Zwanzig Stunden in Tibet

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Zwanzig Stunden in Tibet
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Zwanzig Stunden in Tibet
Traum und Trauma einer Filmexpedition
Thomas Junker

Inhalt

PROLOG

TRAUMA – TEIL 1: SCHMERZEN

TRAUM – TEIL 1: VON ISLAMABAD BIS KASHGAR

TRAUMA – TEIL II: DAS ERSTE KRANKENHAUS – NEW TINGRI

TRAUM – TEIL II: VON KASHGAR BIS MAZAR

TRAUMA – TEIL III: DAS ZWEITE KRANKENHAUS – LHAZE

TRAUM – TEIL III: VON MAZAR BIS DAHONGLIUTAN

TRAUMA – TEIL IV: DAS DRITTE KRANKENHAUS – SHIGATZE

TRAUM – TEIL IV: VON ALI ZUM MOUNT EVEREST

TRAUMA – TEIL V: DIE ERLÖSUNG

EPILOG

Bildtafeln

Reiseroute - Karten

Über den Autor

Originalausgabe: 1. Auflage 2008

Print: ISBN 978-3-939611-31-8

eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-116-3

eBook MOBI: ISBN 978-3-96285-117-0

Copyright © 2008/2020 by Salier Verlag, Leipzig u. Hildburghausen und Thomas Junker

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christine Friedrich-Leye, Leipzig

Karten: Kartographisches Büro Borleis & Weis, Leipzig

Abbildungen: © Thomas Junker, Charly Hafele, Steffen Müller

Herstellung: Salier Verlag, Bosestr. 5, 04109 Leipzig

www.salierverlag.de

Weitere Informationen zu den Filmen von Thomas Junker, aktuelle Projekte und weitere Fotografien der Tibet-Expedition „Wo die Erde den Himmel küsst“ finden Sie unter:

www.thomasjunker.de

PROLOG

Dieser Anblick, er war grandios. Er fesselte mich, berauschte meine Sinne. Wir standen in Tibet auf einem Hügel östlich des Pang-La-Passes auf 5 350 m Höhe. Unter uns, in einigen Tälern, gingen Schneeschauer nieder. Dahinter in einer majestätischen, ja göttlichen Pracht der Hauptkamm des Himalajagebirges mit dem Berg der Berge, dem 8 850 m hohen Mount Everest. Darüber das satte Blau des Himmels mit einigen wenigen weißen Wolken.

Lässt sich dieser Anblick mit etwas anderem vergleichen, wenn man Berge liebt? Ich hatte viel erwartet von jenem Augenblick. In Vorbereitung auf die Expedition viele Bilder gesehen, Geschichten gelesen und Erzählungen gelauscht. Aber dann stand ich gemeinsam mit meinem Freund und Filmexpeditionspartner Steffen Müller dort oben und konnte diesen Anblick kaum fassen. Nicht in Worte und auch nicht in seiner wahrhaften Dimension. Zu gewaltig waren die Gefühle, zu groß das Panorama. Eine Vielzahl an Sechs- und Siebentausendern, dazu gleich sechs Achttausender. Im Osten der Kanchenzönga, in Richtung Westen folgend Makalu, Lhotse, Mount Everest, Cho Oyu und Shisapangma.

Noch am Morgen waren wir zu Gast im Kloster Rhongbuk am Fuße des Mount Everest gewesen, hatten dort für meine fünfteilige MDR-Reportage „Wo die Erde den Himmel küsst“ gedreht. Es war der 35. Tag unserer Filmexpedition, die uns vom pakistanischen Islamabad über den Karakorum-Highway ins chinesische Kashgar und weiter am Südrand der Taklamakan-Wüste nach Dahongliutan und schließlich über das Tibetische Hochland zum Everest führte. Unsere weiteren Stationen sollten Lhasa und schließlich weit im Norden Golmud sein.

Wir wollten für den Mitteldeutschen Rundfunk einen Film über Land und Leute produzieren – eine Reportage drehen, in der wir die Herzen und Seelen der Menschen porträtieren wollten, die wir am Wegesrand treffen würden.

Doch diese Reise war in vielerlei Hinsicht eine extreme. Wochenlang bewegten wir uns in Höhen zwischen 4 300 und 5 400 m. Allein sieben Jahre hatte es gedauert, bis wir endlich die Genehmigung für die erste Durchquerung Tibets mit Motorrädern und Filmkamera erhielten. Für eine Strecke, über die es bis zum Jahr 2001 so gut wie kein Filmmaterial gab. Unsere beiden Motorräder waren dabei eigenartiger Weise der Schlüssel für die Erteilung der Drehgenehmigung.

