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Die Liebe der Erika Ewald

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Aber sie ertrug nicht dieses Schweigen. Mit wilder Gebärde stürzte sie an seine Brust und umklammerte ihn schluchzend und stöhnend. Nie brannte größere Qual in ihr, als in den verzweifelten Worten, die sie weinte und schrie. »Ich muß es wieder haben, das Kind, mein Kind. Ich kann nicht anders leben, es ist ja das einzige kleine Glück, das man mir stiehlt. Warum wollt Ihr mir es nehmen?.... Ich war schlecht gegen Euch, aber verzeiht und laßt mir das Kind. Wo ist es? Sagt es mir! Sagt es mir! Ich muß es wieder haben.....«

Ihre Worte verschlugen sich in ein tonloses Schluchzen. Tieferschüttert beugte sich der alte Mann über sie herab, die in langsam erschlaffendem Krampfe weinend seine Brust umklammerte und tiefer und tiefer herabsank wie eine ersterbende Blüte. Sanft strich er über dieses lange, dunkle, gelöste Haar. »Sei klug, Esther! Und weine nicht. Das Kind ist fort, aber....«

»Es ist nicht wahr, nein, es ist nicht wahr,« fuhr sie empor.

»Es ist wahr, Esther. Seine Mutter hat das Land verlassen. Die Zeiten sind schwer für die Fremden und die Ketzer, aber auch für die Fürchtigen und Treuen. Nach Frankreich sind sie oder nach England. Aber warum willst du verzagen .... sei doch klug, Esther ..... warte ein paar Tage .... es wird alles wieder gut werden…«

»Ich kann nicht, ich kann nicht,« röchelte ihr irres Weinen. »Warum hat man mir das Kind genommen.... Ich hatte doch sonst nichts .... ich muß es wieder haben .... ich muß, ich muß..... Es hatte mich gern, es war das einzige Wesen, das mir, das ganz zu mir gehörte .... wie soll ich jetzt leben.... Sagt mir doch, wo es ist, sagt mir....«

Klagen und Schluchzen flossen zusammen in ein wirres und verzweifeltes Reden, das immer leiser und sinnloser wurde und schließlich in ein stumpfes Weinen verquoll. Wie wirre Blitze zuckten die Gedanken durch dieses zermarterte Gehirn, das nicht Klarheit und Ruhe gewinnen konnte; alle Empfindung und Betrachtung schwang in wahnsinnig kreisender Drehung um diese eine schmerzhafte Idee, die nicht loszureißen war aus ihren Reden, sondern mitschwang und mitkreiste, rastlos mit unbarmherziger wirbelnder Kraft. Das unendliche stumme Meer ihrer suchenden Liebe rauschte empor als verzweifelter und lauter Schmerz. Und die Worte strömten wirr und heiß nieder, wie tropfendes und quellendes Blut aus einer Wunde, die sich nicht schließen will. Verzagt schwieg der alte Mann, der versucht hatte, diesen Schmerz mit sanften Worten zu stillen. Die elementare Gewalt dieser Leidenschaft und ihre finstere Glut schienen ihm stärker, als alle Kraft der Begütigung. Er wartete und wartete. Manchmal schien der aufschäumende Strom zu stocken und die Erregung sich zu mildern, aber immer und immer stieß ein Schluchzen verlorene Worte empor, die halb Schrei und halb Weinen waren. Eine reiche und blühende Seele verblutete in diesem Schmerz.

Endlich konnte er zu ihr sprechen. Aber Esther hörte ihn nicht. In ihren feuchten und starren Augen stand ein einziges Bild, und ein Gedanke erfüllte ihr Empfinden. Wie aus Fieberphantasieen stammelte sie fort. »Wie lieb es lachte… Mir gehörte es ja nur, mir ganz allein..... Diese vielen schönen Tage.... Ich war seine Mutter… Und ich soll es nicht mehr haben… Wenn ich es nur sehen könnte, nur noch einmal sehen..... Nur sehen, nur einmal.....« Und wieder verlosch die Stimme in hilfloses Schluchzen. Langsam war sie von der Brust des alten Mannes herabgesunken und umklammerte mit den matten, durchschauerten Händen nur noch seine Kniee, ganz zusammengekauert in die fließende Flut ihrer schwarzen Strähnen. Ihr zerknickter zuckender Körper mit dem überwallten und versteckten Antlitz schien wie zerschmettert von zornigem Schmerz. Und monoton, mit verlorenen erschlafften Gedanken lallte sie das Wort immer wieder. »Nur sehen … nur einmal sehen … nur einmal ..... nur sehen.«

Tief beugte sich der alte Mann zu ihr herab.

