Die letzten Tage der Freiheit

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Die letzten Tage der Freiheit
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die letzten Tage der Freiheit

Betrachtungen zum Stand unserer Versklavung

von T. J. Becker

ISBN: 978-3-7375-9394-6

© 2016 T.J. Becker

Vorwort

Dieses Buch entstand im Sommer 2015 während eines viermonatigen Aufenthalts in Griechenland. Nicht lange davor war ich noch einmal Vater eines kleinen Jungen geworden, der mit seiner griechischen Mutter auf einer Insel der Kykladen lebte. Was aus dieser neuen familiären Situation erwachsen würde, wussten wir nicht. Alles war neu und unbestimmt und wie immer, wenn ein Kind das Leben durcheinanderwirft, musste sich erst mühsam herausschälen, wie es weiterginge. Alles war denkbar, aber das meiste löste sich schnell den Zwängen und Dringlichkeiten auf, die ein Baby tagtäglich darstellt. Der vorliegende Text entstand in diesen griechischen Monaten, die nicht nur wegen der neuen Familie turbulent und aufregend waren, sondern auch aufgrund der Krise dort, die damals, im frühen Sommer, ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Man begegnete ihr auf Schritt und Tritt, sie prägte das Lebensgefühl. Vielleicht hatte das Auswirkungen auf mein Schreiben und schlich sich als Grundstimmung in den Text mit ein. Die Idee zu dem Buch und das Gefühl, es dringend und notwendig schreiben zu müssen, waren allerdings lange vorher entstanden, ohne Zutun der Griechen und zu einer Zeit, als man sich hierzulande noch selbstzufrieden zurücklehnte und nicht ahnte, dass man bald selbst in gewaltige Turbulenzen geriete. Schon länger hatte mir vorgeschwebt, etwas über die zunehmende Vereinnahmung des Menschen durch den Staat zu schreiben, auch über deren wechselseitige Abhängigkeit, da einerseits der Bürger immer angewiesener auf Leistungen des Staates ist, und andererseits der Staat einen steigenden Anteil der Arbeit seiner Bürger für den eigenen Unterhalt fordert – wachsen seine Leistungen doch scheinbar unaufhörlich. Kurz, ich wollte darüber schreiben, wie wir uns ohne Not in immer größere Knechtschaft bringen. Anfang des Sommers 2015 schien die Welt kein drängenderes Problem zu haben als die Rettung des kleinen Griechenlands aus seiner Misere. Alles schaute gebannt nach Athen. Und auch mir konnte das Schicksal der Griechen nicht länger egal sein, weil ich jetzt Familie dort hatte und mein Sohn Grieche war. So schlich sich die Krise auch in unser Leben, das sich plötzlich mit der banalen, aber entscheidenden Frage befassen musste, ob Geldabhebungen andern Tags noch funktionieren würden und ob die Versorgung und die Löhne auf der Insel gesichert wären. Um nicht ganz ohne Einkommen zu sein, fing ich an, Bilder von der kleinen Ägäis-Insel an Fernsehanstalten zu liefern. Schließlich ist das mein Beruf. So kam es, dass meine Tage mit dem Buben hin und wieder durch Dreharbeiten unterbrochen wurden, deren bescheidenes Honorar zwar unser Auskommen nicht würde sichern können, aber immerhin beruhigende Wirkung hatte. Man war also nicht ganz ohne Einkommen. Bevor mein Geschäft allerdings richtig in Schwung kommen und sich rentieren sollte, musste ich schon wieder zumachen. Denn mit jedem Gipfel der von Gipfel zu Gipfel eilenden EU-Staatschefs stabilisierte sich die Lage, was das Interesse der Sender an Griechenland jäh zum Erliegen brachte und meine Karriere als Inselreporter genauso abrupt beendete. Niemand wollte mehr Bilder von dort, man war satt und hatte genug von den Griechen gesehen, und selbst wenn der Vulkan von Santorini ausgebrochen wäre und die ganze Insel ins Meer gerissen hätte, wäre man auf den Bildern sitzengeblieben, so totgeschlagen waren mit einem Mal alle von dem Thema. Dafür kristallisierte sich ein ganz neues heraus: die Flüchtlingskrise. Je mehr Flüchtlinge auf Inseln wie Lesbos und Kos anlangten, desto mehr wurden sie zur allesbeherrschenden Frage für Europa und besonders für Deutschland. Die Dynamik, die diese Entwicklung mit den Wochen und Monaten annehmen sollte, war im Sommer 2015 noch nicht absehbar. Jedenfalls nicht, wenn man nicht wie die Regierung durch die Nachrichtendienste informiert war, was sich da zusammen braute. Dass sich die Flüchtlinge aber zu einer solchen Existenzkrise Europas und Deutschlands entwickeln würden, überraschte dann doch. Als ich das Buch im Spätsommer beendete, hatte sich Deutschland eine Aufgabe aufgebürdet, die schlicht furchteinflößend war und immer noch ist. Nur Größenwahn und jeglicher Ausfall von demokratischen Sicherungsmechanismen konnten dazu führen, dass man ernsthaft glaubte, einer solch historischen Aufgabe gewachsen zu sein. Insofern hatten sich die Gedanken des Buches hinsichtlich der systematischen Hybris westlicher Demokratien schneller als mir lieb war bewahrheitet. Obwohl die Flüchtlingskrise also nur am Rande vorkommt, ist sie doch als unvermeidliches Ergebnis der Regierungsentscheidungen in den Thesen des Buchs schon vorweggenommen. Ihr schicksalhafter Lauf war vorhersehbar.

