Es sind doch nur drei Wochen

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Es sind doch nur drei Wochen
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Es sind doch nur drei Wochen

1  Titel Seite

2  In der Wüste

3  Fünfzehn Monate früher

4  Gaby

5  Eine Zeitreise

6  Stolpersteine auf dem Weg ins Land

7  Die Oase in der Wüste

8  Eine Stadtrundfahrt

9  Mit dem Nachtzug durch Indien

10  Das Ende der Welt

11  Der Ambassador

12  Ein neues Zuhause

13  Der Hausboy

14  Das Kraftwerk

15  Die Kollegen

16  Die Wahrheit ist ein kostbares Gut

17  Die Götter bestimmen das Schicksal

18  Telefonieren ist Luxus

19  Der Bogeymann

20  Rattenjagd

21  Supermächte

22  Der Schlangenbiss

23  Der Besucher

24  Die heilige Turbine

25  Ein Fest für die Inder

26  Die Kantine

27  Der Staatsbesuch

28  Das Atomkraftwerk

29  Ab in die Verlängerung

30  Essen bei Ajay

31  Der Ausflug nach Anta

32  Eine Mahlzeit für die Geier

33  Endlich Urlaub

34  Trautes Heim

35  Der tägliche Krieg

36  Auch ein Urlaub geht zu Ende

37  Der Weg zurück

38  Die Todesstraße

39  Alfred regt sich auf

40  Der Wahnsinn

41  Ein abruptes Ende

42  Kinderarbeit

43  Eine überraschende Bekanntschaft

44  Grillfest im Camp

45  Mord und Totschlag

46  Die Haussklavin

47  Holi

48  Der Streich

49  Ein Wochenende am Fluss

50  Die Nutte

51  Indische Geschichtsstunde

52  Raindar muss heiraten

53  Fieber

54  Die Rückreise

55  Das Tropeninstitut

56  Ein indisches Oktoberfest

57  Ein Ausflug nach Chitturga

58  Die Lage wird ernst

59  Pokerpartie

60  Die Kinderhochzeit

61  Das Ende naht

62  Die letzten Tage

63  Ein Abschiedsgeschenk von Gaby

64  Rezepte

Titel Seite
Es sind doch nur 3 Wochen
Tom Sailor


1. Auflage 2020

Impressum

Texte: © Copyright Tom Sailor

Umschlag:© Copyright Tom Sailor

Bildnachweis: StockSnap auf pixabay

Verlag:Tom Sailor, Lübeck

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

In der Wüste

Sie ist ungefähr doppelt so groß geworden. Dafür aber deutlich flacher. Durch den aufgeplatzten Hinterleib hat sich ein fingernagelgroßer, roter Fleck an der Wand gebildet.

»Das hast du davon, wenn Du mir mein Blut klaust!«, zischt Erik mit grimmiger Stimme zwischen den Zähnen hervor und blickt triumphierend auf die blutigen Überreste seines Opfers. Er spürt einen leichten Schmerz in seiner rechten Handfläche, da er voller Wut äußerst heftig auf die Wand geschlagen hat. Die Genugtuung an diesem Mord in aller Frühe verschwindet jedoch augenblicklich, als sich der Gedanke an die mögliche Malariainfektion warnend in den Vordergrund drängt. Die ständige Bedrohung durch die Mücken besteht jetzt seit zehn Monaten, ohne dass Erik sich daran gewöhnt hat. Wenn man zuhause in Deutschland von einer Mücke gestochen wird, ist es ärgerlich. Hier ist es eine gefährliche Bedrohung, die wie ein böser Geist ständig hinter einem steht.

»Hoffentlich funktionieren die Tabletten!«, brummt Erik ernüchtert vor sich hin. Dabei reibt er sich seine schmerzende Handfläche und sucht mit den Augen die Fliegenklatsche, die an einem Nagel an der Wand hängt. Ein äußerst intensives Gefühl der Abscheu, gepaart mit ohnmächtiger Wut, unterlegt mit dem süßlichen Nachhall der Vernichtung wallt in ihm auf.

