. Ich heulte los. Die Orgel setzte aus. Ich flennte weiter. Es tat mir gut. Und trotzdem. Mit Halluzinationen wollte ich nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben. Sie gehörten mir nicht mehr. Gehörten nicht hier her. Ich preßte die Hände fest gegen die Ohren. Für einen Augenblick war Ruhe. Nachdem durch zu starkes Pressen auf das Trommelfell in den Ohren schließlich allerlei Geräusche entstanden waren, gab ich sie wieder frei. Ich hörte die elektronische Orgel deutlicher als vorher. Ich ging der Melodie nach. Ich wollte sicher sein, daß mir meine Ohren nach all dem Ende nicht schon wieder einen Streich spielten. Ich lief mit geschlossenen Augen auf das Gehörte zu. Als ich sicher war, daß ich der Melodie zum Berühren nahe war, öffnete ich die Augen. Vor mir saß Moses Grossman und spielte auf einer Hammond-Orgel.

Das Gehör war also auch geblieben. Moses Grossman nickte und brach die Variation ab. Er blies in seine Hände und spielte Tonleitern mit einer Fingerfertigkeit, aus der auf Anhieb klar wurde, daß er ein Profi war. Seine Technik und der Anschlag verrieten es. Die akustische Abstimmung der Orgel auf den Ort hier unten konnte nur einem Berufsmusiker mit solcher Präzision gelingen. Die nach oben aufeinander zulaufenden Wände, die der Deckenwölbung das Aussehen eines Spitzdachs gaben, akustisch so auszugleichen, daß kein Hall entstand, bedurfte jahrelanger Spielerfahrung in unterschiedlichsten Sälen.

Moses Grossman spielte die Tonleitern immer schneller. Erst jetzt sah ich, rechts neben der Orgel lag seine Joggingmütze, mit Kleingeld, da zwischen auch Scheine. Moses Grossman steigerte das Tempo der aufsteigenden Tonleitern noch immer. Unerwartet brach er das Spiel ab, stand auf und bedankte sich beim Publikum, das um die Orgel stehengeblieben war. Er verbeugte sich nach allen Seiten und nahm schließlich seine Joggingmütze auf. Das Geld steckte er zufrieden in die Hosentasche.

Das Publikum zerstreute sich. Ich blieb.