»Esther!«

Sie rührte nicht ein Glied. Die Lippen lallten noch die Worte weiter ohne Sinn und Betonung. Er wollte sie emporheben; ihr Arm, den er faßte, war kraftlos und ohne Regung wie ein abgebrochner Ast; schlaff fiel er wieder zurück. Nur die Lippen stammelten eintönig und unbewußt ihren traurigen Spruch weiter. »Nur einmal .... nur sehen … nur einmal sehen…«

Da überkam ihn ein seltsamer Gedanke in seiner suchenden Ratlosigkeit. Er neigte sich zu ihrem Ohre. »Esther! Du sollst es sehen, einmal und so oft du willst!«

Sie fuhr auf, wie aus einem Traum gerüttelt. Durch alle Glieder schienen diese Worte zu fließen, denn jähe Bewegung erfaßte ihren Körper, und sie richtete sich auf. Langsam schien die Klarheit wiederkehren zu wollen. Noch war ihr der Gedanke nicht ganz klar, denn instinktiv glaubte sie nicht an ein so großes Glück, das sich aus dem Schmerze wieder erschließen sollte. Unsicher sah sie den alten Mann an, wie mit schwankenden Sinnen. Sie begriff ihn nicht ganz und wartete auf seine Worte. Alles war ihr so unklar. Aber er sprach nicht, er sah sie nur mit gütiger Verheißung an und nickte ihr zu. Lind umfaßte er sie mit seinem Arm, als hätte er Angst, ihr wehe zu tun. Es war also kein Traum und nicht die Lüge eines Augenblicks. Ihr Herz schlug und schlug in wirrer Erwartung. Willig wie ein Kind ging sie an ihn gelehnt, ohne ein Ziel zu wissen. Aber er führte sie nur ein paar Schritte bis zur Staffelei. Und mit rascher Bewegung löste er das hüllende Tuch von dem Bilde.

Im ersten Augenblicke blieb Esther reglos. Ihr Herz stand still wie erstarrt. Aber dann stürzte sie gierig auf das Bild zu, als wollte sie dieses liebe lächelnde rosige Kind aus dem Rahmen reißen, wieder zurück ins Leben, um es zu wiegen und zu umschmeicheln, um die Zartheit seiner unbeholfenen Glieder zu spüren und das Lachen um diesen kleinen törichten Mund zu erwecken. Sie dachte nicht, daß dies nur ein Bild war, ein Stück bemalter Wand, das nur der Traum des Lebens war, sie überlegte nicht, sondern fühlte nur, und ihre Blicke flatterten in seligem Rausche. Reglos blieb sie knapp vor dem Bilde stehen. Ein Zittern und Reißen war in ihren Fingern, die sich sehnten, die blühende Weiche dieses Kindes wieder erschauernd fühlen zu können, ein Brennen in ihren Lippen, den erträumten Körper mit zärtlichen Küssen bedecken zu können. Ein seliges Fieber durchlief ihren Leib. Und dann brachen die warmen Tränen empor. Aber sie waren nicht mehr zornig und anklagend, sondern wehmütig und beglückt, sie waren nur ein Quellen und Überquellen von vielen seltsamen Gefühlen, die plötzlich ihre Seele erfüllten und empordrängten. Leise löste sich der Krampf, der sie mit seinen harten Händen umklammert, und eine unsichere, aber milde und versöhnliche Stimmung hielt sie umschlungen und wiegte sie sanft und süß in einen wachen, wunderbaren Traum, der ferne war von allen Wirklichkeiten.

Der alte Mann fühlte wieder jenes fragende Bangen in seiner Freude. Wie wundersam war dieses Werk, daß es selbst diejenigen, die es geschaffen und gelebt, so mystisch beseelte, wie unirdisch war diese sanfte Erhebung, die ihm entstrahlte! War dies nicht wie die Bilder und Zeichen der Heiligen, die man verehrte, und bei denen die Beladenen und Bedrückten jählings ihren Schmerz vergaßen und heimgingen, von einem Wunder geläutert und befreit? Und waren dies nicht heilige Flammen in den Blicken dieses Mädchens, das ihr eigenes Bild besah, ohne Neugierde und ohne Scham, sondern hingegeben und gottverloren? Er fühlte, es müsse ein Ziel geben, zu dem so sonderbare Wege führten, es müsse ein Wille da walten, der nicht blind sei, wie der seine, sondern hellsichtig und aller seiner Wünsche Meister. Und wie fromme Glocken jubelten diese Gedanken durch sein Herz, das sich erwählt dünkte für aller Himmel leuchtende Gnade.

