Der Pferdestricker

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Pferdestricker
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Thomas Hölscher

Der Pferdestricker

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Samstag, 8. Juli 2006

Prolog 1

Prolog 2

Prolog 3

Prolog 4

Prolog 5

Tagebuch

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

Impressum neobooks

Samstag, 8. Juli 2006

Trotz der wegen der wochenlangen Hitze unvermeidlichen braunen Flecken sah die Grasfläche wie ein geradezu gepflegter Rasen aus. Zum Ufer hin fiel sie leicht ab und endete in einem schmalen Streifen Sand, der nur ab und zu vom Wasser des Sees überspült wurde.

Auf dem Rasen saßen zwei Männer.

Der eine Mann war Anfang bis Mitte 50, mittelgroß und schlank und saß mit scheinbar nach hinten auf den Händen abgestütztem Oberkörper und weit nach vorn gestreckten Beinen auf dem Rasen; in Wirklichkeit waren seine Hände mit metallenen Handschellen auf dem Rücken zusammengebunden. Er trug eine verwaschene Jeans, Turnschuhe und ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sein kurzgeschnittenes, dunkles Haar war an den Schläfen leicht ergraut und auch in seinem Schnäuzer hatten sich einzelne Haare bereits verfärbt.

Der andere Mann war Mitte bis Ende 20, auch er war schlank, aber größer und kräftiger als der ältere Mann, sein ebenfalls kurzgeschnittenes Haar etwas heller. Auch er trug eine Jeans und ein T-Shirt, hatte die Beine angewinkelt und die Arme scheinbar lässig auf seine Knie gelegt. In der rechten Hand hielt er eine Pistole.

Wo hast du dieses Ding her?, fragte der ältere Mann und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Waffe in der Hand des jüngeren Mannes.

Sie haben gar kein Recht, hier irgendwelche Fragen zu stellen, antwortete der jüngere.

Ich weiß es ohnehin, sagte der ältere Mann unbeeindruckt. Das ist die Dienstwaffe von Herrn Westermann.

Obschon ab und zu eine leichte Brise vom Wasser her über das Gras wehte, war es sehr heiß. Die Sonne schien von einem völlig wolkenlosen Himmel. Die Hitze ließ die Luft über dem Wasser des Sees vibrieren und die Konturen des gegenüberliegenden Seeufers verschwimmen.

Wo sind wir hier?, fragte der ältere Mann, und der jüngere grinste nur. Wo werden wir schon sein? Sie wissen es ja ohnehin.

Keine zehn Meter von den beiden Männern entfernt stand auf der zum Wasser leicht abfallenden Grasfläche ein riesiger junger Kerl, dem es offenbar schwer fiel, seine Nacktheit vor den beiden anderen Männern zuzulassen.

Warum lässt du nicht wenigstens Herrn Westermann in Ruhe?, fragte der ältere Mann und der jüngere schüttelte unwirsch den Kopf. Wer ist Westermann? Ich kenne keinen Westermann?

Das ist doch menschenverachtend, sagte der ältere Mann und der jüngere grinste. Sie haben Recht, stimmte er schließlich zu, und ich habe noch nie einen Hehl daraus gemacht. Ich verachte die Menschen. Er richtete die Pistole in seiner Hand auf den nackten Mann. Aber ich liebe die Götter. Und die heißen nun mal nicht Müller, Meier oder Westermann. Er lachte kurz, und als ärgere ihn sein eigenes Lachen, fuhr er den nackten Mann plötzlich an: Na los, du weißt, was zu tun ist.

Ohne den Sprecher auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte sich der Riese einem kleinen weißen Pferd zu, das mit den Zügeln an einem der Büsche direkt am Seeufer angebunden war. Vorsichtig löste er den Lederriemen aus den Ästen und hob ihn über den Kopf des Tieres. Nicht dort, sagte der jüngere Mann entschieden, ohne auch nur für eine Sekunde die Waffe in seiner Hand nicht auf den nackten Körper vor sich zu richten. Geh ins Wasser!