Dass wir diese Filmexpedition nur in Begleitung eines staatlich verordneten Aufpassers unternehmen durften, sollte eine Belastung, aber zugleich auch Glück sein. Denn Minuten nach dem traumhaften Erlebnis oberhalb des Pang La wurde die Reise zu einem Trauma. Steffen brach mit grauenvollen Schmerzen, wie er sie bis dahin nicht gekannt hatte, zusammen. Es sollten 20 Stunden folgen, in denen der Jeep und der tibetische Fahrer des chinesischen Offiziellen zur entscheidenden, lebensrettenden Rolle werden sollten.

Es waren 20 Stunden voller Ungewissheit, Verzweiflung, Angst, gefühllosem Funktionieren, unbeschreiblichen Schmerzen sowie endlosen Kilometern durch das nächtliche Tibet auf der Suche nach einem Arzt. Und es waren Stunden voller Entscheidungen und Erfahrungen, die wir nie wieder in unserem Leben treffen wollen.

Das alles geschah im Jahre 2001. Nun, sieben Jahre später, schreibe ich dieses Buch, bevor die Erinnerungen sich verklären, Details verloren gehen. Die dramatische Rettungsaktion, sie findet emotional vielleicht erst mit diesen Zeilen ein Ende für Steffen und mich. Mag sein, dass unsere Expedition erst jetzt wirklich beendet ist.

Die Wochen bis zum Unglückstag am Pang La, in denen wir durch das Karakorum-Gebirge, den Westen Chinas und schließlich durch Tibet fuhren, sie waren ein Traum, zeigten vor allem Tibet von einer Seite, wie es bis dahin kaum bekannt war.

Auch darüber will ich berichten. Denn im Jahr 2008, dem Jahr der Olympischen Spiele in Peking, scheint Tibet in eine Unruhe gekommen zu sein, wie wir sie nicht erlebt haben. Vieles, was in diesem Zusammenhang über die Medien transportiert wird, erscheint mir so fremd, haben wir doch andere Erinnerungen an Tibet.

In die Ereignisse zwischen Traum und Trauma im Jahr 2001 fielen zu allem Überfluss auch noch die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon bei Washington D.C. Am 11. September waren wir in Shinquanhe im Westen Tibets. Nur durch ein Telefonat erfuhren wir von den Ereignissen. Die nächsten Tage waren wir in Sachen Kommunikation von der Außenwelt abgeschnitten. Was war wirklich in Amerika geschehen, wie würde die Welt reagieren, wie vor allem die USA? Würde es Angriffe auf das nahe Afghanistan geben, und wenn ja, wann? Und wie würde sich China positionieren? Mögliche Fluchtwege Richtung Süden nach Indien und Nepal sollten uns tagelang beschäftigen.

Leipzig, im Sommer 2008

Thomas Junker

TRAUMA – TEIL 1: SCHMERZEN

Die Abfahrt von unserem prächtigen Aussichtshügel hinunter zum Pang-La-Pass dauert keine zehn Minuten. Mit unseren beiden geländetauglichen Motorrädern der Marke KTM Adventure 640 ist es ein feiner Spaß. Am Pass selbst ist ein kleiner Holzverschlag. Straßenarbeitern dient er bei Stürmen als Notunterkunft. Heißen Tee und einen Teller Suppe gibt es immer. Da wir noch auf unseren staatlich verordneten Aufpasser John warten müssen, entschließen wir uns, auch einen Tee zu trinken.

Mit John ist es ein ewiges Katz- und Mausspiel. Eigentlich dürfen wir uns ohne ihn nicht bewegen. Aber er ist mit einem Jeep unterwegs, den er natürlich nicht selbst fährt, sondern vom Tibeter Gumbu steuern lässt, dem der Wagen auch gehört. Und das ist unser Vorteil: Mit unseren Motorrädern sind wir auf den oftmals miserablen Pisten wesentlich wendiger und schneller unterwegs. So kann ich meist ohne Erlaubnis filmen, was und wen ich will. Unser Vorsprung reicht fast immer aus, um Ausflüge in benachbarte Seitentäler oder auf umliegende Berge zu machen. Der Jeep chinesischer Bauart kommt zwar überall durch und auch an, dies aber mit atemberaubender Langsamkeit. Gumbu schont seinen Wagen, er ist ihm wichtig. Und längst hat auch er den Vorteil für uns entdeckt, steuert dem nicht entgegen.