Vorsichtig nahm er Esther bei der Hand und führte sie weg vom Bilde. Er sprach nicht, denn auch er fühlte das warme Quellen von Tränen, die er nicht zeigen wollte. Ihm war, als ruhte auf ihrem Haupte noch ein warmer fließender Glanz, wie im Madonnenbilde, und als sei in dem Zimmer bei ihnen noch etwas Großes und Unsagbares, das mit unsichtbaren Schwingen vorüberrauschte. Er sah in Esthers Augen. Sie waren nicht mehr verweint und trotzig; nur ein sanfter spiegelnder Flor schien sie noch zu überschatten. Alles schien ihm heller, milder und verklärter ringsum. Wundernähe und Heiligkeit wollte sich ihm in allen Dingen offenbaren.

Lange blieben sie noch beide zusammen. Sie begannen wieder zu sprechen, wie in alter Zeit, aber ruhiger und geklärter, wie zwei Menschen, die sich nicht mehr suchen müssen, sondern sich ganz verstehen. Esther war still geworden. Der Anblick dieses Bildes hatte sie seltsam berührt und sie so selig gemacht, weil er ihr das Glück ihrer schönsten Erinnerung wieder schenkte, weil sie ihr Kind wieder besaß, aber nun viel heiliger, viel tiefer und mütterlicher als in der Wirklichkeit. Denn nun war es nur ganz mehr Hülle ihres Traumes, ganz eigen und ganz ihre Seele. Nun konnte es niemand mehr nehmen. Dies Bild gehörte ihr allein, wenn sie es sah, und sie durfte es ja immer sehen. Gerne hatte der alte, von mystischen Ahnungen durchschauerte Mann ihr die zage Bitte verstattet. Nun hatte sie Tag für Tag gleiche Seligkeit und Lebensfülle, ihre Sehnsucht mußte nicht mehr bangen und begehren; und diese kleine blühende Gestalt, die den andern der Heiland der Welt war, war auch dem einsamen Judenkinde unbewußt ein Gott der Liebe und des Lebens.

So kam sie noch einige Tage. Doch der Maler besann sich seines Auftrags, den er beinahe vergessen hatte. Der Kaufherr kam, das Bild zu betrachten, und auch ihn, der nichts von den heimlichen Wundern dieser Schöpfung wußte, überwältigte die milde Form der Muttergüte und die schlichte Weihe des ewigen Symboles in diesem Bilde. Begeistert drückte er seinem Freunde die Hand, der alle Lobsprüche mit bescheidener und frommer Gebärde zurückwies, als sei es nicht sein eigen Werk, vor dem er stand. Und sie beschlossen nicht länger dem Altare seinen Schmuck vorzuenthalten.

 

Am folgenden Tage schon schmückte das Bild den andern Altarflügel, der verwaist gewesen. Und seltsam war nun dieses fremde Paar der beiden Madonnen mit ihrer leichten Ähnlichkeit und so verschiedener Gebärde. Wie zwei Schwestern schienen sie, von denen die eine noch der Süße des Lebens sich vertrauend hingibt, während die andere schon die dunkle Frucht des Schmerzes verkostet hat und die Schauer ferner Zeiten kennt. Aber über beider Haupt leuchtete ein gleicher Schein, als ob über ihnen Sterne der Liebe glühen würden, unter denen ihr Weg ein Leben lang ginge durch Freude und durch Schmerzlichkeit.....

