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7. Kapitel

Niklas wirkte reichlich blass um die Nase, als Thamsen und Haie wenige Minuten später bei dessen Freund eintrafen. Und auch Ole sah mitgenommen aus, obwohl er die Leiche nicht gesehen hatte, wie er aussagte. Aber Niklas’ derzeitiger Zustand und allein die Vorstellung eines toten Menschen setzten ihm zu.

Oles Mutter hatte die Jungs zu beruhigen versucht und ihnen Kakao gekocht, den die beiden jedoch nicht angerührt hatten.

»Vielleicht fahren Sie mit Niklas besser zu einem Arzt«, riet sie, als Thamsen den Jungen auf den Arm nahm und dieser sich an ihn klammerte.

Er nickte, wusste aber, dass das Beste für Niklas wahrscheinlich erst einmal sein gewohntes Umfeld und Haies liebevolle Fürsorge sein würden. Daher trug er den Jungen ins Auto und fuhr die beiden nach Hause.

»Ruf an, falls was ist«, sagte er zu Haie, als er das Haus des Freundes verließ. Sie hatten Niklas auf sein Bett gelegt und zugedeckt, da der Junge am ganzen Körper gezittert hatte. Haie hatte sofort einen Tee gekocht. Da aus Niklas kein Wort herauszubekommen war, hatte Thamsen beschlossen, ihn erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen, und war aufgebrochen. Im Auto musste er sich einen Moment sammeln, dann rief er Ansgar an.

»Ich könnte zu den Angehörigen fahren, haben wir da Kontaktdaten?«

»Oh«, gab Rolfs zu, »das habe ich bisher nicht ermittelt. Es dauert hier doch länger als erwartet«, entschuldigte er sich.

»Gut, dann fahre ich selbst in die Dienststelle und schaue, was ich herausfinden kann. Haben die Kollegen denn schon was?«

»Na ja, ein paar Fußabdrücke, aber die können im Grunde genommen von jedem stammen, wer weiß, wie lange das Haus schon unbewohnt ist und wie viele Leute hier vielleicht durchgestromert sind.«

»Das Haus steht sicher schon einige Jahre leer.«

»Siehst du. Da hat sich bestimmt der eine oder andere mal im Haus umgesehen. Die Kinder sind das beste Beispiel.«

»Trotzdem müssten ja Abdrücke vom Täter dabei sein«, beharrte Thamsen. Sie brauchten einen Ermittlungsansatz, und das möglichst schnell.

»Die Kollegen arbeiten dran«, entgegnete Ansgar und legte auf.

Zurück im Büro überlegte Thamsen zunächst, was er zuerst erledigen sollte. Vor ihm lag eine Menge Arbeit, daher entschied er sich dafür, seine neue Mitarbeiterin hinzuzuziehen. Schließlich hatte man Bianca Neumann zu seiner Unterstützung eingestellt. Lange hatte Dirk für eine Sekretärin gekämpft.

Die junge Frau saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm ihres Computers. Er sah, dass sie schnell etwas wegklickte, als er näher trat. Wahrscheinlich surfte sie im Internet, war vermutlich nicht ausgelastet. Das konnte er schnell ändern.

»Wir haben einen Leichenfund.«

»Ahm.« Mit großen Augen blickte Bianca Neumann ihn an.

»Können Sie mir bitte alle relevanten Informationen zu Tatjana Lieberknecht heraussuchen? Als Erstes brauche ich den Namen und Wohnort der Familienangehörigen, die müssen über den Tod der Frau informiert werden.«

»Und das soll ich machen?« Biancas Stimme klang schrill.

»Nein, das ist Chefsache. Ich brauche nur die Adressen.« Thamsen wurde klar, dass er sich stärker um die Einarbeitung der Mitarbeiterin kümmern musste. Bisher hatte er sich wenig mit ihr beschäftigt.

»Okay, mache ich«, entgegnete Bianca Neumann und blickte ihn an. Er nickte und ging zurück in sein Büro.