»Die Fliegenklatsche sieht schon ziemlich schäbig aus, aber das fällt in diesem Land sowieso nicht mehr auf.«, murmelt Erik missmutig vor sich hin.

»Ich habe keine Lust mehr auf diesen Dreck hier!«, ruft Erik daraufhin so laut, dass ein Nachbar es sicher gehört hätte. Erik möchte endlich wieder nach Hause. Trotzdem muss er noch mindestens zwei Monate aushalten. Er dreht sich zur Tür, die ins Wohnzimmer führt und blickt auf die Zahlenkolonne an der Wand neben dem Tisch. Dort sieht er die Ziffer 61 als letzte Zahl einer langen Reihe ansonsten durchgestrichener Zahlen. Irgendwann hat er sich nach einigen Bieren einen dicken, wasserfesten Filzstift geschnappt und die Zahlenkolonne der verbleibenden Tage auf die Wand geschrieben. Direkt auf die lackierte Wand. Tapeten sind in dieser Region der Welt Mangelware und würden in der nassen Monsunzeit vermutlich von der Wand rutschen. Die Wände werden daher glatt verputzt und dann mit einer ockerfarbenen Ölfarbe übermalt. Es entsteht eine glänzende, glatte Oberfläche, die dazu abwaschbar ist. Es ist ein festes Ritual geworden. Jeden Morgen streicht er auf dem Weg ins Bad wieder einen Tag ab. Leicht seufzend nimmt Erik den Filzschreiber und streicht die 61 durch. Im Augenblick ermutigt ihn der Anblick der verbleibenden 60 Tage allerdings nicht wirklich. Die vielen durchgestrichenen Zahlen lassen aber immerhin einen kleinen Fortschritt in Richtung Ende erkennen.

Neben die Zahlenreihe hat Erik das Bild einer blonden Frau mit lockigen Haaren und blauen Augen geklebt. Die Schönheit hat er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Das Foto seiner damaligen Freundin Gaby, hatte Erik mit einem Klebestift direkt auf die Wand geklebt, so dass er es nicht abnehmen konnte, ohne gleich den Putz mit von der Wand zu reißen. Das neue Bild hat er dann darüber geklebt, so dass ihn Gaby nicht mehr ständig anblickt. Nicht gerade die Art, wie er normalerweise ein Bild aufhängt. So etwas hätte er vor einigen Monaten noch als absolut inakzeptables Verhalten verurteilt. Erik verdient zwar ordentliches Geld, aber die persönlichen Einschränkungen bei der Lebensführung sind enorm. Keine Erzählung kann einem das Gefühl vermitteln, das man empfindet, wenn man tatsächlich in einer Einöde wie dieser festsitzt. Das hier ist ja nicht ein Urlaub in einem schlechten Hotel, bei dem man nach 14 Tagen wieder abreisen kann. Das hier ist so etwas wie ein Lager, bei dem man unter ständiger Bewachung und Bedrohung steht und sich täglich Gedanken um sein Überleben machen muss.

 

Erik starrt immer noch auf die lange Zahlenkolonne der abgestrichenen Tage. Immerhin ist die verbleibende Zeit deutlich kürzer.

»Ich hab noch viel zu viele Tage vor mir!«, seufzt er und wandert endlich in die Küche. In den letzten zehn Monaten ist viel passiert. Am traurigsten ist er darüber, dass die Beziehung mit Gaby in die Brüche gegangen ist.

»Drei Wochen, hat mein Chef gesagt! Drei verdammte Wochen soll ich als Vertretung aushelfen!«, lamentiert Erik mit einem leidenden Tonfall laut vor sich hin.

»Und jetzt? Jetzt bin ich schon fünfzehn Monate hier in dieser Scheiße!«, wobei er die letzten Worte laut fluchend gegen die Wand schleudert. Von seinem jetzigen Standpunkt, tausende Kilometer entfernt, am Arsch der Welt, wie er es für sich selbst bezeichnet, verblassen die unschönen Erinnerungen. Erinnerungen an Streit und das Aus der Beziehung erscheinen plötzlich sinnlos und eigentlich überwindbar. Stattdessen drängen sich die schöneren Momente in den Vordergrund, vor allem die, die er jetzt am stärksten vermisst.