Und auch in die Kirche folgte Esther dem Bilde, als sei es ihr eigen Kind, das sie hier finde. Langsam verrauschte die Erinnerung in ihr, daß ihr das Wesen fremd war, und ein Mutterglaube erwachte, der einen Traum zur Wahrheit werden ließ. Stundenlang lag sie hingestreckt vor dem Bilde, wie eine Gläubige vor des Heilands Bild. Um sie lebte ein andrer Glaube; die Glocken riefen mit ihren donnernden Zungen zu einer Andacht, die sie nicht kannte, Priester, deren Worte sie nicht verstand, sangen tiefe brausende Chöre, die wie dunkle Wellen die Kirche durchrauschten und aufflogen in die mystische Dämmerung, die wie eine duftende Wolke hoch, hoch über dem Gestühle hing. Und Frauen und Männer, deren Glauben sie haßte, waren rings um sie, und ihre murmelnden Gebete überraunten die leisen Zärtlichkeiten, die sie zu ihrem Kinde sprach. Aber sie fühlte alles nicht, ihr Herz war zu verwirrt, um sich zu suchen und zu erspähen; sie gab sich nur blind an diesen einen Wunsch hin, tagtäglich ihr Kind zu sehen und dachte nicht mehr an die Welt. Die Stürme ihres reifenden Blutes hatten sich geklärt, alle Sehnsüchte waren verloren oder verströmt in diesen einzigen Gedanken, der sie immer und immer wieder hin zu dem Bilde trieb, wie ein magnetischer Zauber, den keine Kraft zu lösen vermag. Nie war sie so selig gewesen, wie in diesen langen Stunden in der Kirche, deren erhabene Feierlichkeit und geheime Wollust sie fühlte, ohne sie zu verstehen. Und ihr einziger Schmerz war, daß ab und zu ein Fremder vor dem Bilde kniete und gläubig aufblickte zu diesem Kinde, das doch nur ihr, ihr allein gehörte. Dann flackerte der alte unbändige eifersüchtige Trotz wild in ihr auf, eine Wut brannte in ihrer Seele, die sie zum Schlagen und zum Weinen treiben wollte; ihr Sinn verwirrte sich mehr und mehr in solchen Augenblicken, sie wußte nicht mehr zu scheiden zwischen dieser Welt und der ihres Traumes. Und erst, wenn sie vor dem Bilde hingestreckt ruhte, kam wieder die große Stille in ihr Herz. –

So war der Frühling mild und gütig gegangen, in dem sich die Schöpfung vollendet hatte, und es schien, als wollte nun der Sommer nach all den Stürmen und Blüten ihr die große, feierliche Mutterstille schenken. Die Nächte wurden warm und hell, aber das Fieber war gewichen, und sanfte zärtliche Träume neigten sich nieder auf Esthers Haupt. Nun schien ihr Leben geklärt zu sein, ein gleiches Wiegen zwischen gleichen Stunden im Rhythmus friedlicher Leidenschaft, und alle Ziele, die im Dunkel sich verloren, wollte ihre hellen Wege deuten weit, weit in die Zukunft hinein.

Die Sommertage brachten endlich ihre leuchtendste Blüte, das Marienfest, Flanderns schönsten Tag. Über die goldenen Felder, die sonst emsige Arbeitsmühe erfüllt, schreiten die langen geschmückten Prozessionen mit wehenden Wimpeln und sich bauschenden Fahnen. Wie eine Sonne leuchtet die Monstranz über die Saaten, welche des Priesters erhobene Hände segnen, und von betenden Stimmen ist so sanftes Gebrause, daß die Garben erzittern und sich demütig neigen und neigen. Hoch aber in den Lüften rufen die hellen Glocken unaufhörlich in die Ferne, und von weitherüberleuchtenden Kirchentürmen antworten die freudigen Freundesstimmen, und ihr jubelndes Schwingen ist gewaltig, als ob die Erde selbst singen würde und die trotzigen Wälder und das rauschende Meer.

Und dieser Glanz strömt aus dem blühenden Lande in die Stadt und überspült die drohenden Mauern. Das trostlose Gelärme der Handwerker verstummt, die keuchenden Stimmen des Tagwerks schweigen; nur Spielleute ziehen mit Pfeife und Dudelsack von Gasse zu Gasse und in ihr fröhlich Musizieren jauchzen die hellsilbernen Stimmen der tanzenden Kinder. Die seidenen Gewande, die in den bergenden Spinden das ganze Jahr verträumen müssen, leuchten mit ihrem vergilbten Putz der Sonne entgegen; feiertäglich geschmückt einen sich plaudernde Gruppen zum Kirchgange. In dem Dome aber, dessen ladende Pforten mit blauen Weihrauchwellen und duftender Kühle die Frommen empfangen, blüht ein Frühling von gestreuten Blumen und üppigen Guirlanden, die sorgsame Hände um Bilder und Altäre gebreitet. Tausende von Kerzen durchleuchten mit magischem Licht dieses duftende Dunkel voll Orgelbrausen und Gesang, aus Tiefen und Höhen zittert geheimnisvolles Leuchten und mystische Dämmerung.

