Und wirklich versteht man sich nur wenn man nichts sagt

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Und wirklich versteht man sich nur wenn man nichts sagt
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Smila Spielmann

Und wirklich versteht man sich nur wenn man nichts sagt

Eine Erzählung

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Herbst, 2008

Herbst, 1967

Spätherbst, 1967

Spätsommer, 1969

Winter, 2008

Herbst, 1970

Frühjahr, 1972

Winter, 1972

Sommer, 1975

Frühjahr, 1976

Winter, 1976

Sommer, 1978

Winter, 1979

Sommer, 1980

Winter, 1981

Spätherbst, 1982

Frühling, 1987

Herbst, 1990

Herbst, 1993

Sommer, 1995

Frühjahr, 2009

Impressum neobooks

Herbst, 2008

„Mir ist, als stünde ich an offnem Grab“, murmle ich leise. Meine Tochter sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, dann drückt sie meine Hand. Denn es stimmt ja: Der Sarg wurde schon hinabgelassen, die Blumen liegen schon darauf – nur die Erde noch nicht.

Es nieselt leicht. Die Männer und Frauen aus dem Dorf haben ihre Trauergewänder angelegt und ihre Trauermienen. Alle sind sie gekommen. Alle scheinen genau zu wissen wie sie sich verhalten sollen, was von ihnen erwartet wird. Nur ich stehe da und weiß nicht wie ich mich halten soll. Ich starre immer noch auf den Sarg hinunter. Die Rose habe ich immer noch in der Hand. „Lass sie los, Hanna“, denke ich, „Lass los.“ Nun muss ich doch endlich weinen. Als hätte ich nicht schon genug geweint, und müsste hier vor allen Leuten beweisen wie traurig ich bin.

„Was wirst du jetzt mit dem Hof machen? Du, ganz allein und die Kathrin in der Stadt?“

„Das arme Mädel, sie hat ihren Vater immer so gern gehabt.“

„Das ist sicher ganz furchtbar für dich, ganz furchtbar.“

So viele blöde Sprüche wie in den paar Tagen zwischen Richards Tod und dem Begräbnis hab ich mein ganzes Leben nicht gehört. Und jetzt sagt der Pfarrer etwas über ihn und ich finde seine Worte wahr, aber auch sehr platt: Das hätte er über einen jeden sagen können. „Der Richard war ein guter Mann und ein wertvolles Mitglied dieser Gemeinde. Der Richard war ein guter Vater und ein guter Ehemann.“

Es regnet jetzt stärker und ich wische mir Regen und Tränen von den Wangen. Ein paar Leute spannen ihre Regenschirme auf. Sie sind schwarz oder dunkelblau oder dunkelgrün. Als gäbe es nur mehr dunkle Farben. Mich schaudert. Ich wünschte ich hätte den kanariengelben Regenschirm dabei, den wir Kathrin vor so vielen Jahren gekauft haben und den sie längst nicht mehr nimmt, weil er zu peinlich ist.

Was an hellen Farben peinlich ist, werd ich nie versteh’n.

Kathrin neben mir weint nicht. Ich weiß trotzdem, dass sie traurig ist. Da braucht’s keine Tränen. Immerhin hat sie nichts zu beweisen. Nicht vor den Leuten und nicht vor sich selbst. Ich versuche die Gedanken, die in mir aufsteigen wollen zurückzubeißen. Sie schmecken mir nicht – haben mir nie geschmeckt und jetzt gerade kann ich sie außerdem nicht brauchen. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann entdecken ja plötzlich alle ihre Schuldgefühle. Wegen all der Dinge die nicht gesagt worden sind und auch wegen der Dinge die gesagt worden sind. Doch das braucht’s bei mir nicht. Ich muss mir nichts bewusst machen, was ich die ganze Zeit über schon weiß.