»Der Sex mit ihr war ziemlich gut. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser wird er!«, grinst Erik in sich hinein, als die Bilder vor seinem inneren Auge auch die lustvolleren Gefühle aus der Vergangenheit zum Vorschein holen. Das ist leider auch so ein Problem in diesem Land. Zu kaufen gibt es alles, doch welchen Preis zahlt man langfristig dafür.

»Wenn ich an diese blöde Nacht denke, in der ich diese Nutte geknallt habe, wird mir im Nachhinein noch ganz anders!«, erinnert er sich wieder, wobei ihm ein Schauer aus Scham und Erschrecken über den Rücken läuft, der die erotischen Gedanken schlagartig, wie ein Eimer kaltes Wasser, wegspült.

»Wegen diesem Blödsinn laufe ich jetzt die ganze Zeit mit einem saublöden Gefühl herum. Wenn ich wieder zuhause bin, werde ich als erstes zum Arzt gehen müssen.«, beschließt Erik, und versucht das unangenehme Thema zu verdrängen.

»Zum Glück hat sich noch nichts verfärbt, nichts juckt und ich habe auch keine Läuse oder so was. Die Liste der Mitbringsel kann in diesem Land recht lang sein. Vor allem die fiesen Sachen schlummern erst eine ganze Weile, bis sie sich dann melden.«, bearbeitet Erik das Thema weiter in seinem Kopf, als er nun in der Küche vor der Kaffeemaschine steht.

All das stand jedenfalls nicht im Kleingedruckten, als er den Arbeitsvertrag unterschrieb. Damals tanzten andere Bilder vor seinem inneren Auge. Die schöngefärbte Vorstellung von dem, was ihn hier erwarten würde und die entzauberte, brutale Realität passen irgendwie nicht zusammen. Es ist wie die Theorie vom Fahrradfahren, bei dem man hoheitsvoll und elegant über das Straßenpflaster schwebt, und die Schrammen, die einen nach dem ersten Versuch auf den Boden der Realität zurückholen.

Da der Strom schon wieder ausgefallen ist, funktioniert die Kaffeemaschine auch nicht. Erik öffnet den Kühlschrank und greift nach der letzten Colaflasche. Leider ist die Cola warm, wie auch der Rest im Kühlschrank. Der Strom ist vermutlich schon wieder seit Stunden ausgefallen und die Qualität der Isolierung dieser Kühlschränke ist nicht besonders gut. Eigentlich hätte er jetzt gerne eine Tasse Kaffee, doch ohne Strom läuft die Maschine eben nicht. Irgendwo sind Mitarbeiter der Elektrizitätswerke dabei, das Netz wieder aufzubauen. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Ab und zu springt die Klimaanlage ratternd an, um dann nach wenigen Sekunden wieder auszufallen. Das Netz ist völlig überlastet. Man kann nicht einfach den großen Schalter am Kraftwerk wieder zuschalten. Alle Menschen und Firmen haben ihre Geräte eingeschaltet gelassen. Wenn das Kraftwerk dann einfach den Strom zuzuschalten würde, wirken diese vielen Verbraucher wie ein Kurzschluss. Also versucht man zunächst die im Land überall aufgestellten Verteiler erst einmal alle abzuschalten, um sie dann nach und nach wieder zuzuschalten. Das geht aber nur, indem ein Mitarbeiter vor Ort die Schalthandlung vornimmt. Also rasen jetzt etliche kleine Mopeds durch das Land, um die vielen Verteiler erst ab- und später wieder zuzuschalten. Bei den Entfernungen und Kommunikationsproblemen in diesem Land dauert es halt eine Ewigkeit, bis die Mitarbeiter das koordiniert hinbekommen.