Und dann scheint plötzlich diese fromme und fürchtige Stimmung sich auf die Straßen zu ergießen. Ein Zug Andächtiger formt sich, die Priester heben das vielberühmte Marienbildnis des Hauptaltars, das gleichsam umrauscht ist von den Gerüchten vieler vollbrachter Wunder, auf ihre Schultern und eine feierliche Prozession beginnt. Und mit dem Bilde tragen sie gleichsam die Stille unter die lärmenden Gestalten der Straße, denn ein Schweigen und Neigen geht durch die Menge. Und so zieht eine breite Furche der Andacht hinter dem Bildnis her, bis es wieder zurückgelangt in die tiefe und kühle Kirche, die es in ihr duftendes Grab aufnimmt.

In diesem Jahre aber überschatteten trübe Wolken die fromme Feier. Seit Wochen lastete ein dumpfer Druck über dem Lande, dunkle und unbestätigte Nachrichten mehrten sich, daß die alten Privilegien für null und nichtig erklärt werden sollten. Die Geusen und Protestanten begannen sich zu regen. Böse Gerüchte kamen aus dem Lande: von den protestantischen Predigern, die vor Tausenden auf freien Plätzen vor den Städten predigten und den bewaffneten Bürgern das Abendmahl reichten. Spanische Soldaten waren überfallen worden, und beim Sange der Genfer Psalmen sollten Kirchen gestürmt worden sein. Noch war alles dies unverbürgt, aber man fühlte das heimliche Flackern eines werdenden Brandes, und der bewaffnete Widerstand, den die Besonnenen in ihren Stuben bei heimlicher Beratung planten, artete in jähen Trotz und Unbotmäßigkeit aus bei den vielen, die nichts zu verlieren hatten.

Der Festtag hatte jene erste schmutzige Welle nach Antwerpen gespült, jenen heillosen Pöbel, der nie geeint ist und sich nur bei Revolten plötzlich zusammenrottet. Finstere Gestalten, die niemand kannte, tauchten mit einem Male in den Schenken auf, fluchten und drohten wild den Spaniern und den Pfaffen. Aus den Winkeln und verrufenen Gäßchen quoll seltsames tagscheues Volk mit trotzigem und gereiztem Gebaren. Die Händel mehrten sich. Ab und zu gab es kleine Zusammenstöße, aber sie griffen nicht über in die allgemeine Erregung, sondern erloschen wie einsam aufzischende Funken. Noch hielt der Prinz von Oranien strenge Zucht und überwachte dieses habgierige zanksüchtige und böswillige Gesindel, das nur um des Gewinnes willen mit den Protestanten gleiche Sache machte.

Die große und prunkvolle Feierlichkeit der Prozession reizte nur den Grimm der unterdrückten Instinkte. Zum ersten Mal mischten sich derbe Scherzworte in den Sang der Gläubigen, blinde Drohungen flatterten auf und höhnisches Lachen. Manche sangen den Text des Geusenliedes auf die fromme Melodie, ein junger Bursch ahmte zum Gaudium seiner Genossen mit quäkender Stimme den Prediger nach, andere grüßten das Bildnis mit koketter Hutschwenkung, wie eine geminnte Dame. Die Soldaten und die wenigen Gläubigen, die sich zur Feier gewagt hatten, waren machtlos und mußten mit verbissenen Zähnen den Spott ertragen, der immer übermütiger wurde. Und immer ungebärdiger wurde das ungezügelte Volk, seitdem das Bewußtsein seiner trotzigen Kraft erwacht war. Fast alle schon gingen in Waffen. Und der finstere Wille, der sich jetzt nur in Flüchen und wuchtigen Drohungen Bahn brach, begehrte nach Taten. Wie eine Gewitterwolke lastete diese drohende Unruhe am festlichen Tage und an den folgenden über der Stadt.

Die Frauen und die Besorgteren unter den Männern hüteten seit den ärgerlichen und gefahrdrohenden Szenen bei der Prozession das Haus. Dem Pöbel und den Protestanten gehörte die Straße nunmehr allein. Auch Esther war daheim geblieben in den letzten Tagen. Aber sie wußte von all diesen Stürmen und Geschehnissen nichts. Sie merkte dumpf, daß sich mehr und mehr in der Schenke die Menschen drängten, daß sich kreischende Dirnenstimmen in den erregten Chor der streitenden und fluchenden Männer mischten, sie sah rings verstörte Frauengesichter und heimlich tuschelnde Gestalten, aber eine dumpfe Lässigkeit allen Dingen gegenüber erfüllte sie dermaßen, daß sie nicht einmal ihren Ziehvater darum fragte. Sie dachte nur mehr an das Kind, an jenes Kind, das längst in ihren Träumen das ihre geworden war; alle Erinnerung verdämmerte in diesem einen Bilde. Nicht mehr fremd schien ihr die Welt, sondern wertlos, weil sie ihr nichts zu geben hatte; in dem Kindesgedanken verlor sich ihre liebende Hingebung und das glühende Gottesbedürfnis ihrer Jahre. Nur die eine Stunde, da sie sich zu dem Bilde, das ihr Gott und Kind zugleich war, hinschlich, atmete sie wirkliches Leben, sonst war ihr Tun und Treiben nur das sehnsüchtige Irren einer Verträumten, die an den Dingen wie eine Mondsüchtige vorübergeht. Tag für Tag und einmal auch eine lange und von heißen Düften schwere Sommernacht, da sie verstohlen aus dem Hause geflüchtet war und sich in die Kirche hatte einschließen lassen, lag sie auf den Knieen vor diesem Bilde, das ihre unwissende Seele sich zum Gott gekrönt.