Während sie die Informationen raussuchte, konnte er in Husum anrufen, beschloss er. Ewig durfte er das schließlich nicht herauszögern. Er wählte die Nummer der Kripo in Husum und kurz darauf stellte ihm Lorenz Meister die altbekannte Frage in derlei Fällen: »Seid ihr euch sicher, dass es sich um einen Mord handelt?«

Thamsen musste seine Wut herunterwürgen, dann erklärte er, was sie bisher wussten. »Das Haus steht schon eine Weile leer und so wie es aussieht, ist das Opfer dort festgehalten worden.«

»Aha.«

»Sie wurde schon seit ein paar Tagen vermisst.«

»Vermisst?«, horchte Meister auf. »Gab es eine Anzeige?«

»Nicht direkt.«

»Was heißt das?«

»Nun, einem Nachbarn ist aufgefallen, dass ihr Haus unbewohnt wirkte, und auf der Arbeit ist sie auch nicht erschienen.«

»Hm, ist es möglich, dass sie sich in dem Haus versteckt gehalten hat?«

»Na ja, es sieht nicht …«

»Gut«, fiel Meister ihm ins Wort, »untersucht das erst mal gründlich und dann schauen wir weiter.« Ohne eine Verabschiedung legte Lorenz Meister auf.

»Das ist ja wohl …«, schimpfte Thamsen und knallte den Hörer auf, als Bianca Neumann in sein Büro trat und ihn erschrocken anblickte.

»Störe ich?«

»Nein«, seufzte Dirk und winkte sie zu sich an den Schreibtisch. Er hatte im Prinzip bereits vor dem Anruf geahnt, dass die Arbeit an ihnen hängen bleiben würde. Lohnte es sich überhaupt, sich aufzuregen?

»Was haben Sie denn herausgefunden?«

»Nicht viel«, gab Bianca zu. »Es gibt eine Familie Lieberknecht in Bredstedt. Das scheinen die Eltern zu sein.« Sie schob ihm einen Zettel mit der Adresse über den Schreibtisch zu.

Trauerbotschaften zu überbringen, gehörte nicht gerade zu Thamsens Lieblingsaufgaben, und so gerne er diesen unliebsamen Besuch auch jemand anderem überlassen hätte, es führte kein Weg daran vorbei. Die Angehörigen mussten informiert werden, und oftmals ergaben sich bei diesen Besuchen erste Ermittlungsansätze.

Er erhob sich stöhnend und griff nach dem Zettel mit den Daten. »Ich bin dann mal weg«, sagte er und verließ das Büro.

»Schau mal, ich habe dir einen Kakao gemacht«, sagte Haie, als er Niklas’ Zimmer betrat. Niklas lag nach wie vor apathisch auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er setzte sich auf die Bettkante, stellte den dampfenden Becher auf dem Nachttisch ab und strich Niklas vorsichtig über den Kopf. Daraufhin drehte er sich zu ihm.

»Die Frau war tot«, flüsterte der Junge.

»Ich weiß.«

Haie wusste, was Niklas gerade durchmachte. Er kannte das Gefühl, das man empfand, wenn man zum ersten Mal eine Leiche gesehen hatte. Die Bilder von Haies erstem Toten hatten ihn tage- und nächtelang verfolgt. Wie konnte er Niklas bloß helfen?

»Was habt ihr denn in dem Haus gesucht?«

Niklas zuckte mit den Schultern. »Ole hat gesagt, dass es dort spukt. Aber Geister gibt es doch nicht, oder?«

Haie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nur so ein Gerede der Leute.«

»Ja, aber was passiert denn mit einem, wenn man stirbt?«

Das war eine Frage, auf die Haie grundsätzlich auch keine Antwort wusste. Er hatte dem Jungen immer erzählt, dass seine Mutter im Himmel wohnte. Aber ob das stimmte? War das nicht nur eine Wunschvorstellung? Mit der man sich trösten konnte, weil es den geliebten Menschen nicht mehr gab? Weil er weg war. Für immer. Wer wusste das schon?