Erik grübelt etwas missmutig vor sich hin, wobei sein Blick aus dem vergitterten Fenster wandert. Der Ausblick ermutigt ihn allerdings nicht besonders. Gitter sind wichtig. Die europäischen Mitarbeiter gelten hier als die Reichen, was automatisch Diebe anzieht. Auch vor den Affen muss man sich hüten. Die treten als Horde auf und werden dann richtig frech und gefährlich. Erik hatte beobachtet, wie sie einem Inder das Essen klauten. Einer hat sich von vorne genähert, wobei der Inder diesen mit seinem Stock zu verscheuchen suchte. Dabei blieb der Affe aber immer nur knapp außer Reichweite des Stocks und rückte sofort wieder vor, wenn der Inder sich setzen wollte. Irgendwann ist der Inder dann einen Schritt auf den Affen zugegangen. Darauf hatten aber zwei der Rasselbande nur gewartet, stürzten von hinten auf das Essen, ergriffen den ganzen Beutel und rasten in die Bäume in Sicherheit. Dass das ganze einem Masterplan unterlag, konnte Erik daran erkennen, dass der erste Angreifer anschließend seelenruhig neben den zwei Anderen saß und diese die Beute ohne Geschrei und Zank teilten. Die Inder hatten Erik eindringlich davor gewarnt, ein Tier anzufassen oder festzuhalten, auch wenn sie sich bis auf Tuchfühlung einem nähern sollten. Macht man den Fehler und versucht, einen Affen zu berühren, wird dieser sofort zubeißen. Das Gebiss ist so kräftig, dass sie ohne weiteres einen Finger abbeißen können.

Erik lässt sich auf einen Sessel fallen und nimmt einen Schluck aus der Colaflasche. »Mein Gott, ich bin schon fünfzehn Monate hier!« macht sich Erik klar. Vor diesen fünfzehn Monaten hat er sich als durchschnittlich verwöhnter Europäer in ein Flugzeug gesetzt. Aber nicht, um sich an einem Palmenstrand von den Landesschönheiten Cocktails servieren zu lassen, sondern um zu Arbeiten. Okay, er war damit einverstanden, irgendwo in der großen weiten Welt zu arbeiten. Er war damals froh, diesen Job zu haben, der ihn in die ferne, weite Welt führen würde. Außerdem besaß er da noch die Illusion, dass er mitbestimmen darf, wohin die Reise geht. Die Rede war von viel Geld, Abwechslung und Verantwortung. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie die Kollegen an seinem ersten Tag ihre Geschichten zum Besten gaben:

»Hey, Mann, Du musst unbedingt in den Sudan. Die Nubierinnen haben so feste Brüste, dass man darauf die Wanzen zerdrücken kann.«, war ein Spruch, der von wissendem Männerlachen aus der Runde begleitet wurde. Welcher Mann kann da verhindern, dass nicht hübsche, begehrliche und willige Mädchen mit kurzem Röckchen und blanken Brüsten vor dem inneren Auge erscheinen. Mein Gott, wie soll man da nicht an Sex denken. Jetzt, wo Erik schon wieder so lange auf dem Trockenen sitzt, erscheinen sexuellen Phantasien sowieso immer häufiger. Die Beschreibungen der Kollegen klangen nach exzessiven Partys mit willfährigen, jungen Frauen und nach viel Spaß ohne negativen Beigeschmack. Irgendwie haben Sie die Monotonie, die Einsamkeit, den Frust, die vielen drohenden Krankheiten und Risiken in Ihren Erzählungen weggelassen. Seufzend lässt sich Erik in dem Sessel zurückfallen und legt die Füße auf den Beistelltisch.

»Mit meinem heutigen Wissen wundere ich mich über diese Sorglosigkeit. Ich glaube, die lieben Kollegen haben einfach nur kräftig übertrieben! Auch früher war das alles nicht so sorgenfrei.«, überlegt sich Erik und nimmt noch einen Schluck warme Cola.

»Vielleicht sollte man dies auch anders sehen. Möglicherweise liegt es auch einfach an der relativen Sichtweise: nach einem monatelangen Entzug wird jede Party für die Sinne zu einer wilden Orgie.«, philosophiert Erik vor sich hin.