Der riesige Kerl fasste das Tier am Halfter und führte es langsam neben sich her in den See, bis seine Füße bis über die Knöchel vom Wasser überspült wurden. Dann stellte er sich in dem seichten Wasser neben das Tier, strich dem mit der rechten Hand über den Rücken und legte schließlich sein rechtes Bein auf den Rücken des Tieres. Als es ruhig blieb, stieß er sich mit dem linken Bein vom Boden ab und rutschte ganz auf den Tierrücken.

Die Füße des Riesen reichten an beiden Seiten bis in das seichte Wasser und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seine Füße unter dem weißen Tierkörper sich berühren zu lassen. Aber er schien geradezu ängstlich darauf bedacht, jede Bewegung zu vermeiden und saß regungslos auf dem kleinen Tier.

Perfekt, sagte der jüngere Mann so leise, dass schon der ältere ihn kaum verstehen konnte. Ganz einfach perfekt.

Wo hast du diese Tiere her?, fragte der ältere Mann. Du nimmst doch nie irgendeines, du suchst sie aus.

Der jüngere sah ihn wie überrascht an, als falle es ihm schwer, in die Welt seines Gegenüber zurückzukehren. Ganz richtig, sagte er schließlich und nickte heftig zustimmend mit dem Kopf. Ich suche sie genau aus. Er zögerte einen Augenblick. Sie werden natürlich wissen, was ein Einhorn ist.

Das ist kein Einhorn, sagte der ältere Mann schnell und mit einem Lachen, das schnell wieder aus seinem Gesicht verschwand, als sei es auch ihm in der Situation augenblicklich als völlig unangebracht deutlich geworden. Das ist ein Pferd.

 

Der jüngere lachte leise. Natürlich ist das kein Einhorn, sagte er schließlich. Ich bin doch nicht verrückt. Und es soll auch gar nichts anderes sein als das, was es ist. Als warte er auf einen erneuten Einwand seines Gegenübers, ließ er einen Augenblick verstreichen, bevor er fortfuhr. Aber Sie haben Recht, ich suche sie genau aus, und das kostet jedes Mal viel Zeit und Mühe. Die meisten Menschen heutzutage verschwenden ihre Zeit und Energie für völlig unwichtige Dinge. Ich nicht. Es schien, als wolle er dem älteren erneut eine Möglichkeit zu einem Einwand geben. Sie haben keinen Respekt mehr vor Göttern, fuhr er schließlich fort, und seine Stimme klang, als könne er sich nicht entschieden, ob er meinte, was er sagte, oder ob er dazu selber in einer seltsam ironischen Distanz stand. Und wer sich um seine Götter nicht sorgt, der darf sich schließlich nicht wundern, wenn er keine Träume mehr hat. Und als habe diese Behauptung in jeder Beziehung nur unzureichend das zum Ausdruck gebracht, was er eigentlich hatte sagen wollen, fügte er mit plötzlich äußerst aggressivem Tonfall hinzu: Wenn alle in ihrer banalen und langweiligen Scheiße ersticken. Er riss mit der linken Hand ein Büschel Gras aus und warf es wie ein trotziges Kind von sich. Wissen Sie eigentlich, fragte er nach einer Weile, dass auch Michelangelo so gearbeitet hat, er hatte einen adeligen Freund, der .......

Du bist nicht Michelangelo, unterbrach ihn der ältere Mann ganz entschieden, du bist ganz einfach ein Mörder. Ein brutaler Serienmörder. Und noch bevor er fortfahren konnte, hatte der jüngere ihn seinerseits unterbrochen: Sie müssen aufpassen mit dem, was Sie sagen. Sie müssen gut aufpassen mit dem, was Sie sagen, flüsterte er, als dürfe der Riese auch nicht ein Wort davon mitbekommen. Und doch verstärkte sein Flüstern noch die unverhohlene Drohung seiner Worte. Beim Sprechen ließ er den nackten Mann vor sich keine Sekunde lang aus den Augen.