Versklavung

Das erste Mal, dass ich die Nordsee sah, war als junger Mann und frischgebackener Rekrut, als mich die Bundeswehr aus mir heute unerklärlichen Gründen einen Winter lang nach Husum an die Nordsee beorderte. Das war 1983. Ich stammte aus dem äußersten Südwesten und fand mich dennoch ganz in den Norden versetzt, tausend Kilometer von zu Hause, um dort auf einem Flugplatz der Luftwaffe Dienst zu tun, den es längst nicht mehr gibt. Er fiel der Bundeswehrreform zum Opfer und heute erinnert in dem kleinen Küstenstädtchen nichts mehr daran, dass hier einst Alpha Jets abhoben und die Schafe auf den nordfriesischen Deichen in Angst und Schrecken versetzten. Nicht weit von Husum entfernt lag Sylt. Wenn man im Zug, von Hamburg her kommend, verschlief, was vorkam, wachte man spätestens an der Endstation auf: Westerland auf Sylt. So lernte ich die Insel kennen. Damals war sie noch nicht so sehr für ihr illustres Publikum bekannt, sondern war einfach eine ziemlich wilde und ziemlich natürliche Insel. Man sah das Anrennen der Nordsee, hörte, wie die Wellen krachend auf den Strand schlugen und bekam als Zugereister eine Ahnung davon, was eine steife Brise war. Die Gewalt in den Elementen war jederzeit spürbar – aber auch sichtbar. Sylt verlor Land. Mit jedem Wintersturm war wieder ein Stück Insel ins Meer gerissen, war Sylt wieder etwas kleiner geworden. Die Insulaner stemmten sich dagegen und überall sah man Wellenbrecher aus Beton, die das Schlimmste abhalten sollten, oder neue Aufschüttungen aus Sand, um das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Und doch war die Prognose nicht gut und wahrscheinlich ist sie das immer noch nicht. Sylt würde irgendwann verschwinden und endgültig vom Meer eingenommen. Dann bliebe nichts von ihr als ein Eintrag in einer Schiffskarte, ein nautischer Vermerk etwa über eine gefährliche Untiefe, auf der sich einst eine Insel mit Häusern befand, auf der Touristen die Promenade entlang flanierten oder im Strandkorb den Tag verdösten.