John ist dies ein Dorn im Auge und wir alle bekommen regelmäßig mahnende Worte zu hören. Aber erstens haben wir uns daran gewöhnt, zweitens wissen wir, dass den harten Worten keinerlei negative Konsequenzen folgen. Und drittens ist die Auswahl des Autos nicht unsere Angelegenheit. So haben wir auf dem Hügel oberhalb des Pang La nicht nur diese traumhafte Aussicht genossen, sondern auch reichlich Filmaufnahmen gedreht.

Aber all diese Gedanken sind an jenem schönen 19. September 2001 um 13.30 Uhr auf einen Schlag verflogen, völlig unwichtig. Beim Eintritt in die Hütte, noch bevor wir uns auf die einzige Sitzgelegenheit, eine Pritsche ohne Matratze, setzen können, bricht Steffen Müller schmerzverzerrt zusammen. Er krümmt sich, windet sich, bringt kein Wort hervor.

 

Die tibetischen Arbeiter blicken Steffen entsetzt an. Keiner spricht ein Wort. Es ist eine qualvolle Stille, die nur von Steffens Stöhnen unterbrochen wird. Nach wenigen Minuten lassen die Krämpfe ein wenig nach. Steffen spricht ein paar Worte, beschreibt die Schmerzen als etwas, was er noch nie in dieser Heftigkeit gespürt hat.

Mir schießen tausend Gedanken durch den Kopf; teils wirr, ohne logische Verbindung zueinander. Es fällt mir schwer, beim Anblick seines Leidens klar zu denken. Was hat er? Woher kommen die Schmerzen? Ist es die Höhe? Nein, sie kann es nicht sein. Wir sind schon so viele Tage jenseits der 4 000-Meter-Marke. Das sollte uns körperlich keine Probleme mehr bereiten. Oder doch? Vielleicht haben wir gestern Abend etwas Schlechtes gegessen oder verunreinigtes Wasser getrunken? Ja, das wäre eine Erklärung. Aber Steffen spricht von Schmerzen, wie er sie noch nie hatte. Und er, der mich nun schon seit fünf Jahren auf all meinen Filmreisen begleitet hat, mit dem ich gemeinsam in 99 Tagen auf Motorrädern um die Welt gefahren bin, der mich zum Nord- und Südpol begleitet hat, mit dem ich auch einen Film über die Dakar-Rallye gedreht habe, nein er, dieser Steffen Müller, würde wegen einer Magenverstimmung nicht solche Gefühle zeigen. Steffen ist ein sehr lebenslustiger, fröhlicher, aber eben auch ein stiller Mensch. Es muss etwas Ernstes sein.

Sehr zu unserer Beruhigung stabilisiert sich Steffens Lage, werden die Schmerzen erträglich. Für ein paar Minuten ruht er sich auf der Pritsche aus, trinkt etwas Tee. Nach einer Viertelstunde beschließen wir beide, dass es besser für ihn sei, in tiefere Lagen, ins Tal zu kommen. Der Sauerstoffgehalt hier oben ist sehr gering, mit jedem Meter tiefer wird es besser. Das kann Steffen zumindest nicht schaden.

Ich helfe ihm auf sein Motorrad. Zum Glück springt es ohne Murren an und Steffen entschwindet mit dem Mut des Verzweifelten talwärts. Nun heißt es, auf John und Gumbu zu warten. So sehr ihre Verspätung mir in all den Tagen gefallen hat, jetzt nervt sie! Wo bleiben sie nur? Die Strecke vom Kloster Rhongbuk am Everest ist in einem katastrophalen Zustand. An einer Stelle versucht man, einen abenteuerlichen, kleinen Tunnel in den Fels zu sprengen. Aber heute gab es keine Detonationen, also auch keine kurzfristigen Sperrungen der Strecke.