Und diese Tage lasteten schwer auf ihr, denn sie versperrten ihr den Weg zu ihrem Kinde. Während des Marienfestes erfüllten festliche Mengen die hohen Gänge und das orgelbrausende Kirchenschiff; gekränkt und demütig wie eine Bettlerin mußte sie sich aus dem Gewirre der Frommen wieder zum Ausgange wenden, denn Gläubige umstanden unablässig an diesem Tage die Marienbilder, und sie mußte fürchten erkannt zu werden. Traurig und fast verzweifelt ging sie zurück und fühlte all die schwere Sonnenhelle des Tages nicht, weil ihr der Anblick des Kindes versagt war. Neid und Zorn packte sie beim Anblicke der unablässig heranpilgernden Scharen, die in frommer Wallfahrt durch die hohe Pforte der Kathedrale in das blaue duftende Dunkel traten.

Und trauriger wurde ihr noch der nächste Tag, da man es ihr versagte, auf die mit gefährlichen Gestalten durchzogene Straße zu gehn. Ihre Stube, zu der der Lärm der Schenke aufbrauste wie ein dicker häßlicher Qualm, wurde ihr unerträglich. Ihrem verwirrten Herzen war ein Tag, da sie das Kind auf dem Bilde nicht sehen durfte, wie eine dunkle finstere Nacht ohne Schlaf und ohne Träume, eine Nacht nur mit Qual, Dunkel und Sehnsucht angefüllt. Noch war sie nicht stark genug, eine Entbehrung zu tragen. Spät abends, als ihr Ziehvater in der Schenke mit seinen Gästen saß, stieg sie ganz leise und behutsam die Treppen hinunter. Sie tastete an die Pforte und atmete auf: sie war offen. Leise und schon mit einem linden Gefühle lang entbehrter Lust schlüpfte sie durch die Türe und eilte der Kathedrale zu.

Die Straßen, die sie im Laufen durchmaß, waren dunkel und voll dumpfen Gedröhnes. Allerorts hatten sich einzelne Scharen zusammengerottet, und die Nachricht von der Abreise des Prinzen von Oranien hatte alle zügellosen Gewalten entfesselt. Die drohenden Worte, die tagsüber nur einzeln und unüberlegt aufgezuckt waren, klangen jetzt wie Kommandorufe. Dazwischen heulten die Trunkenen und sangen die Begeisterten die Rebellionslieder, daß die Fenster dröhnten. Die Waffen wurden nicht mehr versteckt, Beile und Haken, Schwerter und Pflöcke blitzten im unruhigen Fackelschein; wie eine gierige Flut, die nur noch minutenlang zögert, alle Dämme mit Schaum und Wogen zu überspringen, so ballten sich diese finsteren Massen zusammen, denen niemand zu wehren wagte.

Esther hatte nicht acht auf diese ungebärdige Schar, ob sie auch im Vorbeischlüpfen einmal einen rohen Arm zurückstoßen mußte, der nach ihrem hüllenden Kopftuche neugierig und begehrlich griff. Sie fragte gar nicht, warum solche Raserei plötzlich die Rotten erfüllte, deren Treiben und Rufen sie nicht verstand; nur Ekel und Angst überkam sie, und ihr Schritt beschleunigte sich mehr und mehr, bis sie endlich atemlos vor der hohen, mit weißen Mondschleiern überwebten Kathedrale stand, die tief in die Schatten der Häuser gebettet schlief.