»Tatjana ist jetzt bestimmt im Himmel.«

Niklas nickte. »Aber warum?«

Noch so eine Frage, dachte Haie. Wobei, im Grunde genommen musste die Antwort lauten, dass jemand Tatjana umgebracht hatte, aber das konnte er Niklas nicht sagen. Und an Gott glaubten sie nicht wirklich. Jedenfalls waren weder er noch Tom besonders religiös, und daher war auch Niklas nicht in dieser Weise aufgezogen. Was also sollte er sagen?

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber Onkel Dirk wird das herausfinden.«

»Bestimmt?« Niklas schaute ihn mit großen Augen an.

»Bestimmt«, nickte Haie. »Und ich helfe ihm dabei.«

8. Kapitel

Thamsen hatte noch keinen Anhaltspunkt, warum Tatjana Lieberknecht tot in diesem Haus gelegen hatte. Wer hatte die Frau dort hingebracht? Oder war sie freiwillig zu dem Haus gekommen? Hatte jemand sie hingelockt?

Er ging davon aus, dass sie ermordet worden war, und erwartete diesbezüglich keine Überraschung durch die Obduktion, wohl aber neue Erkenntnisse.

Die Husumer würden sich in die Ermittlungen – Kapitalverbrechen hin oder her – nicht sonderlich einbringen, daher brauchte er Hinweise, um den Fall aufzuklären. Er wollte keinen ungeklärten Mordfall in seinem Bereich. Er wollte die Welt ein Stück weit sicherer machen, deshalb war er Polizist geworden.

Oftmals kam der Täter aus dem näheren Umfeld des Opfers, daher war die Benachrichtigung der Angehörigen enorm wichtig, um sich einen Eindruck über die Verhältnisse des Opfers zu machen. Erschwerend in diesem Fall kam jedoch hinzu, dass Tatjana Lieberknecht erwachsen war und nicht mehr zu Hause wohnte. Hatten die Eltern ihre Tochter öfter in Niebüll besucht? Kannten sie ihr Umfeld, ihre Freunde? Was wussten die Eltern von der Tochter? Das galt es nun herauszufinden. Er hoffte, dass sie ihm mehr Informationen liefern konnten als Haie. Obwohl dieser Tür an Tür mit der Frau gewohnt hatte und seine Nase stets in fremde Angelegenheiten steckte, konnte er ihm kaum Nützliches liefern.

Thamsen fuhr auf der B 5 Richtung Bredstedt und fühlte sich plötzlich unendlich müde. Wobei müde nicht direkt den Zustand traf, in dem er sich befand. Es war eher so etwas wie Hilflosigkeit und ein Erschrecken darüber, dass in seiner Heimatstadt schon wieder ein Verbrechen passiert war, dass in solch einer friedlichen Gegend jemand einen grausamen Tod gefunden hatte. Wie der Schein trügen konnte. Die weite Landschaft, die so idyllisch wirkte, der hohe Himmel, der endlos schien, die friedlich grasenden Schafe, im Hintergrund die stetig rotierenden Windräder – all das konnte ihn in diesem Moment nicht von dem Gedanken ablenken, dass ein Mensch einem anderen das Leben genommen hatte. Und zwar nicht irgendwo in New York oder Kapstadt, sondern nur wenige Kilometer entfernt von dem Ort, an dem er mit seiner Familie lebte.

 

Er hielt vor einem kleinen Einfamilienhaus am Rande der nordfriesischen Kleinstadt und starrte zur Eingangstür hinüber. Was sollte er sagen? Worte zu finden für solch eine grausame Nachricht, fiel sicherlich jedem schwer, aber ihm ganz besonders. Er war einfach nicht gut in solchen Dingen – noch nie gewesen – und doch wusste er, wie enorm wichtig dieser Besuch war. Für alle Beteiligten.