Jede Minute kommt mir endlos vor. Aber ich habe John versprochen, hier am Pang La auf ihn zu warten, keinen Ärger zu machen. Dennoch, ich will zu Steffen, ihn nicht ausgerechnet jetzt alleine lassen. Mich beschleicht ein schlechtes Gefühl. Steffen hatte die vergangenen acht Tage immer mal wieder Bauchschmerzen. Aber nur für ein oder zwei Stunden. Natürlich haben wir dieser Tatsache Beachtung geschenkt. Und deshalb nimmt er auch bereits seit drei Tagen Antibiotika. Jedoch nicht, weil ein Arzt uns das so geraten hätte. In der Region zwischen dem Shisapangma und dem Everest gibt es keinen Arzt. Und es gibt auch kein Telefon, mit dem wir uns einen ärztlichen Rat hätten holen können. Wir waren und sind auf uns allein gestellt.

Seit mehr als zehn Jahren unternehme ich Expeditionen und Reisen in ferne Länder. Die Furcht vor einer solchen Situation, sie reist immer mit. Natürlich versucht man vor jedem Start das Risiko zu minimieren, lässt sich von Jahr zu Jahr intensiver ärztlich untersuchen. Aber man kann nicht alle Risiken ausschließen. Uns war das immer bewusst. Vollkasko gibt es bei solchen Abenteuern nicht. Gut, wir hätten unser Team erweitern können um eine dritte Person, um einen Arzt. Aber genau das ist der Knackpunkt. Weitere Personen im Team, etwa ein Kameraassistent, würden die eigene Arbeitsbelastung spürbar senken. In unserem Zwei-Mann-Team ist Steffen für die Fahrzeuge zuständig und hilft mir bei den Dreharbeiten. Mir fallen die Organisation der Reise und die Dreharbeiten zu. Eine größere Mannschaft würde jedoch die Dreharbeiten vor Ort eher erschweren. Zum Einen wird die Flexibilität schwieriger, zum Anderen haben wir die Erfahrung gemacht, dass der Kontakt, die Nähe zu den Menschen so am einfachsten ist. Dann dreht sich das Geschehen meist nur für kurze Zeit um uns Fremde. Nach ein paar Minuten kann ich mich voll auf die Dreharbeiten konzentrieren. Für meine Filme ist mir das sehr wichtig: Ich will die Menschen porträtieren, sie so zeigen, wie sie leben, in ihrem normalen Umfeld.

Nach zehn Minuten hat das Warten ein Ende. Ich berichte John von Steffens Schmerzen und bitte ihn, dass wir so schnell wie möglich einen Arzt suchen müssen. Seine erste Reaktion entmutigt mich. Er weiß nichts von einem Arzt in der Umgebung. Ich steige auf mein Motorrad und fahre los. Doch weit komme ich nicht. Keine 150 Höhenmeter tiefer, in einer sanften Kurve, liegt Steffen im Gras. Das Motorrad hat er noch, pflichtbewusst wie er ist, aufgebockt. Doch der Anblick schockiert mich. Wieder krümmt sich Steffen vor Schmerzen, stöhnt, bringt kaum Worte hervor, ringt nach Luft.

Wer Steffen kennt, der weiß: Wenn er von seinem geliebten Motorrad steigt, dann muss die Lage bitterernst sein. Zum Glück ist unser Begleitfahrzeug gleich zur Stelle. Gumbu überblickt sehr schnell die Situation, obwohl wir uns nicht direkt verständigen können. Er spricht nur tibetisch und chinesisch, was ich wiederum nicht beherrsche. So müssen wir immer den Umweg über John gehen. Aber nie weiß ich wirklich, was er übersetzt und was nicht. Gumbu jedenfalls fängt sofort an, seinen Jeep so umzuräumen, dass Platz für Steffen wird. Sachen, die auf der hinteren Sitzbank verstaut sind, wandern auf die kleine Pickup-Ladefläche. Er hantiert sehr schnell und treibt seinerseits John an, der überfordert scheint und erst zur Mitarbeit aufgefordert werden muss.