Womit hast du Westermann gezwungen, hierher zu kommen, fragte der älter Mann.

Der jüngere Mann schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er blickte mit regungslosem Interesse auf das weiße Tier, das ganz plötzlich energisch den Kopf bewegt und versucht hatte, nach vorne zu gehen und daran von dem schweren Mann auf seinem Rücken eben so energisch gehindert wurde.

Womit hast du Westermann gezwungen, hierher zu kommen?, fragte der ältere noch einmal, und der jüngere Mann sah ihn überrascht an. Ich habe niemanden zu irgendetwas gezwungen.

Doch, das hast du, und wahrscheinlich hast du auch Inga Weber entführt.

Warum sollte ich das tun?

Hast du auch Inga entführt?

Inga! Der jüngere Mann schüttelte ärgerlich den Kopf. Inga Weber! Wer ist denn das? Und warum sollte ich so etwas tun?

Weil Westermann sonst ebenso wenig hierher gekommen wäre wie ich.

Der junge Mann lachte kurz. Doch, zumindest Sie wären hierher gekommen, wenn ich Ihnen nur gesagt hätte, dass er auch hier ist.

Wer?

Ihr Gott. Er lachte leise. Oder besser einer Ihrer vielen Götter.

Lächerlich!, sagte der ältere und seine Stimme klang verächtlich. Ich bin hier, weil du auch Christiane in deine Gewalt gebracht hast. Für kein Geld der Welt wäre ich ansonsten irgendwo hingegangen, wenn ich nur geahnt hätte, dass du dort auch bist.

Zum ersten Mal wandte der junge Mann seinen Blick wieder dem älteren zu. Und warum nicht?

Der ältere Mann sagte nichts.

Warum nicht, habe ich gefragt. Die Stimme des jüngeren Mannes hatte nun einen nicht mehr zu überhörenden bedrohlichen Ton angenommen.

Du weißt es doch selber, also wozu soll ich es dir auch noch sagen?

Weil ich es hören will. Die Augen des jüngeren Mannes waren nun unentwegt auf den älteren gerichtet, bis der von sich aus dem Blick des anderen mit einer arroganten Mimik auswich.

Blitzschnell hatte der jüngere Mann mit der linken Hand eine neben ihm liegende Gerte gefasst und sie dem älteren mit voller Wucht quer über das Gesicht geschlagen. Weil Sie mich für ein Schwein halten, darum, schrie der junge Mann. Für ein verrücktes, perverses Schwein. So ist es doch?

Der ältere Mann hatte die Möglichkeit, die Hände schützend vor sein Gesicht zu nehmen, schon wegen der hinter seinem Rücken zusammengebundenen Hände nicht gehabt. Aber ganz offensichtlich hatte er mit einer solchen Reaktion auch überhaupt nicht gerechnet. Über die rechte Gesichtshälfte zog sich nun ein immer dunkler werdender roter Streifen, die Oberlippe war aufgeplatzt und blutete auf das weiße Fußballtrikot.

So ist es doch?, rief der jüngere Mann noch einmal außer sich vor Wut und sah den älteren erwartungsvoll an.

Der schüttelte nur langsam den Kopf. Nein, sagte der schließlich leise. So ist es nicht.

Sekundenlang noch fixierten die Blicke des jüngeren den anderen Mann, bis sich seine Gesichtszüge urplötzlich aufhellten und er mit der Gerte auf das Gesicht des älteren Mannes deutete. So ein Schmiss im Gesicht steht Ihnen übrigens richtig gut, sagte er schließlich. Macht Sie männlich. Er lachte kurz. Noch männlicher.

Es war eine Zeit lang still, und als sei ihm diese Stille schließlich zu peinlich geworden, sagte der jüngere plötzlich: Eigentlich müssten Sie mich doch fragen, warum ich ausgerechnet Sie ausgesucht habe.