Er stieg aus und ging langsam auf den Eingang zu. Das Haus wirkte sehr gepflegt, obwohl es der Bauart nach zu urteilen aus den Fünfziger-, vielleicht Sechzigerjahren stammte. Er mochte diese Art von Häusern, war selbst in einem ähnlichen groß geworden. Seine Mutter hatte, bis sie vor Kurzem in eine betreute Wohnanlage gezogen war, noch in seinem Elternhaus gewohnt. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, das Haus zu verkaufen, obwohl klar war, dass sie nicht zurückziehen würde können. Und für Dörte, ihn und die Kinder war es zu klein, zu beengt. Trotzdem hatte er es zunächst vermietet, bis er sich eines Tages davon würde ganz lösen können.

Thamsen holte tief Luft, ehe er den Klingelknopf neben dem Namensschild mit dem Schriftzug »Lieberknecht« drückte.

Zunächst tat sich nichts, dann hörte er Schritte und kurz darauf öffnete eine ältere Frau mit zerzausten Haaren die Tür.

»Frau Lieberknecht?«, erkundigte er sich zunächst.

»Ja?« Sie blinzelte ihn aus schmalen Augen an.

»Mein Name ist Dirk Thamsen von der Polizei Niebüll.«

»Polizei?« Augenblicklich huschte ein Schatten über ihr Gesicht.

»Frau Lieberknecht, ich habe Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihre Tochter wurde heute …«

»Oh nein«, schluchzte sie auf und geriet ins Wanken. Thamsen trat schnell neben die Frau und stützte sie. Er bemerkte, wie sie zu zittern begann.

»Kommen Sie«, sagte er und führte sie am Arm ins Haus.

Im Flur verschaffte er sich kurz einen Überblick. Das Haus war ähnlich angelegt wie sein Elternhaus. Er führte Frau Lieberknecht in die Küche, wo er sie auf einen Stuhl bugsierte. Aus einem Küchenschrank nahm er ein Glas und füllte Wasser hinein.

»Trinken Sie einen Schluck«, forderte er sie mit einem Kopfnicken auf.

Frau Lieberknecht klammerte sich an das Glas, während sie gierig trank, als könne sie die schlechte Botschaft so hinunterspülen. Dirk beobachtete die Frau, die sich langsam etwas beruhigte.

»Sind Sie allein zu Hause?«

»Ja.« Ihre Antwort war nur ein Flüstern.

»Soll ich jemanden anrufen für Sie? Kann jemand kommen?«

»Meinen Sohn vielleicht? Seine Nummer steht in dem kleinen roten Buch, das neben dem Telefon im Flur liegt.«

Er warf ihr einen letzten Blick zu, ehe er sich umdrehte und zum Telefon ging. Schnell hatte er in dem abgegriffenen Notizheft die Nummer gefunden. Der Vorwahl nach lebte der Sohn in Flensburg. Er tippte die Nummer auf seinem Handy ein.

»Hallo?«, meldete sich wenig später ein Mann.

»Thamsen, guten Tag, spreche ich mit Herrn Lieberknecht?«

»Ja, wieso?«

»Ich bin hier bei Ihrer Mutter, und es wäre gut, wenn Sie zu ihr kommen könnten. Ist das möglich?«

»Ist was passiert? Geht es ihr gut?«

»Nun«, druckste Thamsen herum. Am Telefon fiel es ihm noch schwerer, die Trauerbotschaft zu überbringen. »Es geht, also, wir haben Ihre Schwester heute tot aufgefunden.«

»Was, aber wie …« Die Stimme am anderen Ende der Leitung brach ab.

»Wir ermitteln natürlich, aber momentan sieht es so aus, dass wir es im Fall Ihrer Schwester mit einem Kapitalverbrechen zu tun haben.«

»Mord?«

Thamsen nickte, obwohl ihm bewusst war, dass sein Gesprächspartner ihn nicht sehen konnte. »Haben Sie eine Vermutung, wer Ihrer Schwester das angetan haben könnte?«

»Tatjana? Nein, wer sollte ihr etwas antun wollen? Sie ist überall sehr beliebt, jeder mag sie.«

»Wie eng ist denn Ihr Kontakt?« Thamsen wusste, dass ein gutes Geschwisterverhältnis nicht selbstverständlich war.