Beruhigt und mit einem leise erschauernden Beben trat sie bei einer Seitenpforte ein. Es war ganz dunkel in den hohen lichtlosen Gängen, nur um die mattfarbigen Scheiben zitterte ein mystisches mondsilbernes Licht. Menschenverlassen war das Gestühle. Kein Schatten schwankte in den weiten atemstillen Räumen, und die Heiligengestalten standen vor den Altären in schwarzem reglosen Erz. Und wie leise aufzuckendes Glühwurmblinken flackerte aus der Tiefe, die endlos schien, das schwankende Leuchten des ewigen Lichtes über den Kapellen. Alles war heilig und still in dieser unbewegten Ruhe, so daß sie, erfüllt von der schweigsamen Majestät des Raumes, ihre tappenden Schritte fürchtig dämpfte. Mühsam tastete sie sich so zum Seitengange durch und ließ sich erschauernd, mit einem unendlichen und doch mystisch gedämpften Jubel vor dem Bilde nieder, das in dem fließenden Dunkel aus dichten und duftenden Wolken herabzublicken schien, unendlich nah und unendlich ferne. Und nun dachte sie nicht mehr. Es war wie immer: das ganze wirr-sehnsüchtige Fühlen ihrer werdenden Mädchenseele zerspann sich in phantastische süße Träume, die Inbrunst schien allen ihren Fibern zu entströmen und sich als berauschende Wolke ihrer Stirn zu umschmiegen. Wie ein süßes und sanft betäubendes Gift waren diese langen Stunden vereinter unbewußter Gläubigkeit und unbewußter Liebessehnsucht, sie waren eine dunkle Quelle, die selige Hesperidenfrucht, die alles göttliche Leben erhält und nährt. Denn in diesen süßen, haltlosen und wollustdurchschauerten Träumen war alle Seligkeit. Einsam pochte ihr erregtes Herz in die große Stille der leeren Kirche. Vom Bilde kam ein ganz leichter, heller, gleichsam silberdunstiger Glanz, wie von einem tief innen strahlenden Lichte, aber sie erkannte ihr Kind in den ekstatischen Träumen, die sie von den frierenden kalten Stufen emportrugen in eine milde warme Sphäre erträumten Lichtes. Längst wußte sie nicht mehr, daß dies ein fremdes Kind gewesen sei, das sie nur gekannt. Sie träumte den Gott in ihm und den Gott einer jeden Frau, das eigene blutwarme Wesen ihres Leibes; dumpfe Gottessehnsucht, sucherische Ekstatik und werdende Muttersehnsucht spannen zusammen das lügnerische Netz ihres Lebenstraumes. Für sie war nun Helle in dieser lastenden breiten Dunkelheit, ein zartes Tönen harfte auf in der schauernden Stille, die nichts wußte von Menschenwort und Uhrenschlag. Über ihren hingestreckten Körper ging die Zeit mit unhörbaren Schritten…

 

Ein jäher Stoß erschütterte mit einem Male die Pforte. Und ein zweiter und dritter, daß sie entsetzt auffuhr und in das furchtbare Dunkel starrte. Und neue donnernde Stöße, daß das ganze hohe stolze Gebäude erzitterte und die einsamen Lampen wie feurige Augen durch das Dunkel rollten. Wie hilfloses Schreien gellte das Feilen des gesprengten Türriegels durch den leeren Raum, dessen Wände sich die schaurigen Geräusche wirr und heftig zuwarfen. Gieriger Zorn vieler Menschen hämmerte an der Pforte, und ein Brausen erregter Stimmen dröhnte in die hohle Einsamkeit, als hätte das Meer donnernd alle Dämme zerrissen und stände mit seinen anprallenden Wogen vor den ächzenden Türen des schlafenden Gotteshauses.