Sylt kommt mir vor wie unser Leben. Auch das wird allmählich eingenommen. Von einer Kraft, die heranrollt wie Brandung und uns langsam anknabbert, uns aufknabbert und aufzehrt, die uns Terrain und Substanz entzieht und nicht mehr hergibt, bis wir wie Sylt ein langer, dünner Strich sind. Ich rede vom Staat. Ich rede von seiner Allgegenwart. Ich rede von seinen Ritualen und Obsessionen. Ich rede von der schieren Größe, die er in unserem Leben eingenommen hat, und der scheinbar kein Wellenbrecher widersteht. Obwohl wir alles versuchen: Längst haben wir uns auf höheres Gelände zurückgezogen, haben die Deiche verstärkt und neuen Sand aufgeschüttet. Und sind doch auf verlorenem Posten. Mit jedem Jahr werden wir kleiner und unfreier. Und mit jedem Jahr wird unser Strandspaziergang kürzer. Das Meer, das uns umgibt, ist groß geworden. Wir können es an vielem ablesen: An der Steuerlast und den tausend Abgaben, denen wir unterliegen, an der Flut von neuen Regeln und Verordnungen, die jährlich über uns hereinbricht, schließlich an der pathetischen Größe der Ziele, die sich der Staat regelmäßig selbst gibt. Aber hauptsächlich spüren wir es an uns selbst. Wir sind seltsam geschrumpft, nur noch ein Schatten unseres ehemaligen Selbst und wie ein Mündel müssen wir jetzt wegen allem um Erlaubnis fragen. Wir sind also in Abhängigkeit geraten und eine Fremdbestimmung zieht sich durch unser Leben, die wir seit der Kindheit nicht kannten. Sie lässt uns nur wenig, worüber wir noch Kontrolle hätten. Wie sollen wir das bezeichnen? Kontrollverlust? Ohnmacht? Hörigkeit? Eine Art Lebensenteignung? Und wie nennt man die Arbeit, die man nicht für sich selbst tut, sondern gezwungen ist, zu leisten? Knechtschaft, Fron, Leibeigenschaft, Sklaverei? Noch fehlt es uns das treffende Wort dafür. Unsere Abhängigkeit ist so modern und neu, dass uns die Worte fehlen. Ist das bereits Sklaverei, wenn man hauptsächlich für andere arbeitet? Nein, das würde viele zu Sklaven machen. Zur Sklaverei wird es erst, wenn sich die Früchte unsere Arbeit abzukoppeln beginnen und mit dem eigenen Leben oder der eigenen Familie nichts mehr zu schaffen haben. Also anonymisiert und vergemeinschaftet werden, ohne dass man sich dagegen wehren könnte – indem man zum Beispiel die Arbeit niederlegte. Dann wäre man tatsächlich in der Knechtschaft angekommen. Knechtschaft ist noch nicht Sklaverei. Sklaverei setzt Eigentum am Menschen voraus. Einen Sklaven kaufen wir auf einem Sklavenmarkt und besitzen ihn, damit er uns als Mensch gehört und wir frei über seine Arbeitskraft verfügen können. Das hat die Menschheit zum Glück hinter sich gelassen. Trotzdem nennen wir uns bisweilen Sklaven – aus Scherz. Dann sind wir Sklaven der Bank, bei der wir unseren Hauskredit haben. Oder unseres Chefs, der uns bis an den Urlaubsort verfolgt und anruft. Der Begriff ist uns so vertraut und geht uns so leicht von der Zunge, dass er alltäglich geworden ist. So alltäglich, dass es uns zu denken geben sollte. Läuft da die Sprache der Entwicklung voraus? Scherzen wir auch zukünftig, wenn wir uns als Sklaven bezeichnen? Oder hört der Spaß dann auf? Schon jetzt ächzen die Menschen unter dem Druck, der auf ihnen lastet. Er hat zugenommen, überall und gleichzeitig. Kaum ein Lebensbereich, der davon ausgenommen wäre, und so schaukelt sich alles gegenseitig hoch, weil plötzlich alles miteinander funktionieren muss, gleichberechtigt ist: Das Privatleben mit dem Beruf, zwei Privatleben mit zwei Berufen, dann zwei Privatleben und zwei Berufe mit zwei Kindern. Dann der Sport, die Freunde, die Pläne, die man hatte. Das geht natürlich nicht gut, kann nicht gut gehen und lässt alle ausgebrannt und erschöpft zurück. Der Befund ist eindeutig: Das Land leidet an Erschöpfungsdepression. Trotzdem lesen wir, dass die Deutschen alles in allem zufrieden sind. Bei Umfragen zum Lebensglück rangieren die Deutschen regelmäßig an vorderer Stelle. Sie sind zufrieden mit sich und ihrem Leben, zufriedener jedenfalls als die Engländer und sogar die Franzosen. Wie geht das zusammen? Das Geheimnis liegt in unserer demografischen Entwicklung, konkret in unserer Alterung. Unser Glück und unsere Zufriedenheit werden an Orten gemessen und abgefragt, zu denen wir keinen Zutritt haben: Auf der Blumen-Insel Mainau zum Beispiel; oder im Reisebus auf dem Weg zur Landesgartenschau. Dort, wo nicht wie früher trauerschwarz dominiert, sondern ein einheitliches Hell und Beige signalisiert, dass man mit dem Leben noch nicht abgeschlossen hat, – dort ist die Zufriedenheit greifbar und nachvollziehbar. Fidel und sorglos geht es zu im Bus. Sowieso, wenn der Spaßvogel der Truppe, ein ältere Herr, wie üblich das Mikrofon ergreift und alle mit Witzen und Zoten unterhält. Dann ist die Stimmung glänzend. – „Chaque age a son plaisir.“, sagen die Franzosen. Jedem Alter also sein Glück und seine Erfüllung. Auch und gerade im Bus zur Landesgartenschau.