»Wir verstehen uns gut – klar, wir sehen uns nicht oft, aber wir telefonieren regelmäßig.«

Dirk überlegte. So regelmäßig konnten die Telefonate nicht stattgefunden haben. Tatjana war über mehrere Tage nicht erreichbar gewesen. War dem Bruder das nicht aufgefallen?

»Können Sie denn zu Ihrer Mutter kommen? Es wäre gut, wenn sie jetzt nicht alleine wäre.«

»Selbstverständlich, aber es dauert einen Moment. Vielleicht kann eine Nachbarin so lange …?«

Besonders eilig hatte es der Sohn also nicht. Die Fahrt von Flensburg hierher dauerte keine Stunde. »Ich höre mich um«, entgegnete Thamsen und legte auf.

9. Kapitel

»Das ist schrecklich«, ließ eine schrille Frauenstimme vernehmen, als Haie am frühen Abend den Supermarkt im Dorf betrat.

Natürlich hatte sich der Leichenfund im Dorf inzwischen herumgesprochen. Das war nicht verwunderlich. Und natürlich waren die Leute erschrocken über die Geschehnisse, was sie allerdings nicht davon abhielt, sich haarsträubende Erklärungen auszudenken.

Beim Obststand wurde Haie Zeuge, wie ein Mann Meta Lorenz tatsächlich weismachen wollte, dass der Geist aus dem verlassenen Haus in Deezbüll Tatjana Lieberknecht umgebracht hatte. Haie hätte laut auflachen können, wenn die Angelegenheit nicht so ernst gewesen wäre.

Interessanter fand er da schon die Unterhaltung an der Wursttheke, denn da arbeitete eine relativ junge Frau, die zumindest vom Alter her Tatjana nahegestanden haben könnte. Aber auch sie schien nicht wirklich etwas zu wissen.

»Ich glaube, die hat sich oft mit irgendwelchen Kerlen eingelassen. Dann muss man sich nicht wundern, wenn das eines Tages so kommt.«

Haie hasste solche Phrasen. Zum einen stimmte es nicht, dass Tatjana ständig irgendwelche Kerle angeschleppt hatte – das hätte er mitbekommen –, und zum anderen: Warum sollte man sich nicht wundern, dass jemand umgebracht wurde, weil er oder sie wechselnde Partnerschaften pflegte?

Trotzdem lächelte er die junge Verkäuferin an und fragte sie, ob sie regelmäßig in die Dorfdisco gehe und vielleicht etwas beobachtet habe. Denn so wie es schien, war Tatjana dort das letzte Mal lebend gesehen worden.

Doch die junge Frau zog nur die Augenbrauen in die Höhe. »Sehe ich so aus, als wenn ich zu so ’ner Deppendisco gehe?«

Mehrere Köpfe schnellten herum und auch Helene warf der Mitarbeiterin einen bösen Blick zu. Es war eines, so etwas zu denken, wenn man nicht von hier kam, aber das laut vor den Leuten – vor der Kundschaft – auszusprechen, ging gar nicht. Daher drängte sich die Kaufmannsfrau hinter den Fleischtresen und schubste die junge Frau zur Seite. »Mach mal Pause.«

Natürlich war die Intervention von Helene nicht ganz uneigennützig, das wusste Haie, denn vor allem von ihm, dem Nachbarn der Toten und dem Freund des ermittelnden Kommissars, erhoffte sie sich sicher exklusive Informationen für ihren Dorfklatsch.

»Ich habe gehört, dass Niklas die Tatjana gefunden hat. Wie geht es ihm denn?«, fragte sie.

»Och«, Haie zuckte mit den Schultern, »war schon ein Schock für ihn.«

»Das kann ich mir vorstellen. War sie denn arg entstellt?«

Es war klar, dass es ihr nicht um Niklas ging. Sie brauchte Details, damit sie neuen Klatsch verbreiten konnte. Voyeurismus war weit verbreitet und Helene tat ihr Bestes, um die Bedürfnisse ihrer Kundschaft auch in diesem Punkt zu befriedigen.