Esther horchte verstört, wie aus einem Traume geschreckt. Aber da schmetterte endlich das Tor nieder. Ein dunkler Strom Menschen quoll heftig herein und füllte mit jähem Johlen und Toben die gewaltige Halle. Und mehr, immer mehr. Tausende schienen draußen noch zu warten und sie anzufeuern. Und trunkene Fackeln funkelten plötzlich hoch auf wie gierige Hände, und ihr irrer blutiger Schein fiel auf wilde, von blindem Eifer verzerrte Gesichter, aus denen die Augen heiß quollen wie sündige Begierden. Nun ahnte Esther erst dumpf die Absicht der finsteren Rotten, denen sie unterwegs begegnet war. Und schon knatterten die ersten Axtschläge nieder in das Holz der Kanzel, Bilder sausten zu Boden, Statuen knickten um, Flüche und Hohnworte wirbelten auf aus diesem dunklen Schwall, über dem die Fackeln unruhig tanzten, wie erschreckt von dem wahnwitzigen Gebaren. Wirr ergoß sich die Flut gegen den Hauptaltar, plündernd und vernichtend, schändend und entweihend. Hostien flatterten zu Boden nieder wie weiße Blüten, eine ewige Lampe sauste von wilder Faust geschleudert wie ein Meteor durch das Dunkel. Und immer mehr Gestalten drängten nach, die Fackeln flackerten häufiger und häufiger. Ein Bild fing Feuer und die Flamme leckte hoch auf wie eine züngelnde Schlange. Irgend einer hatte die Orgel gepackt; die irren Töne ihrer zerschmetterten Pfeifen schrieen gell und hilfesuchend durch das Dunkel. Und Gestalten tauchten auf wie aus wirren und wahnsinnigen Träumen. Ein toller Geselle mit einem blutigen Gesicht schmierte sich unter dem tierischen Jubel der andern die Stiefel mit dem heiligen Öle, zerlumpte Schelme stolzierten in reichbestickten Bischofstogen, eine kreischende Dirne trug in ihrem wirren schmutzigen Haar einer Statue goldenen Heiligenreif. Diebe tranken sich Wein zu aus den heiligen Gefäßen, und am großen Altar kämpften zwei mit blinkenden Messern um eine edelsteingeschmückte Monstranze. Dirnen tanzten geile und trunkene Tänze vor den Heiligtümern, Trunkene spieen in die Weihebecken, Zornige zerschmetterten mit ihren blinkenden Äxten, gleichgültig, was es traf, vor sich hin. Das Lärmen schwoll in ein Chaos polternder Laute und kreischender Stimmen; wie ein ekler und dichter Pestdunst qualmte das Toben empor zu den schwarzen Höhen, die finster auf das springende Leuchten der Fackeln herabblickten und unbeweglich, unerreichbar schienen für diesen verzweifelten Menschenhohn.

Esther hatte sich halb ohnmächtig in den Schatten des Altars versteckt. Ihr war, als müsse dies alles geträumt sein und plötzlich verschwinden, wie ein trügerischer Spuk. Aber schon stürmten die ersten Fackeln in die Seitengänge. Gestalten, die in fanatischer Leidenschaft bebten, wie im Rausche, sprangen über die Gitter oder zerhieben sie mit dröhnenden Streichen, stürzten die Statuen und rissen die Bilder von den Schreinen. Dolche blitzten wie feurige Schlangen im zuckenden Fackellicht und zerbissen zornig Schränke und Bilder, die mit zerschmetterten Rahmen zu Boden sausten. Näher und näher taumelte die Schar mit ihren qualmenden, zuckenden Leuchten. Esther blieb atemlos und preßte sich tiefer ins Dunkel. Ihr Herz hörte auf zu schlagen vor Angst und quälender Erwartung. Noch wußte sie nicht recht, die Geschehnisse zu deuten und fühlte nur Furcht, jähe unbändige Furcht. Ein paar Schritte kamen heran. Und ein stämmiger wüster Kerl zerhieb mit einem Schlage das Gitter.

Schon glaubte sie sich entdeckt. Aber erst im nächsten Augenblicke erkannte sie die Absicht der Eingedrungenen, als am Nebenaltare eine Statue der Madonna mit gellem Todesschrei zersplittert zu Boden sank. Die Angst wurde in ihr wach, man wolle auch ihr Bild, ihr Kind vernichten, und sie wurde Gewißheit, als Bild um Bild, im unsichern Fackelschein unter Jubel und Hohn herabgezerrt, zerstoßen und zertreten wurde. Ihr ganzes Denken strömte brausend zusammen in die furchtbare blitzartig aufzuckende Idee, man wolle das Bild ermorden, das in ihren wirren Träumen längst eines war mit ihrem eigenen lebendigen Kinde. In einer Sekunde flammte alles auf wie in blendendes Licht getaucht. Ein Gedanke, der Gedanke all ihrer Tage, tausendfach gedacht in diesem einen Augenblicke, entzündete ihr Herz: Das Kind zu retten, ihr Kind. Und in dieser Sekunde umfingen sich in ihr Traum und Wirklichkeit mit verzweifelter Inbrunst. Schon stürmten die zelotischen Zerstörer auf den Altar zu. Eine Axt flog hoch auf in der Luft – und in diesem Augenblicke verlor sie alles wache Besinnen und sprang schützend mit ausgebreiteten Armen vor das Bild....