Endlich ist der Pfarrer fertig und jetzt gleich kommen sie alle, mit ihren Trauergesichtern, Trauerworten. Richards Schwester ist die Erste, dann ihr Mann und dann Einer der „Mein herzliches Beileid“, sagt. Und ich sehe mich selbst an Gräbern stehen und diese Worte sagen, so viele Male schon. Manchmal war ich wirklich sehr traurig dabei, manchmal hab ich den Toten aber auch gar nicht gekannt und die Witwe nicht und seine Kinder nicht; und nur der Richard hat einen von ihnen gekannt und ich bin halt mitgegangen. Dann hab ich die Worte gesagt, weil man das eben so macht – hab Kathrin angehalten dasselbe zu tun. „Frag nicht so blöd“, hab ich zu ihr gesagt, weil ich nicht gewusst habe wie ich ihr erklären soll, was ich selbst nicht verstehe.

Es macht mich ganz irre, dass ich nicht weiß, wer die Worte meint und wer sie nur sagt. Ich versuche in jedem Gesicht zu lesen, hinter jede Fassade zu schau’n. Ich schaue so hart, ich kann gar nichts anderes mehr tun. Hand nehmen und schütteln, mit dem Kopf nicken. Das macht mein Körper wie von selbst, doch auf die Fragen, die man mir stellt gebe ich keine Antwort – höre kaum, wenn mir eine gestellt wird. Mir stellt man keine Fragen. Nein. Ich stelle die Fragen.

„Ja, es hat sie schwer getroffen. Es war ja auch so unerwartet. Ich hoffe sie fängt sich bald wieder.“ Kathrin redet mit den Leuten. Auch über mich. Als könnte ich sie nicht hören.

„Ich habe mir das anders vorgestellt“, denke ich. Ich mache mir etwas vor. Ich habe gewusst, dass es so sein würde. Es sollte vielleicht anders sein, das ja. Ich sollte mich an all die Dinge erinnern, die mich mit dem Toten verbunden haben. An die Momente die wir gemeinsam hatten, Worte die er gesagt hat. Dass ich nicht weiß wer die Wahrheit sagt, sollte nicht mein schlimmster Gedanke sein. Zumindest nicht heute. Nicht hier. Doch ich kann nicht aufhören die Leute anzustarren und nun treten mir wieder Tränen in die Augen…

Und dann, plötzlich, steht Hans vor mir.

Ich weiß nicht, warum ich überrascht bin. Natürlich ist er gekommen. Sein Anzug ist nicht schwarz. Er schaut mich lange an. „Es tut mir leid“, meint er dann und ich blinzle. Ich muss ihn nicht anstarren um zu wissen, dass er die Wahrheit sagt. Meine Gedanken werden ruhig und die Verzweiflung fällt ab von mir. Er ist der letzte in der Reihe, bemerke ich. Das war zu erwarten, dennoch freut es mich insgeheim. Ich muss nicht, nachdem ich seine Worte gehört habe, die Worte eines Anderen hören.

„Die sollte eigentlich im Grab liegen“, meint er und deutet auf meine Hand.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Rose immer noch in meiner Linken halte.

„Komm“, sagt er und zieht mich mit sich. Ich folge ihm die paar Schritte bis zu der Grube, in der Richard liegt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Weg noch einmal gehen kann.

Die Erde ist aufgeweicht und meine schwarzen Schuhe, die ich mir vor ein paar Tagen erst gekauft habe – wozu brauche ich normalerweise so feine Schuhe – versinken im Matsch. Ich bin froh, wenn sie hin sind. Dann brauch ich sie nie wieder zu tragen und muss kein schlechtes Gewissen haben, weil ich die guten Schuhe weglege. Ich blicke zu Hans auf. Ob er wohl weiß, dass ich ihm dankbar bin, weil ich seinetwegen meine Schuhe ruiniere? Hans schaut auf den Sarg hinunter. Das helle Holz, Kränze darauf, rote und weiße Blumen und ein paar Schaufeln Erde. Bald kommt der Totengräber, dann rollen sie den Stein auf ihn. Genügt die Erde nicht? Er wird so und so nicht wieder aufstehen.

Sein Vater liegt unter ihm, wird mir mit einem Mal bewusst, und seine Mutter auch. Und irgendwann, werd ich mich zu ihnen legen müssen. Bei dem Gedanken graust mir. Mir stockt der Atem, fast fühle ich wie man Erde auf mich wirft, wie es langsam dunkel wird. Da berührt mich Hans an der Schulter und ich vergesse das Bild. Ich weiß, warum wir zurückgekommen sind. Langsam hebe ich den Arm und werfe die Rose ins Grab, wie man einen Stein ins Wasser wirft, wenn man will, dass er ganz schnell auf den Grund trifft. „Da, die könnt ihr haben“, denke ich, „aber mich nicht, mich nicht.“

Ruckartig drehe ich mich um und gehe weg von dem Grab, das viele Gräber ist. Ich schaue nicht mehr zurück.