»Niklas sagt nichts. Muss der Schock sein«, redete Haie sich raus.

»Und die Polizei?«

»Ermittelt wohl, aber da muss man ja erst die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten. Ohne Obduktion und so kann man eh nicht viel sagen.« Haie gab sich fachmännisch. Helene hingegen unbeeindruckt. Sie startete einen letzten Versuch.

»Habe gehört, dass du in der Disco warst. Hast du denn Tatjana da getroffen?«

Haie schoss das Blut in die Wangen, zumal sich gerade in diesem Moment seine Exfrau Elke neben ihn an die Fleischtheke stellte. Dass sich in diesem Dorf aber auch immer alles so schnell herumsprechen musste. Nichts blieb unentdeckt. Er schüttelte lediglich den Kopf und wies mit dem Finger auf die Theke. »Zweihundert Gramm von der Gesichterwurst.«

»Ist Niklas nicht bald ein bisschen zu alt für solch einen Kinderkram?«, fragte Elke und lächelte Haie von der Seite an.

Dem wurde es im Laden nun langsam zu eng. Er tat, als hätte er Elkes Frage überhört, schnappte sich die Tüte mit der Wurst und eilte weiter. Nach und nach legte er die restlichen Dinge, die auf seiner Liste standen, in den Einkaufswagen und ging zur Kasse.

Dort traf er natürlich wieder auf Helene. Doch diese hatte nun erkannt, dass aus Haie nichts weiter von Belang herauszubekommen war. Sie kassierte ab, und noch während Haie die Einkäufe in seiner Tüte verstaute, wandte sie sich Meta Lorenz zu.

»Na, hest all hört?«

Die kleine, gebückte Frau nickte. »Wer so was wohl nur macht?«

»Tja, das wird sich bestimmt bald rausstellen. Heutzutage hat die Polizei ja eine Menge Möglichkeiten. Speicheltest und so«, prahlte Helene mit ihrem nicht vorhandenen Fachwissen.

»Wieso, ist die Frau denn …?«, fragte auch sogleich die Kundin, die hinter Meta Lorenz in der Schlange stand.

Helene nickte, was Haie aus dem Augenwinkel sah. Oje, dachte er, der Fall heizte ganz schön die Gerüchteküche an. Schon immer hatte Helene Gefallen am Tratsch gefunden, und wenn sie mal etwas nicht wusste, weil es aus niemandem herauszuquetschen war, dachte sie sich einfach etwas aus.

Dirk hatte eine Nachbarin gebeten, bei Tatjana Lieberknechts Mutter zu bleiben, bis der Sohn eintraf. Die Mutter war zu geschockt über den Tod ihrer Tochter. Eine Befragung wäre momentan sinnlos, daher wollte er zurück in die Dienststelle fahren und die Familie später noch einmal aufsuchen.

»Der Sohn soll sich bei mir melden, wenn er ankommt«, trug er der Nachbarin auf, reichte ihr seine Visitenkarte und verließ das Haus.

Auf dem Weg zurück nach Niebüll gingen Dirk eine Menge Gedanken durch den Kopf: Hatte jemand Tatjana Lieberknecht entführt und sie in dem verlassenen Haus festgehalten? Und wie war sie gestorben? War sie wirklich verdurstet?

Es musste jemand aus der Gegend gewesen sein, das stand für ihn fest. Wer sonst konnte wissen, dass das Haus leer stand, dass so gut wie nie jemand dort hinkam? Oder hatte der oder die Täterin es darauf angelegt, dass man Tatjana Lieberknecht fand? Aber warum? Das ergab keinen Sinn.

Sein Handy klingelte und er nahm das Gespräch in der Hoffnung auf neue Ergebnisse an.

»Dirk, wo bleibst du?« Es war Dörte.