 

Die Mehrheit in diesem Land fährt Bus und trägt Beige. Es ist ein müßiger Bus, ein Bus jenseits des Erwerbslebens. Zumindest gefühlt. Natürlich gibt es nach wie vor mehr Erwerbstätige als Rentner. Irgendwie kommt ja jeder in einer Erwerbsstatistik vor, und sei es nur als zwanzigprozentige Wiedereinsteigerin, als Hartz4-Aufstocker, als Selbständiger ohne Aufträge, als Altersteilzeitler. Alle sind ja irgendwie erwerbstätig, scheinbar, und doch ist die Lebensanmutung im Bus und im Land eine andere. Wir sind dabei, die Arbeit hinter uns zu lassen. Besser gesagt denen zu überlassen, die ihr nicht entrinnen können. Also den wenigen Jungen, die aber auch schon gehätschelt werden wollen; die von Work-Life-Balance reden, noch bevor die Arbeit überhaupt angefangen hat. Vorsorglich sozusagen, da sie spüren, dass man sie sonst gnadenlos rupfen wird. Höchstbesteuert und ohne Chance, der Sozialversicherungspflicht zu entkommen, bleibt ja nur die Absenz vom Arbeitsmarkt. Also noch einmal ein Jahr um die Welt, vielleicht ein Sabbatical zum Durchschnaufen – mit Ende Zwanzig. Vielleicht überhaupt etwas anderes versuchen, nochmal studieren gehen, nur ja nicht der Tretmühle zu früh und zu sehr anheimfallen. Was hatte man da für schlechte Beispiele an den Eltern: 40 Jahre Installationsbetrieb, immer Kundenwünsche, Nachbesserungen, Zahlungen hinterherlaufen. Dann die Angst vor dem Finanzamt. Eine Prüfung womöglich, wo herauskäme, dass man die Putzfrau zu Unrecht abgesetzt hat – weil ohne Sozialversicherung beschäftigt. Und wofür das alles? Der Vater kurz nach der Pensionierung schwerkrank, niemand, der den Laden übernehmen will, der sich diese Plackerei antun will. Nein, die Jüngeren handeln instinktiv in ihrem Interesse. Sie spüren, dass sich die Gesellschaft geteilt hat, nämlich in den Bus und in den Untersatz. Den fahrbaren Untersatz, der den Bus oben trägt und bei Laune hält. Den Karren insgesamt am Laufen hält. Das ist schwer und wird immer schwerer. So viel Rentenanspruch gab es nie. Den Osten mit hinein zu nehmen, war teuer genug. Aber jetzt kommen auch noch die Lehrerinnen und Lehrer, die vorzeitig, weil ausgebrannt, der Pädagogik den Rücken kehren und sich pensionieren lassen. Von den anderen Beamten zu schweigen. Alles keine Mini-Pensionen. Im Gegenteil, der Rock des Beamten ist nicht mehr wie früher eng, aber warm, sondern in jeder Hinsicht komfortabel. Hier sind die höheren Laufbahnen in der Mehrzahl. Aber auch in der Privatwirtschaft schaut man, dass man bald rauskommt – noch rauskommt. Wer weiß, wie lange das gut geht? Vielleicht gibt es schon bald Notstandsgesetze und dann ist es vorbei mit der schönen Vorruhestandsregelung, mit dem erträumten Ruhestand, ja, überhaupt mit der Ruhe. – Unruhen?