Vor zwei Tagen ist die Kathrin zurück in die Stadt gefahren. Sie hat gemeint, dass sie auf der Uni schon viel zu viel versäumt hat. Ich glaube, ihr ist einfach langweilig geworden auf dem Hof, mit der alten Mutter und dem toten Vater. Ich wünschte ich könnte auch weg fahren. Das Haus ist zu groß für mich allein und der Hof macht so viel Arbeit, dass ich am Abend zu erschöpft bin um mir ein Nachtbrot zu bereiten. Ich hab schon abgenommen. So geht’s nicht weiter.

Ich denke oft an die Frau aus Marlene Haushofers Roman. Die Frau, die ganz allein ist. Nur mit einer Kuh und einem Hund. Ich habe keinen Hund, dafür viele Kühe. Die Gesellschaft von vielen Kühen kann die von einem Hund nicht ersetzen. Der Hof hat früher Richards Eltern gehört und als wir geheiratet haben bin ich her gezogen. Es ist ein alter Hof, der am Rand des Dorfes liegt. Genauer gesagt: hinter dem Rand. Hügel und Felder, ein Fluss und Wälder trennen uns vom Dorf. Eine Stunde zu Fuß und fünfzehn Minuten mit dem Auto sind es in die Kirche. Ich bin den Weg oft gegangen. Im Winter wenn es verschneit ist und man über die steile Wiese vorm Haus mehr rutscht als wirklich geht. Im Sommer wenn der Weizen hoch steht und man Umwege gehen muss um ihn nicht niederzudrücken. Ich bin den Weg auch oft gefahren. Das letzte Stück durch den Wald ist erst vor ein paar Jahren asphaltiert worden. Davor war es manchmal mühsam. Vor allem im Winter, wenn es glatt war. Vor allem im Herbst, wenn der Regen die Straße weggespült hat.

 

Ich sitze in der Küche und lausche dem Ticken der Wanduhr. Sie gehört mir nicht. Eigentlich gehört mir hier nichts. Ich habe die Bank nicht ausgesucht und die Stühle nicht und den Ofen nicht. Nur die Spüle war meine Idee und ich hab sie von meinem Geld gekauft um nicht mehr so viel Arbeit zu haben, mit dem Geschirr. Ich weiß nicht, wer die Küche eingerichtet hat. Richards Mutter vielleicht oder die Mutter von Richards Mutter. Es ist mir nie so wichtig erschienen.

Wie kann es nicht wichtig sein, wo ich wohne? Die Vorhänge gefallen mir nicht und die altbackenen Tapeten mit ihrem großen Muster drücken den Raum, machen ihn klein und dunkel.

Ich glaub, ich werd die Wiesen verpachten und den Wald auch. Wozu soll ich mich abrackern? Die Kathrin wird den Hof nicht übernehmen. Sie studiert ja und wird einmal Lehrerin. Das ist nichts für sie, hat sie immer gesagt. Die viele Arbeit und das wenige Geld. Und gescheit ist sie ja, da soll sie ruhig was lernen. Da waren wir uns immer einig, der Richard und ich. Ich wünschte meinen Eltern wäre das auch eingefallen.

In Wahrheit wär’s das gescheiteste wenn ich den Hof verkaufen würde und irgendwo hinziehen würde wo mich keiner kennt und wo keiner den Richard gekannt hat. Wo ich nicht eine Witwe bin und eine Mutter. Natürlich mach ich’s nicht. Ich kenne ja meine Pflicht. Und hab ich nicht immer getan, was alle von mir erwartet haben? Gedacht, ja gedacht hab ich mir manchmal was – aber das hat ohnehin keinen interessiert, solang die Kühe gemolken waren und das Essen auf dem Tisch. Trotzdem kommt es mir heuchlerisch vor, dass ich jetzt in seinem Haus wohne. Dass ich lebe und er tot ist und wir uns nie geliebt haben. Ich ihn nicht, weil ich immer einen Anderen geliebt hab und er mich nicht, weil er nicht gewusst hat, wie man das macht, was das überhaupt für ein Gefühl ist und wozu es gut ein soll. Er hat mich sicher sehr gern gehabt und was er geben konnte, hat er mir gegeben. Das hab ich nicht gemacht. Ich hätte mehr geben können, doch nicht ihm. Vermutlich ist es in den meisten Ehen so, dass man sich respektiert und gut Freund ist mit dem Anderen. Ich glaube das geht ganz gut, wenn man nicht wirklich weiß, was die Liebe ist. Doch das hab ich immer gewusst und wie hätte ich da mit dem Richard glücklich sein können?