Ich baue derweil einige Sachen wie die GPS-Satelliten-Navigation und den Tankrucksack ab, platziere das Motorrad so, dass es nicht aus Versehen umgefahren werden kann. Sichere es, so gut es eben in solch einer Situation geht, gegen Diebstahl. John krabbelt schließlich im Auto nach hinten, Steffen bekommt den Beifahrersitz. Wir wollen unten im Tal in die 50 km entfernte Ortschaft New Tingri fahren. Dort könnte es einen Arzt oder sogar ein Krankenhaus geben, so deute ich zumindest die Worte von Gumbu. John, der ein gutes Englisch beherrscht, ist mir in diesen Stunden nicht immer ein nützlicher Begleiter. Zu lange dauert es, bis er übersetzt. Manchmal muss ich drei, vier Minuten warten, bis eine Frage beantwortet wird. Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, denn es müssen Entscheidungen getroffen werden. Auch jetzt bekomme ich keine klaren Aussagen von ihm. Aber Gumbu ruft immer wieder die Worte: „New Tingri, New Tingri!“ Und mit seinen Händen bedeutet er mir, schnell zu sein. Also fahren wir los. Ich mit dem Motorrad vorneweg, die drei hinterher. Noch sind wir im Mount-Everest-Nationalpark. Am Parkeingang will ich versuchen, einen Rettungshubschrauber zu organisieren. Die Fahrt wird für Steffen zu einer unsäglichen Qual. Jeder Schlag, jeder Stoß schmerzt ihn aufs Äußerste. Die Piste hält viele davon parat.

TRAUM – TEIL 1: VON ISLAMABAD BIS KASHGAR

Flughafen Islamabad, Pakistan. Wir schreiben den 17. August 2001. Es ist kurz nach 5 Uhr früh. Da sind wir also: Steffen Müller, mein Freund und Filmpartner seit der Weltumrundung mit dem Motorrad im Jahre 1996 („In 99 Tagen um die Welt“, MDR), und ich. Die Nacht war kurz, wie immer bei Flügen in östliche Richtung. Dazu kommt eine gewisse innere Unruhe. Das, was wir diesmal vorhaben, ist Neuland, wurde bisher noch keinem Filmteam genehmigt. Wir wollen von der pakistanischen Hauptstadt aus über den Karakorum-Highway nach Kashgar in Westchina fahren. Von dort soll es einmal in West-Ost-Richtung über das Hochland von Tibet gehen. Rund zwei Monate werden wir uns dafür Zeit lassen, danach peilen wir unsere Endstation Peking an. Wir werden mit einem bisschen Glück die höchsten Berge der Welt sehen. Aber vor allem, und darauf freue ich mich am meisten, werden wir abseits der großen Stadt Lhasa mit Menschen zusammentreffen; in den kleinen Orten entlang unserer Reiseroute mit sesshaften Uiguren, Tibetern sowie Han-Chinesen und in der großen Weite des Hochlandes mit Nomaden. Wir werden dabei wochenlang in Höhen zwischen 4 000 und 5 500 m fahren. Das wird eine enorme körperliche Herausforderung für uns. Ich bin gespannt, wie uns dort oben in der sauerstoffarmen Luft das Fahren auf unseren Motorrädern gelingt, ob und wie die Maschinen von ihrer Technik her mit der Höhenlage zurechtkommen. Es wird das erste Mal sein, dass Ausländer diese Route überhaupt mit Motorrädern befahren dürfen. Auf der Strecke gibt es – mit Ausnahme der Region um Lhasa – keinen Tourismus, keine dementsprechende Infrastruktur. Gerade das macht für mich den Reiz aus. Ich will sehen, wie die Menschen wohnen, wie frei oder unfrei sie ihre Religion und Kultur ausüben können, wovon sie leben.

Warum aber Islamabad als Startort für Tibet? Nun, Pakistan, vor allem den gebirgigen Norden mit dem Karakorum-Highway, kenne ich von früheren Reisen. Zudem ist der Transport der Motorräder in die pakistanische Hauptstadt Islamabad gut zu organisieren. Eine Alternative hätte es noch von Kirgisien aus gegeben. Das allerdings wäre mit zu vielen Risiken im Bereich der Logistik verbunden gewesen. Der eigentliche Grund aber ist eine offene Rechnung; mehr eigentlich noch die Erfüllung eines Traumes. Bereits 1991 habe ich via Karakorum-Highway die chinesische Grenze schon einmal erreicht. „Mit dem Motorrad zum Dach der Welt“ (MDR) hieß damals meine erste große Filmexpedition, die über Italien, Griechenland, Türkei, Iran und eben durch Pakistan bis hinauf zum Khunjerab-Pass führte. Jenem Pass im Karakorum-Gebirge, über den die Staatsgrenze auf fast 5 000 m Höhe zwischen Pakistan und China verläuft. Dort war damals Schluss, an eine Weiterfahrt war nicht zu denken. Die Zeit war noch nicht reif für ausländische Filmexpeditionen.