Die Erleichterung in den Gesichtern derjenigen, die es in den Ruhestand geschafft haben, ist entlarvend. Sie erinnert an Leute, die gerade noch den Bus erwischen und sich erleichtert in dessen Sitze fallen lassen. Man hört förmlich das „Uff“ dahinter, „Gerade noch geschafft“. Damit sagt sie alles über unser Erwerbsleben und unseren Ruhestand. Das eine wird als bedrückend empfunden, das andere als Erlösung. Ist das eine also so bedrückend, weil das andere so erlösend ist? Hat sich also nur der Kontrast erhöht, der Hebel. Man muss es vermuten. Das Erwerbsleben nähert sich für die meisten der Sklaverei an, so wie sich der Ruhestand einem goldenen Lebensabschnitt annähert. Immer mehr. Die Sklaverei ist nicht als solche kenntlich. Sie ist eine milde Sklaverei, sie hat lustige, kurze Hosen, die ein wenig an Freizeit erinnern. Man ist per du mit dem Massa, dem Sklavenhalter, man kennt ihn persönlich, gut sogar, denn man ist Er selbst. Wir selbst wählen diese Versklavung, denn sie ist demokratischen Ursprungs. Wir haben sie gewählt mit dem vollen Segen der demokratischen Mehrheit. Der Gesetzestext dazu, wenn es ihn denn so einfach gäbe, würde übersetzt wohl lauten: „Gut, Bürger, wir haben Euch verstanden: Ihr wollt nicht ewig arbeiten. Ihr wollt reisen, noch etwas erleben, der Rücken will nicht mehr und Ihr versteht die neue Arbeitswelt immer weniger: Die ganzen Vorschriften und Regeln, die dauernden Schulungen, die Evaluierungen, dann die vielen jungen Dinger, die jetzt das Sagen haben. – Verstehen wir alles, Ihr könnt gehen. Sollen die Jungen übernehmen. Aber Ihr müsst verstehen, dass das nicht umsonst ist. Zum Nulltarif ist das nicht zu haben. Ausweitung der Sozialversicherungspflicht, Steuern rauf, kalte Progression beibehalten, das ist mal Minimum. Und ohne Neuverschuldung wird es auch nicht gehen. Unsere Schuld ist das aber nicht! Schließlich habt Ihr das so gewollt. Also erklärt Ihr das euren Kindern, und warum sie so schuften müssen und ihnen nichts bleibt.“

Wobei die Arbeitsumstände selbst nicht schlimm sind: Viel Bürotätigkeit, klimatisiert selbstverständlich; Betriebskindergarten; einen Tag Home-Office, wenn man möchte. Es lässt sich aushalten. Es ist ja mehr die Kette, die stört, als die Arbeit selbst. Also die Vorstellung, dass man nicht aussetzen darf, weil sonst die Zahlungen weiterlaufen. Es ist mehr das Gefühl der Unentrinnbarkeit, ein Popanz an Verpflichtungen und Geldforderungen, den die Politik geschickt aufgebaut hat. Irgendwas ist ja immer: Ein Versicherungsbeitrag, eine Berufsmitgliedschaft, die Steuer-Vorauszahlung, die Steuer-Nachbemessung, dann die Krankenkasse, die Privatrente, der Unterhalt für das Kind, die Leasing-Rate fürs Auto, der Soli für den Osten, die Miete für die Wohnung, die Steuer für den Hund, der Beitrag für die Kirche, das Geld für den Kindergarten, der Riester für den Riester. – Rücklagen oder Eigentum kann man ja nicht aufbauen bei der Abgabenlast. Und jetzt auch noch der höhere Rentenbeitrag, die Krankenversicherung wieder nicht abgesenkt, der Soli verlängert. Es ist zum Verzweifeln, es gibt kein Entkommen, es ist Versklavung. Ist es da nicht wirklich besser, die Seite zu wechseln, die Kanonen zu drehen?

Man sagt, dass um die Fünfzig ein Umdenken bei den Menschen einsetzt. Hatte man bisher seine Entscheidungen ausschließlich auf Beruf und Familie ausgerichtet, wird plötzlich ein neues Ufer sichtbar. Die Rente erscheint am Horizont wie eine Insel über der Kimm. Erst sieht man nur die Palmwipfel, dann allmählich mehr. Umrisse zeichnen sich ab, Brandung wird erkennbar: Land in Sicht! Das Verspüren ihrer Nähe legt einen Schalter im Gehirn um. Ab jetzt findet man die hohen Rentenbeiträge gar nicht mehr so hoch, gar nicht mehr so schlimm. Solidarität ist schließlich wichtig und irgendwoher muss das Geld ja kommen. Es ist ja irgendwie auch das eigene Geld, oder? Und dass das Unternehmen wieder großzügig Handshakes an die Endfünfziger im Betrieb ausgegeben hat, sieht man jetzt auch in einem milderen Licht. Scheinen ja alle Seiten zufrieden damit. Gut, das Ungesetzliche daran ist ein kleiner Schönheitsfehler. Aber zeigt doch, dass da Spiel drin, dass nicht alles so bierernst ist mit dem gesetzlichen Rentenalter. Das macht doch Hoffnung für einen selbst! Und sowieso, wer bestimmt eigentlich darüber, wann man in Rente geht? Seit wann ist es eigentlich Angelegenheit des Staates zu sagen, wann Rente ist, wann man in Rente darf? Endlich wird die richtige Frage mit der falschen Absicht gestellt. Die Empörung trifft die künstliche Hürde, die der Staat uns in den Weg stellt, besser gesagt die Höhe derselben. Sie trifft nicht die grundsätzliche Frage, wieso der Staat sich ermächtigen konnte, unsere Rente zu verwalten und in Obsorge zu nehmen. Geschäftsunfähig wie wir scheinbar sind, brauchen wir die Unterschrift des Staates, seinen Segen.