»Wieso?«

»Jetzt sag bloß nicht, du hast den Termin vergessen.« Siedend heiß fiel Thamsen ein, dass er Dörte versprochen hatte, zu einer Aufführung von Lottas Ballettgruppe mitzugehen, die heute stattfand.

»Oh, Schatz, ja, also …«

»Komm mir jetzt nicht mit ›ihr habt einen Leichenfund‹«, entgegnete Dörte spitz.

Thamsen schluckte. »Doch.«

»Was? Das ist ein Scherz«, schnaubte Dörte.

Dirk konnte ihren Ärger verstehen, aber seine Arbeit ging in diesem Fall nun einmal vor. Leid tat ihm Lotta, die sicherlich enttäuscht sein würde, aber er konnte schließlich nichts dafür. Er versprach, es Lotta später selbst zu erklären, und legte auf, als er auf dem Parkplatz der Dienststelle in Niebüll angekommen war. Er seufzte und stieg aus.

Ansgar war mittlerweile vom Fundort zurück im Büro.

»Und, haben die Kollegen etwas gefunden, was uns weiterbringt?«, fragte Thamsen sofort.

»Wir müssen abwarten. Es gab eine Menge Spuren, aber das wird dauern, die auszuwerten. Außerdem ist fraglich, was uns dann zu dem Täter führen kann. Denn wie es aussieht, waren mehrere Leute in dem Haus, nicht nur die beiden Jungs«, stöhnte Ansgar, der wie Thamsen wusste, wie wichtig jetzt Ermittlungsansätze waren. »Und bei dir?«

Dirk berichtete von seinem Besuch bei den Angehörigen. »Die Mutter ist nicht ansprechbar. Steht unter Schock. Ich habe den Bruder der Toten verständigt, der kommt aus Flensburg.«

»Gut«, nickte Rolfs und schaute Thamsen nach wie vor erwartungsvoll an. Doch das war alles, was Thamsen beisteuern konnte, auch wenn er gern mehr Ergebnisse liefern würde.

»Ich denke, uns bleibt vorläufig nichts Weiteres übrig, als abzuwarten«, entgegnete Dirk daher. »Lass uns für neun Uhr morgen ein Meeting ansetzen, dann haben wir vielleicht die Ergebnisse der Obduktion.«

Nachdem Haie den Sparmarkt geradezu fluchtartig verlassen hatte, war er nach Lindholm geradelt. Er wollte noch Brot kaufen, und das von der Bäckerpost schmeckte ihm nun einmal am besten. Als er sein Fahrrad abstellte und in den kleinen Laden gehen wollte, traf er auf Maike. Sie wirkte noch blasser als bei ihrer ersten Begegnung.

 

»Sie haben sie gefunden«, stellte sie mit zittriger Stimme fest.

Haie wusste nicht so recht, was er erwidern sollte. Der Schrecken darüber, dass Tatjana tot aufgefunden worden war, steckte ihm in den Gliedern, machte ihn sprachlos. Er nickte lediglich und sah, wie Tränen in Maikes Augen aufstiegen.

»Es ist so schrecklich«, flüsterte sie.

Haie spürte einen dicken Kloß im Hals und räusperte sich. »Hast du eine Ahnung, zu wem sie alles Kontakt hatte? Gab es vielleicht eine neue Bekanntschaft?«

Maike zuckte mit den Schultern und wurde durch einen Schluchzer geschüttelt. »Wer macht denn nur so etwas? Sie hat doch niemandem etwas getan.«

Das sah er ähnlich, nur gab es jemanden, der anderer Meinung gewesen war. Und diesen Jemand galt es zu finden. Er oder sie durfte nicht ungeschoren davonkommen, das musste Thamsen unbedingt vermeiden. Und vielleicht auch mit ein bisschen Hilfe von ihm. »Oft kommt der Täter aus dem näheren Umfeld des Opfers. Gibt es da jemanden, der dir einfällt? Hatte sie einen neuen Freund, eine Bekanntschaft? Hat sie mit dir darüber gesprochen?« Er wusste nicht, wie eng die Freundschaft zwischen den beiden jungen Frauen gewesen war, aber er hoffte, dass Tatjana Maike irgendetwas erzählt hatte.