Das Ticken macht mich ganz wahnsinnig.

Vielleicht wäre es besser ich hätte es nie gewusst. Das hätte weniger weh getan. Auf dem Tisch vor mir liegen meine Tagebücher. Ich hab schon lange nichts mehr geschrieben. Und was soll ich auch schreiben: „ Der Richard ist tot. Ein Herzinfarkt. Ganz plötzlich, bei der Arbeit auf dem Feld und als die Rettung da war, da war er schon tot.“ Ich glaub, das letzte Mal hab ich vom Richard geschrieben, als er mir einen Antrag gemacht hat. Tagebuchschreiben hat mir nie geholfen irgendwas zu verstehen. Doch ich hab immer so gern geschrieben. Meine Gedichte hat der Richard nie gelesen. Ich glaub, ich hab ihm auch nie erzählt, dass ich welche schreib.

Wie wäre es, von einer Frau zu schreiben, die so ist wie ich und doch anders? Wenn ich von einer Anderen schreibe, vielleicht verstehe ich mich dann? Ich kann es zumindest versuchen, finde ich.

Miriam.

Mein Name.

Ein Name, wie ein Versprechen, wie eine Erinnerung an eine alte Zeit. Ich denke an Zypressen, wenn ich ihn mir sage. An Frauen mit hohen Brüsten und braunem Haar. Ich rieche Gewürze, Safran und Koriander. Ich spüre den Wind der Wüste auf meiner Haut.

Das Lied der Lieder könnte für eine Miriam geschrieben sein. „Eine Rose Sharons..“

Nicht genug damit, habe ich über den Golem gelesen. Über Pernaths Miriam. Ihre Kinder, ihren Tod – den Lustmörder. Ja, so ein Name ist das. Der Männer inspiriert, zu ihrem Guten und zu ihrem Schlechtesten. Aber immerhin: inspiriert.

Und der Schnee ist in meine Wiege gefallen. Der Schnee der unerfüllten Hoffnung, der Schnee der Einsamkeit die in meiner Mutter war und die ich mit mir nicht heilen konnte, der Schnee der Bitternis. Und ich bezwinge die Welt im Traum und bin mir fremd und die anderen sind mir fremder und ich kann nur vergessen was ich sein sollte, sein könnte um wirklich ich zu sein.

Wie soll man einem solchen Namen gerecht werden? Den Erwartungen, die er in sich birgt?

Ich habe es gar nicht erst versucht.

Ich nenne es nicht feig. Proaktiver Umgang mit der Geschichte. Man muss ja nicht immer alle Fakten parat haben. Wir sind ohnehin so behangen mit der Vergangenheit, dass sich Vergessen manchmal lohnt. Also kein Vorbild in der Geschichte oder in Geschichten suchen.

Nur ich.

Miriam.

Tim.

Sein Name.

Ein Name, unbeschrieben wie ein leeres Blatt, zu füllen mit Wünschen und Träumen. Meine Vorstellungen, die groß werden in mir. Die Freiheit, um die ich ihn beneide, die Unbeschwertheit, die Fülle an Möglichkeiten. Alles zu sein, sein zu können. Fehlen von, nicht zuviel… Das war es. Das, was mich aufmerksam gemacht hat. Ein Gegenstück, eine zweite Hälfte, eine gedachte – doch zu welchem Ganzen? Das war der Reiz. Der Reiz an ihm. Das Fehlen der Bindungen, der Vorstellungen, die mich so fest im Griff hatten.

Tim.

Ein Name. Mutterlos.

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