Aber die Idee, hinüber nach Kashgar zu fahren, jener alten Karawanserei an der legendären Seidenstraße, und schließlich von dort hinauf nach Tibet, zum heiligen Berg Kailash, zum höchsten Gipfel der Erde, dem Mount Everest, dann nach Lhasa sowie über das nördliche Hochland weiter nach Golmud und via Xian nach Peking – dieser Traum ließ mir seit jener Zeit keine Ruhe mehr.

Diesmal wollte ich jedoch nicht von Deutschland aus über den Landweg anreisen. Die volle Konzentration, sowohl was die filmische Dokumentation über Land und Leute anbelangt als auch die körperliche, sollte ganz auf der geplanten Strecke liegen. Das allein ist für sich schon eine enorme Herausforderung. Deshalb erfolgte der Transport des kleinen Zwei-Mann-Teams samt Motorrädern nach Islamabad.

Aber bevor wir starten können, gilt es Hürden in Pakistans Hauptstadt zu überwinden. Hürden, die immer dann auftauchen, wenn es heißt, Filmequipment und zwei Motorräder in andere Länder mitzunehmen. Am Flughafen selbst sind die Kontrollen unkompliziert. Die Zollbeamten sind überaus höflich, die Formalitäten für die Kameras schnell erledigt. Ein Umstand, den ich in früheren Jahren hier auch schon anders erlebt habe. Nun gilt es, die Motorräder ebenfalls aus dem Zoll zu holen. Eine Aktion, die dank der Hilfe unserer Spedition Fritz Companies (die es im Jahre 2008 leider nicht mehr gibt, da sie von einem großen Transportunternehmen aufgekauft wurde) ähnlich reibungslos verläuft. Der örtliche Büroleiter holt uns am Flughafen ab, sorgt für ein vorzügliches Frühstück, mit dem wir die Zeit überbrücken, bis die Beamten im Frachtbereich des Flughafens ihre Arbeit beginnen.

Während draußen die Temperaturen in der Sonne bald auf über 40 °C ansteigen, stehen wir in gekühlten Büroräumen, unterschreiben viele Formulare, tauschen freundliche Worte mit wichtigen Staatsdienern aus. Schon zur Mittagszeit dürfen wir unsere beiden Motorräder aus den Hallen rollen. Für uns ist das unfassbar, denn schließlich ist der heutige Tag ein Freitag, der ja in islamischen Ländern unserem Sonntag gleichzusetzen ist. Gerechnet habe ich mit zwei, drei Tagen Behördenspaß.

Es hat sich wieder einmal ausgezahlt, nicht alles auf eigene Faust abzuwickeln, sondern die Dienste eines erfahrenen Spediteurs in Anspruch zu nehmen. Natürlich ist das teurer, aber die Mehrkosten von rund 600 Euro lohnen sich. Unsere Zeit in Pakistan ist begrenzt. Wir müssen exakt am 27. August an der Grenze zu China sein. Nur für diesen Tag gilt unsere Einreisegenehmigung ins große Reich der Mitte. Zehn Tage sind nicht viel Zeit, immerhin liegen mehr als 1 400 km bis zur Grenze vor uns. Und die führen über den Karakorum-Highway, der es in sich hat. Zum einen müssen wir bis auf 4 960 m hinauf, was sicherlich unserer Akklimatisierung für die großen Höhenlagen in Tibet gut tun wird. Wie wir die Höhe tatsächlich vertragen werden, wird sich erst noch zeigen.

 

Zum Anderen ist der Karakorum-Highway oftmals wegen Erdrutsche gesperrt. Drei, vier Tage Wartezeit sind da keine Seltenheit. Alternativrouten gibt es keine. Es ist also gut, wenn wir nicht gleich zu Anfang viel Zeit verlieren. Zu meiner Zufriedenheit stelle ich fest, dass der Monsun mit seinen heftigen Regenfällen tatsächlich in diesem Jahr schon sein Ende gefunden hat. Das macht die Fahrt gen Norden einfacher und sicherer. Die Anzahl der Muren und Lawinen wird mit jedem Tag ohne Regen geringer.

Wir nutzen den Nachmittag für unsere Eingewöhnung. Eben noch tiefstes Mitteleuropa, nun Pakistan, wie es leibt und lebt. Wobei über die Mittagsstunden das Leben zum Erliegen kommt. Es ist einfach zu heiß. In Islamabad passiert zwischen 11 und 16 Uhr so gut wie nichts. Was diese Stadt nicht gerade schöner und interessanter macht. Das Flair der Hauptstadt ist eher als sehr gediegen zu bezeichnen. Fast nichts hat sie mit den anderen Städten in diesem Teil Asiens gemein. Schachbrettartig der Grundriss, sehr breit und geräumig die Straßen. Staus und Verkehrschaos sind auf ihnen sehr selten. Allein das ist schon mehr als ungewöhnlich.