Mein Vater und mein Großvater waren vom gesetzlichen Rentenalter kaum berührt. Beide selbständig, schieden sie irgendwann aus dem Erwerbsleben aus, als der Körper nicht mehr mitmachte oder die Geschäfte von allein zum Erliegen kamen. Es war jedenfalls ein allmählicher Übergang, ein sanftes Hinübergleiten, ein Sich-Allmählich-Damit-Abfinden, dass man älter geworden war, kürzer treten musste. Da sie als Selbständige kaum Rentenansprüche erworben hatten, spielte die Rente in ihrer Lebensentscheidung keine Rolle. Bei der Vorsorge fürs Alter hatten sie auf andere Stützen gebaut. Das reichte nicht nur für sie, sondern auch für ihre Frauen. Und reicht noch. In Rente gingen sie demnach, ohne um Erlaubnis zu fragen. Sie waren also selbstverständlich frei und alles andere wäre ihnen schlicht unverständlich gewesen. Wieso ist uns das Gegenteil heute selbstverständlich? Die Antwort ist nicht, wie wir vielleicht vermuten, dass es anders ungerecht wäre oder unsozial oder neoliberal. Oder weil es anders gar nicht ginge, so vielen Ruheständlern eine auskömmliche Rente zu finanzieren. Schon lange nicht mehr ginge. Nein, der wahre Grund ist, dass wir es nicht mehr anders wollen und vorstellen können. Wir betrachten es bereits mit den dankbaren Augen von Sklaven, die wissen, dass ihnen die Kette im Alter abgenommen wird – gnadenhalber.

Fürs Alter vorzusorgen liegt in der Natur des Menschen. Man muss es ihm nicht beibringen. Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der privaten Vorsorge fürs Alter. Die staatliche Rente dagegen existiert gerade mal wenige Jahrzehnte. Das ist ein winziger Schnipsel in dem langen Film der Menschheitsgeschichte. Und doch tut jeder so, als sei es nie anders gewesen. Die heute Lebenden kennen sie von Kindheit an und da liegt natürlich nahe zu vermuten, dass es immer so gewesen ist. Der Staat und seine Organe bemühen sich ebenfalls nach Kräften um diesen Eindruck: „Eines ist sicher, die Rente!“. Norbert Blüms legendärer Satz bekommt da erst seine ganze Bedeutung, nämlich die einer historischen Verankerung des staatlichen Rentensystems im Leben der Menschen. So bekommt sie etwas Gottgewolltes, beziehungsweise (passender für eine säkulare Gesellschaft) etwas Althergebracht-Ehrwürdiges. Sie hat einen langen, schlohweißen Bart wie Karl Marx und ist doch erst ganz jung. Erstaunlicherweise nennt man sie immer noch Rentenversicherung. Dabei hat sie nichts von einer Versicherung. Beispielsweise reichen die Versicherungsbeiträge aller bei weitem nicht aus, um den Versicherungsfall, also die Rente der Einzelnen, abzusichern. Der Rentenbeitrag wird zwar laufend angepasst, um so den Eindruck zu vermitteln, dass das System sich selbst trägt, aber schon bald wird der größte Haushaltsposten im Etat der Bundesregierung aus dem Zuschuss zur Rente bestehen. Dieser Haushaltsposten könnte natürlich nicht so hoch sein, wenn wir solide haushalten müssten und nicht ständig neue Schulden aufnähmen. Unsere Rente ist also auf Pump finanziert, nämlich jenem Pump, der dem staatlichen Zuschuss in die Rentenversicherung entspricht. Es ist quasi eine Schuldenrente, die wir auszahlen, und für die wir obendrein ein Leben lang versklavt werden. Wäre es nicht der Staat, der dies täte, und damit wir alle, die wir die demokratische Mehrheit stellen, wir würden es schlicht als unmoralisch anprangern. Tatsächlich gleicht die Rentenversicherung eher einer Hinterbliebenenversicherung, die man gezwungen ist abzuschließen, damit andere versorgt sind. Dies würde erst so richtig klar, wenn das gesetzliche Rentenalter tatsächlich auf jene Höhen angehoben würde, die im Gespräch sind: 67 Jahre, 69 Jahre, 74 Jahre und so weiter. Oder wenn der staatliche Zuschuss zur Rente zum Erliegen käme – wegen Haushaltskürzungen beispielsweise. Dann allerdings könnte man auch wieder von Versicherung sprechen, weil dann der Versicherungsfall nicht mehr die Regel, sondern eben ein Fall wäre. Jedenfalls würde es der Rente die Maske vom Gesicht reißen. – Bisweilen wird es selbst den Gutmütigsten zu viel: Zum Beispiel in dem kleinen Land, in dem ich lebe und das dem meinen oft so erschreckend ähnelt. Dort wurde die Pension des Zentralbankdirektors publik und sorgte für Aufregung: 30.000 Euro Pension monatlich. Donnerwetter, denkt man sich und wurde an den Skandal erinnert, den die Rente eines ehemaligen Bundesfinanzministers verursachte, als sie publik wurde. Die „Bild“-Zeitung giftete tagelang: „12.000 Euro Rente. Warum?“ Und das, obwohl dessen Rente ja nicht die Hälfte der Pension des Zentralbankdirektors betrug. Aber beide sind unsere Hinterbliebenen. Ihre üppige Versorgung und unsere nicht weniger üppigen Beiträge sind ein Hauptgrund für die demokratische Versklavung, in die wir gemündet sind. Wenn auch nicht der Einzige.