Ich frage es mich aber nicht.

Doch, natürlich haben Sie es sich schon häufig gefragt. Das letzte Mal haben Sie es sich in der Wohnung Ihres Freundes Sundermann gefragt. Ich weiß es doch.

Man sollte sich schämen, wenn man fremde Menschen in deren Wohnung abhört.

Einen Augenblick lang schien der jüngere Mann diese Bemerkung des älteren nicht einordnen zu können; dann ging er darauf mit keinem Wort ein. Es war wegen Milewski, sagte er stattdessen schließlich. Milewski hat mir alles über Sie erzählt.

Ich wüsste nicht, was Milewski dir über mich erzählt haben sollte.

Ach nein? Der jüngere Mann grinste breit.

Nein.

Dass Sie sogar seine Scheiße gefressen hätten, wenn er es verlangt hätte, das hat er mir erzählt.

Der ältere Mann schüttelte den Kopf, als habe ihn die Geschmacklosigkeit der Bemerkung des jüngeren schockiert. Ich habe noch nie Scheiße gefressen, und Gottseidank ist auch Volker Milewski nie so weit gesunken, etwas Derartiges von mir zu verlangen.

Wirklich nicht?, fragte der jüngere Mann höhnisch.

Nein, wirklich nicht.

Abrupt stand der jüngere Mann auf. Na gut, sagte er und wandte sich an den riesigen Kerl. Komm her!, rief er. Dann richtete er die Pistole auf den älteren Mann. Und Sie stehen auf!

Der Mann auf dem Pferd trieb das Tier vorsichtig aus dem Wasser und hielt es keine zwei Meter von den anderen beiden Männern entfernt an. Die ganze Zeit hielt der jüngere Mann dabei die Pistole auf ihn gerichtet. Es sieht wahnsinnig aus, sagte er leise. Ganz einfach wahnsinnig.

Es ist widerlich, sagte der ältere Mann und wandte den Blick ab.

Warum denn das?

Es ist entwürdigend, einen anderen Menschen zu so etwas zu zwingen.

Hatte der nackte Mann bisher wie versteinert auf dem kleinen Tier gesessen, als sei er nicht mehr als eine notwendige Requisite in einem Theaterstück, so war nun deutlich zu sehen, dass sein Gesicht vor Scham rot wurde, ein uralter Reflex, der sich jeder bewussten Kontrolle entzog.

Entwürdigend!, wiederholte der junge Mann und gab seiner Stimme einen übertrieben empörten Klang. Und zu gar nichts muss man diesen Körper zwingen. Der will das, der genießt das doch.

Es ist einfach entwürdigend, wiederholte der ältere entschieden und wandte erneut den Blick ab.

Mit der Gerte berührte der jüngere Mann das Kinn des älteren. Sie sollen ihn ansehen.

Wozu das?

Weil ich es so will. Erst als der ältere den Blick wieder dem Mann auf dem Tier zugewandt hatte, fuhr der jüngere fort. Man kann es doch sehen. Dieses Vieh ist zu nichts anderem erschaffen als dazu, von diesem Körper beherrscht zu werden. Und dieser Körper ... Er berührte mit der Gerte das Knie des nackten Mannes und fuhr langsam über dessen Oberschenkel nach oben, als müsse er dem anderen ganz genau zeigen, was dieser zu beobachten hatte, ohne selber genau zu wissen, was das eigentlich war. Dieser Körper ist zu nichts anderem da als dazu, diese armselige Kreatur zu beherrschen. Alle armseligen Kreaturen. Man kann es doch sehn! Schau doch genau hin!

Was soll ich sehen?

So und nicht anders ist die Welt. Brutal und genial.

Die Welt kann man verändern.

Einen Augenblick lang sah der jüngere den älteren Mann an, als habe der gerade allen Ernstes etwas Ungeheuerliches behauptet, das jeder Vorstellung des gesunden Menschenverstandes zuwiderlief. Vielleicht kann man das, räumte er schließlich ein, wir tun es ja andauernd, aber das kann man doch gar nicht wollen.