Islamabad wurde 1960 gegründet und sollte nie eine andere Funktion erfüllen, als die neue Hauptstadt Pakistans zu sein. Wo andere Städte Märkte und Straßen voll kleinster Läden beherbergen, sind hier große Büro-, Verwaltungs- und Regierungsgebäude zu finden. Abwechslung ins sonst eher trostlose Stadtbild bringt einzig die Shah-Faisal-Moschee. Sie gilt als eines der größten islamischen Gotteshäuser. 10 000 Gläubige finden in der zentralen Halle Platz. Weitere 64 000 (!) können an den Freitagsgebeten im Eingangsbereich und im Hof teilnehmen. Interessant, aber zugleich bei vielen Muslimen umstritten, ist die Bauform. Der Shah-Faisal-Moschee fehlt die traditionelle Kuppel, sie ist dafür einem Beduinenzelt nachempfunden.

Wir nutzen die ruhigen Stunden, um im Hof unseres Hotels die Motorräder auf die Abfahrt vorzubereiten. Wo sich normalerweise große Trauben neugieriger Menschen versammeln würden, können wir völlig unbehelligt unsere Sachen sortieren und verstauen. Viel Platz für unsere Ausrüstung haben wir wahrlich nicht. Wie bei all den anderen Filmproduktionen zuvor sind wir auch jetzt wieder nur mit zwei Motorrädern unterwegs. Auf ein Begleitfahrzeug verzichte ich bewusst. Es würde mich nur in der Flexibilität und Spontanität behindern. Zudem wäre der logistische Aufwand und auch das Team deutlich größer.

Für das Tibetabenteuer haben wir zwei Motorräder vom Typ KTM 640 Adventure ausgesucht. Es sind reinrassige Reise-Enduros, die ihre Stärken vor allem abseits geteerter Straßen haben. Und in solchem Terrain werden wir uns hauptsächlich bewegen. Wenn alle Informationen stimmen, führt allein die Fahrt über den Karakorum-Highway und die ersten 300 Kilometer hinter Kashgar über asphaltierte Straßen. Die weiteren 4 000 Kilometer durch das Hochland sind wohl von Pisten, Geröll und Sandstrecken geprägt. Auch soll es auf weiten Abschnitten keine Brücken geben. Wie viele Fluss- und Bachdurchfahrten es sein werden, darüber gibt es keine zuverlässigen Informationen. Wir werden es sehen. Die Bikes des österreichischen Herstellers sind unsere erste Wahl, auch weil sie sich bei anderen extremen Reisen in ähnlich schwierigem Gelände bewährt haben.

Jede KTM muss neben dem Fahrer vier Gepäckstücke aufnehmen: Je ein Alukoffer links und rechts, dazu ein Tankrucksack und auf dem Soziussitz eine weitere große Kiste aus Aluminium. Klingt nach viel Stauraum, ist es aber nicht. Von den insgesamt vier Seitenkoffern sind drei mit Ersatzteilen für die Motorräder gefüllt. Eine große Soziuskiste enthält die Outdoor-Ausrüstung mit Schlafsäcken, Zelt, selbstaufblasenden Isomatten, zwei Blechtassen und zwei kleinen Blechschalen als Universal-Essgeschirr. Die Tankrucksäcke und der verbleibende Platz in der Seitenkiste sind den persönlichen Sachen vorbehalten: Eine Jeans, eine dicke Fleecejacke, lange und kurze Unterwäsche, ein paar Socken, Mützen, drei, vier T-Shirts, für jeden ein Schreibbuch und einen CD-Player mit einigen CDs, ein paar kleine Gastgeschenke aus Sachsen sowie ein paar Erinnerungsstücke an die, die einem sehr nahe sind in der Heimat. Die zweite Soziuskiste ist das Juwel, befindet sich in ihr doch meine Kameraausrüstung. Erstmals traue ich mich mit einer neuen DVCAM-Kamera vom Typ Sony DSR PD 150 P an solch eine Filmexpedition heran. Sie ist wesentlich kleiner, leichter und damit handlicher als die herkömmlichen DIGI-Beta- oder Beta-SP-Camcorder. Das ist natürlich erst einmal ein Segen, wenn man über so wenig Stauraum wie wir verfügt. Allein die Akkus nehmen nur mehr ein Drittel des Volumens ein. Ich sehe einen großen Vorteil vor allem in ihrer Kompaktheit. Die große Beta-SP-Schulterkamera sorgte oft für eine gewisse störende Distanz zu den Menschen vor Ort. Mit der neuen Kamera sollte sich das verbessern. Schon, weil ich sie in einem Rucksack transportieren kann und so niemanden abschrecke. Aber wie robust wird die kleine Kamera sein? Wie wird sie die vielen Vibrationen des Motorrades vertragen, wie die Stöße und Schläge der Pisten? Ein Weitwinkelvorsatz, eine Kameraleuchte, ein Laptop sowie eine Spiegelreflexkamera komplettieren das Equipment. Und natürlich mein Kamerastativ, das hinter der Kiste quer befestigt ist.