 

Der Weg des Geldes ist verschlungen, auch bei der Rente. Es ist ja nicht so, dass die bösen Alten die armen Jungen so schlimm ausbeuten würden und dann alles verjubelten. Das Geld fließt zwar und die, die es erarbeiten müssen, bezahlen es mit ihrer Freiheit. Aber es kommt auch wieder zurück, jedenfalls da, wo Kinder sind. Halb Südeuropa lebt mittlerweile von der Rente der Eltern – manchmal sogar von einer deutschen Rente, welche die Eltern noch als Gastarbeiter bei Daimler-Benz oder BASF erarbeitet haben. Die ist jetzt Gold wert. Kaum ein Junger in Griechenland, Spanien oder Italien, der nicht einen Mietzuschuss von den verrenteten Eltern bekäme. Oder gleich mit im Haus wohnt – mit Ende Zwanzig. Der Befund für Deutschland ist nicht viel anders: Auch hier haben sich die Finanzströme umgekehrt und die Ruheständler müssen jetzt die Jungen finanzieren. Das ist historisch einmalig. Man fragt sich nur, was das langfristig in einer Gesellschaft anrichtet? Die hohen Rentenzahlungen, die sich das System aufgebürdet hat, ersticken zwar die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder und verhindern Wachstum, aber sie sind auch zum unentbehrlichen Unterhalt für die von den Eltern und Großeltern unterstützten Jungen geworden. Dieses Geld kommt sicher, alles andere ist unsicher. So wandert das Geld zweimal: Einmal über die Rentenumlage an die Alten. Und von diesen wieder zurück an die Kinder. Für den Staat ist das praktisch. Er sitzt am Wegesrand und kann gleich zweimal die Hand aufmachen. Deswegen auch die hysterische Diskussion über privaten Besitz und wie dieser im Erbfall zu besteuern ist. Und ob Erben nicht überhaupt verboten gehört. Das progressive Netz-Feuilleton hat man schon vorgeschickt: „Erben ist böse, Besitz schlecht, äh, – ererbter Besitz schlecht!“ So fällt bald einer der letzten Bastionen gegen die totale Vereinnahmung, nämlich das Recht, seinen Nachkommen etwas zu hinterlassen. Eine Erbschaft ist ja nicht nur Geld und Vermögen, das man weiterreicht, sondern auch familiäre Identität und Verbindung, die generationsübergreifend gespannt wird. Es ist familiäres Vermögen im eigentlichen Sinne, denn es vermag der Idee der Familie einen Kontext über das eigene Leben hinaus zu geben. Und es wird wohl die letzte Zuflucht vor der demokratischen Versklavung sein. Deswegen wird Erben ideologisch bekämpft. Ein Erbe kann einzelne vom Frondienst für das anonyme System freistellen und schafft somit eine unabhängige, staatsfreie Versorgung. Das darf man nicht zulassen. Lieber werden wir verordnen, dass ein jeder sein Geld bis zum Tod verjubelt haben muss. Beispielsweise auf Karibik-Kreuzfahrten; oder für Schönheitsoperationen und Wellness-Anwendungen; oder mit leichten Frauen in der Karaoke-Bar in Thailand; oder im privaten Luxus-Seniorenstift mit eigenem Bootsanleger. Ein Grundzug des Menschen, gerade auch der Deutschen, nämlich etwas hinterlassen zu wollen, etwas für andere aufgespart zu haben, wird wohl bald verboten werden. Dann ist der Mensch endgültig im Konsum angekommen. Es wundert nicht, dass ausgerechnet in den nihilistischen Kreisen des amerikanischen Silicon Valley die Idee eines Erbschaftsverbotes am meisten Verbreitung findet. Es passt zu ihren Allmachts- und Versklavungsphantasien. Und zu ihren Rollkragenpullovern und Glatzköpfen.