Die junge Frau vor ihm wirkte, als würde sie überlegen, aber gleich darauf schüttelte sie den Kopf. »Also, mir fällt da partout nichts ein«, schluchzte sie.

»Schon gut«, versuchte Haie sie zu beruhigen. »Aber wenn dir etwas einfällt, dann melde dich bei mir oder am besten bei der Polizei.«

Bei dem Wort »Polizei« riss Maike die Augen weit auf. »Mache ich«, sagte sie leise, verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken und ging zu ihrem Wagen.

Haie sah ihr nach. Er verstand nur zu gut, wie sie sich fühlte. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn eine gute Freundin gewaltsam aus dem gemeinsamen Leben gerissen wurde. Vor einigen Jahren hatte er das selbst durchgemacht und noch heute kämpfte er mit der Erinnerung an das Geschehene. Zwar sagte einem der Verstand, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war, aber begreifen konnte man das, wenn überhaupt, erst wesentlich später. Er holte tief Luft und betrat den kleinen Bäckerladen, in dem es wie immer herrlich nach frischem Brot roch. Die Bäckerfrau hinter dem Tresen schaute ihn aufmerksam an, sicherlich hatte sie gesehen, dass er sich mit Maike unterhalten hatte, und bestimmt hatte auch sie schon von dem Leichenfund gehört. Beides bestätigte sich sogleich.

»Und, ermittelst du wieder?«

Eigentlich war Haie stolz auf seinen Ruf als Hilfssheriff, aber in diesem Fall fühlte er sich irgendwie überfordert, der Fall ging ihm sehr nahe. Er hatte Tatjana gekannt. Sie war eine so nette und angenehme Nachbarin gewesen. Dass sie nun tot war – ja, sogar ermordet worden war –, erschreckte ihn nicht nur, sondern ließ ihn eine Hilflosigkeit empfinden, die ihn lähmte.

»Na ja, das gestaltet sich schwierig«, versuchte er der Frage auszuweichen. Im Gegensatz zu Helene ließ die Bäckerfrau diesen Umstand auf sich beruhen und hakte von sich aus nicht weiter nach.

»Kanntest du denn Tatjana Lieberknecht?«, fragte Haie schließlich. Er konnte und wollte die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen.

»Nur vom Sehen. Sie hat hier manchmal auf ihrem Heimweg fürs Abendbrot Brötchen gekauft.«

»Und hat sie mal etwas erzählt?«

»Was soll sie erzählt haben?« Die Frau blickte ihn fragend an.

»Weiß auch nicht«, musste Haie eingestehen. Er wusste im Prinzip nichts von dem Fall und auch sehr wenig über seine Nachbarin. Wer hatte sie nur in dieses Haus verschleppt und umgebracht? Und warum? In den Augen des Mörders gab es sicherlich einen Grund für das Verbrechen. Auch wenn jemand anderes die Motivation nur schwer oder kaum nachvollziehen konnte. Nicht jeder Mörder war zwangsläufig krank oder irre, wie so gerne angenommen wurde. Aber er hatte eine Sichtweise auf eine Situation, befand sich in einem Konflikt, dessen einzige Lösung für den Täter lautete: Die Person musste aus dem Weg geräumt werden. Von außen betrachtet, gab es natürlich Hunderte andere Möglichkeiten, den Konflikt zu lösen – nicht aber für den Täter.

»Ich nehme ein Vollkornbrot«, sagte Haie und zeigte auf das Regal hinter der Verkäuferin.

Sie griff nach dem Brot und packte es in eine Papiertüte. »Sonst noch einen Wunsch?«

Gerne hätte er gesagt, dass er sich Frieden und den Mörder von Tatjana Lieberknecht hinter Gittern wünschte, aber er schüttelte lediglich den Kopf. »Das ist für heute alles.«

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