Man muss es sogar.

Warum denn?

Zum Beispiel weil dieser Körper Stefan Westermann heißt und in keiner Weise da ist für Dinge, zu denen du ihn zwingst.

Der jüngere Mann schien einen Augenblick irritiert, dann lachte er kurz. Und wie über die Naivität seines Gegenüber amüsiert schüttelte er schließlich den Kopf. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich über meinesgleichen auch alles gelesen habe, was irgendwelche Seelenklempner sich ausgedacht haben. Sie wollen mir weismachen, dass ich nichts als ein perverser Serienmörder bin, und nun machen Sie mich auf Individuen aufmerksam, geben ihnen allen Namen, weil mich das angeblich daran erinnern soll, dass ich es mit wirklichen Menschen und nicht mit beliebigen Opfern oder Sachen zu tun habe. Er grinste. Ich weiß das doch alles. Sie können sich ihre Bemühungen ersparen.

Eine Zeitlang war es still. Manchmal glaube ich, dass auch Sie nur Angst haben, fuhr der jüngere schließlich fort.

Wovor sollte ich Angst haben?

Vor diesem Bild natürlich. Wieder wies der jüngere Mann auf den nackten Mann auf dem Pferd.

Ich habe davor keine Angst, aber es empört mich und ich finde es widerlich.

Sie haben Angst, fuhr der andere unbeirrt fort, weil es Sie an Milewski erinnert.

Warum sollte es mich an Volker Milewski erinnern.

Weil es deine Beziehung zu Milewski auf den Punkt bringt: Der ist oben, du bist unten. Du bist doch auch nichts anderes als eine armselige Kreatur. Das ist die Realität, und man kann das akzeptieren, oder man geht daran zugrunde.

Niemals. Ich war niemals unten, sagte der ältere Mann entschieden. Und ich will vor allen Dingen nicht, dass du mich duzt. Für Sekunden schien der jüngere Mann plötzlich völlig irritiert, schien mit den Augen hilflos und ohne jedes Ziel zwischen Gegenständen in der nächsten Umgebung hin und her zu irren, nur um den älteren nicht ansehen zu müssen. Außerdem, fuhr der ältere schließlich fort, ist Milewski tot. Deine Götter können also sterben. War dir das eigentlich klar?

Natürlich!, stimmte der jüngere sofort zu. Nur dumme Menschen wollen das nicht glauben. Natürlich ist jeder Gott nur ein Firlefanz in unserem Kopf. Ein Traum. Eine Sehnsucht. Sonst nichts.

Irgendwo in der Ferne war das Aufheulen eines Motorradmotors zu hören, es steigerte sich für einen Moment zu provozierender und fast unverschämter Lärmbelästigung und entfernte sich dann in einer scheinbar menschenleeren Szenerie. Für einen kurzen Augenblick schien das Tier plötzlich unruhig werden zu wollen, und der junge Mann richtete die Pistole auf den nackten Mann. Und Sie setzen sich wieder auf den Boden!, sagte er zu dem älteren. Um mit den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen keine hektischen Bewegungen zu verursachen, ließ der sich langsam in das trockene Gras sinken. Als müsse er sich über die Richtigkeit der neuen Konstellation absolute Sicherheit verschaffen, ließ der jüngere seinen Blick hektisch zwischen den beiden anderen Männern hin- und herschweifen. Erst als alles seine Richtigkeit zu haben schien, setzte auch er sich wieder neben den älteren.

Weißt du es eigentlich selber?, fragte der plötzlich.

Was weiß ich selber?

Warum du gerade mich ausgesucht hast.

Ich habe es doch gesagt: Seelenverwandtschaft.

Und ich habe dir gesagt, dass das nicht zutrifft.