Wie reich wir sind und wie viel Wohlstand die eigene Versklavung ermöglicht, sieht man erst beim Blick auf den Schuldenatlas. Dieser zeigt die Länder mit den höchsten Schuldenständen. Es sind durchwegs die reichen, westlichen Demokratien, allen voran die USA. Die Hungerleider-Staaten Afrikas und andere arme Schlucker haben keine Schulden, da man ihnen offenbar nichts leiht. Nicht einen müden Euro. Schulden muss man sich also leisten können. Es ist ein wenig wie in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts, wo die Adligen unverdrossen Schulden machen und stets über ihre Verhältnisse leben. Trotzdem kommt immer von irgendwoher Geld. Wie diese Grafen und Baronessen im Moskau des 19. Jahrhunderts leben wir über unsere Verhältnisse, einfach weil wir können. Und weil irgendwer glaubt, dass er sein Geld schon wieder sehen wird. So haben wir uns an Schuldenstände gewöhnt, die unser menschliches Vorstellungsvermögen längst übersteigen. Jedes Jahr kommen neue hinzu, auch wenn die politische Rhetorik stets in eine andere Richtung weist. Der Trend ist intakt: Wir verschulden uns weiter. Diese Schulden sind demokratische Schulden, obwohl wir nie unsere Erlaubnis dazu gegeben haben. Niemand kam und sagte zu uns: „Wir würden gerne dieses oder jenes finanzieren und da müssten wir ausnahmsweise einen Kredit aufnehmen. Du verstehst schon, eine Investition selbstverständlich, wo das Geld wieder zurückkommt. Aber wir brauchen deine Bürgschaft und hier unten deine Unterschrift.“ Nein, niemand war mit diesem Anliegen bei mir an der Tür. Ich hätte gehört, wenn es geklopft hätte. Seit fünfzig Jahren findet dieser Schuldenmacher es nicht nötig, sich bei mir vorzustellen. Das ist dreist. Denn von mir erwartet er, dass ich dafür bürge und irgendwann bezahle. Und wenn nicht ich, dann meine Söhne.

Demokratische Schulden sind anders – scheinbar. Wo im Privatleben das Schuldenmachen schnell etwas Anrüchiges bekommt, nach Abstieg, Spielsucht und Scheidung riecht, hat das demokratische Schuldenmachen eine blitzsaubere Weste, weil ja alle dahinter stehen. Achtzig Millionen bürgen doch zur Not. Also was soll da schief gehen? Aber sie bürgen nicht nur, sondern sie sind auch gewinnbeteiligt. Da unsere Schulden in immer größerem Masse in den Konsum fließen, bekommt auch jeder seinen schuldenfinanzierten Extra-Konsum. „Alle haben ihren Anteil, jeder bekommt was ab.“ Mit diesem Satz rechtfertigt der größenwahnsinnige Milo Minderbinder in Joseph Hellers Roman Catch 22 seine aberwitzigen, kapitalistischen Unternehmungen als Kantinengefreiter während des Krieges, der mit Freund und Feind gleichermaßen Geschäfte macht. Wichtig ist, dass alle beteiligt sind, dann lässt sich jedem alles verkaufen. Sogar neue Schulden, auch wenn die alten schon nicht mehr zu überblicken sind. Wie in einer romantischen Räuberbande geht man stets auf neue Schuldenbeute und verteilt diese anschließend gerecht untereinander. „Und alle haben ihren Anteil!“

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