Nicht vergessen will ich unsere medizinische Abteilung. Wir wissen, wir werden über weite Strecken völlig auf uns alleine gestellt sein. Es wird vor allem in Tibet niemanden geben, den wir im Ernstfall rufen können. Keinen Notarzt, keinen Krankenwagen. Alles, was wir tun können, ist uns selbst zu helfen und uns dann auf die Suche nach einem Arzt oder einem Krankenhaus zu begeben. Das aber kann mitunter bis zu drei Tage dauern. So haben wir für Frakturen, Verbrennungen, größere Abschürfungen und Schnittwunden entsprechendes Verbandsmaterial dabei, ebenso Medikamente für klassische Reiseerkrankungen wie Durchfall, Magen- und Darmverstimmungen, Augenentzündungen, aber auch starke Antibiotika und Schmerzmittel sowie ein Skalpell, damit wir Vereiterungen aufschneiden können.

Chef der Motorräder ist Steffen. Von Beruf ist er Motorradmechaniker. Für BMW hat er bei der Dakar- und Dubai-Rallye geschraubt. Unsere Motorräder und mich hat er seit 1996 sicher und zuverlässig ohne jeden Schaden durch Nord-, Mittel- und Südamerika, durch Afrika, Russland und Sibirien und bis hinauf zum winterlichen Nordkap bei Temperaturen bis zu -33 °C gebracht. Steffen hat für alle Probleme immer eine Lösung gefunden. Sei es für einen Rahmenbruch im Amazonas-Regenwald während unserer Weltumrundung, sei es für die Beseitigung der Sturzschäden an meinem Motorrad in Russland bei derselben Expedition. Er ist Perfektionist auf seinem Gebiet. Mein Vertrauen in ihn ist grenzenlos. Steffen hat seine ganz eigene Taktik. Täglich schleicht er am Ende der Fahrt um die Bikes, kriecht förmlich in sie hinein, horcht, klopft, fühlt. Wenn es so etwas wie einen Doktor für Motorräder gäbe, Steffen wäre ein sehr würdiger Träger dieses Titels.

Natürlich hat er auch diesmal die Maschinen vorbereitet. Nun, hier in der Hitze Pakistans vollendet er sein Werk. Die Luftfilter bekommen am Einlass feine Seidenstrümpfe. Sie werden verhindern, dass zu viel aufgewirbelter Sandstaub in den Motor dringt. Da wir mit schlechtem Benzin rechnen müssen, die Oktanzahl wird wohl oft deutlich unter 90 liegen, was nicht gut für Motoren ist, die eigentlich 95 benötigen, stellt Steffen die Motorsteuerung entsprechend um.

Der Abend geht schnell an uns vorbei. Im Hotel bekommen wir gegen Unterschrift und Passnummer pro Mann zwei Bier. Kein alkoholfreies Islamic-Beer, sondern eines, das annähernd nach heimischer Braukunst schmeckt. Lustig ist die Prozedur und der „Bringzoll“, den wir dem Kellner entrichten müssen. Getrunken werden darf das Bier nur im Hotelzimmer. Der nette junge Überbringer ist sehr freundlich, öffnet sogleich drei Bier. Nein, nicht aus Versehen, sondern weil er gerne selbst die dritte Flasche Gerstensaft genießen möchte. Natürlich in unserem Zimmer. Und mit uns gemeinsam. Sein Glaube stört ihn dabei wenig.