Der jüngere Mann sah den älteren eine Zeit lang an, als sei er überrascht, geradezu peinlich berührt, und wolle ihm nichts zu dessen Bemerkung einfallen; schließlich hob er nur die Schultern. Schade, wenn es so ist. Aber dann kann ich es eben nicht ändern.

Nein, du kannst es nicht ändern, stimmte der ältere ihm zu. Aber warum fragst du nicht einmal mich, warum ich dich ausgesucht habe.

 

Warum sollte ich das tun?

Mach’s doch einfach.

Also: Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?

Der ältere Mann schien einen Augenblick zu überlegen.

Weil Sie mich verachten, sagte der junge Mann schnell, als sei ihm die plötzliche Stille peinlich oder könne er wie ein kleines Kind die Antwort auf irgendeine Frage gar nicht erwarten.

Der ältere Mann schüttelte langsam den Kopf. Nein, deshalb nicht.

Warum dann?

Noch immer schien der ältere Mann in Gedanken versunken, als müsse er jedes der Wörter auf die Goldwaage legen, die das zum Ausdruck bringen sollten, was er sagen wollte. Wenn wir uns früher kennen gelernt hätten, sagte der ältere Mann schließlich leise und langsam und doch besonders akzentuiert, ..... ich hätte das Lied ohne Worte für dich gespielt. Nur für dich. Darum.

Für Sekunden schien der jüngere völlig irritiert. Fassungslos schaute er den älteren Mann an. Meinen Sie das im Ernst?, fragte er schließlich.

Der ältere Mann nickte. Das meine ich im Ernst. Als müsse er die Glaubwürdigkeit des Gesagten noch unterstreichen, fügte er nach einer Weile hinzu: Und ich bin mir sehr sicher, es wäre ein Liebeslied geworden.

Und jetzt ist es natürlich zu spät?

Nicht ganz. Das liegt ausschließlich an dir.

Warum nicht ganz.

Weil ich nicht will, dass sie dich abknallen, sagte der ältere Mann schnell und sah sein Gegenüber konzentriert an. Inzwischen wissen sie natürlich längst, wer du bist, und es wird für sie überhaupt kein Problem sein herauszufinden, wo du dich im Augenblick aufhältst. Sie werden hier alles abriegeln, umstellen, ein SEK hierher bringen und irgendein Scharfschütze wird dich letztlich erschießen.

Ja und, vielleicht will ich das doch.

Ich will es aber auf gar keinen Fall.

Warum nicht?

Der ältere Mann schüttelte langsam wie widerwillig den Kopf.

Warum nicht?, fragte der jüngere noch einmal. Bitte sag es mir doch.

Ich habe es dir doch schon gesagt. Was willst du denn noch mehr?

Ganz langsam legte der jüngere Mann die Pistole vor sich in das Gras, rutschte auf den Knien bis dicht neben den immer noch mit nach hinten gestreckten Händen regungslos auf dem Boden sitzenden älteren Mann zu und sah dem unentwegt ins Gesicht. Es tut mir leid, sagte er schließlich, und noch bevor der ältere etwas sagen konnte, strich der jüngere mit der Hand leicht über den inzwischen verkrusteten Striemen im Gesicht des älteren. Es tut mir wirklich leid, sagte er kaum hörbar. Ich habe dich nicht schlagen wollen.

Ich weiß.

Als sich ihre Köpfe fast berührten, sagte der ältere Mann mit so leiser Stimme, als müsse er endgültig sicherstellen, dass niemand außer dem jüngeren Mann ihn hören konnte: Was ist mit Janosz?

Du weißt doch bestimmt, dass er seit 16 Jahren tot ist.

Und Jonas Z.? Ist der auch tot?

Ja, der auch.

Ganz offensichtlich hatten beide den Riesen auf dem Pferd völlig aus den Augen verloren. Urplötzlich hatte der hinter dem jüngeren Mann gestanden. Pass auf!, rief der ältere noch, aber da hatte der riesige Kerl den jungen Mann bereits mit einem wuchtigen Tritt gegen den Kopf wie leblos zu Boden gestreckt.