»In meiner jetzigen Lage wäre eine normale Kneipe, wie es sie zuhause an jeder Ecke gibt, ein Fest für die Sinne!«

Erik erinnert sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit gelesen hatte, wonach der Mensch in Episoden lebt. Er erinnert sich an die Maxima dieser Episode und an das Ende. Wenn das Ende gut war, so wird auch die ganze Episode, unabhängig von der Dauer, als gut betrachtet.

»Dann hoff ich mal auf ein gutes Ende«, stöhnt Erik, als er aufsteht und ins Bad geht, um sich für den neuen Arbeitstag fertig zu machen.

Fünfzehn Monate früher

Erik betritt etwas müde den Flur zu seinem Büro. Mit Gaby hat er gestern Abend auf dem Balkon eine Flasche Wein geleert. Dann sind sie spontan auf die Idee gekommen, im Freibad über den Zaun zu klettern. Zwangsläufig war die Nacht etwas kurz. Langsam schlendert er an den Türen der Arbeitszimmer vorbei, als ihm sein Chef, Andresen, über den Weg läuft. Wie immer ist er etwas hektisch, was den Eindruck vermittelt, dass er fünf Sachen gleichzeitig erledigt. Als er Erik sieht, bleibt er abrupt stehen.

»Hallo, Herr Jacobsen, wie geht’s?«, fragt er in einem Tonfall, bei dem man erkennt, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartet: »Können Sie bitte kurz in mein Büro kommen?«

Es geht um einen neuen Auftrag. Das ist klar. Auf dem Weg überlegt sich Erik, welche Projekte denn in Betracht kommen könnten. Da gibt es diesen Staudamm in Sri Lanka oder das Kraftwerk in Malaysia, dann ist da auch noch diese Anlage in Dänemark oder die andere in der Nähe von Athen. Alles Orte, mit denen er sich irgendwie anfreunden könnte. Erik geht also frohen Mutes auf seinen Chef zu und muss sich dann beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Im Büro von Andresen setzt er sich auf den einzigen Stuhl vor dessen Schreibtisch. Es ist das typische Büro eines Workaholics. Terminpläne an der Wand, überall Stapel von Unterlagen und Akten, dazwischen diverse gebrauchte Kaffeetassen, unterschiedlich gefüllte Aschenbecher und am Rand eines Stapels, kurz vor dem Sturz auf den Fußboden, das obligatorische Familienfoto.

»Kaffee?«, fragt Andresen.

»Ist ja nett, dass er mir einen Kaffee anbietet, wo er doch selbst immer keine Zeit hat,«, denkt sich Erik. »Entweder will er etwas von mir oder er braucht selbst einen Kaffee und sieht sich daher gezwungen, mir etwas anzubieten. Egal, ich kann einen gebrauchen!«

»Ja, gerne!«, nickt Erik mit einem Lächeln.

»Frau Berger, sind Sie bitte so gut und bringen uns zwei Tassen Kaffee.«, ruft Andresen in das Nebenzimmer, dessen Tür geöffnet ist.

»Der letzte Job von Ihnen lief ja prächtig.«, wendet sich Andresen lächelnd an Erik.

»Nun, neben Können braucht man manchmal etwas Glück.«, erwidert Erik etwas ausweichend und überlegt, was der Chef von ihm will.

»Ich gehe mal davon aus, dass es etwas mehr Können als Glück war. Aber deshalb wollte ich eigentlich nicht mit Ihnen sprechen. Ich habe ein Problem in Indien. Wir liegen mit der Inbetriebnahme unserer Anlage schon deutlich hinter dem Zeitplan zurück. Und jetzt hatte Herr Bender einen kleinen Unfall und musste kurzfristig zurück nach Deutschland. Ich möchte Sie daher bitten, uns vor Ort für drei Wochen zu unterstützen, bis er wieder auf den Beinen ist.«, kommt Andresen zur Sache.

Indien hatte Erik völlig von seiner Liste gestrichen. Als das Wort Indien fällt, reagiert er innerlich fast reflexartig mit einem lauten »NEIN«.

»Es gibt so schöne Länder auf dieser Erde und ich soll nach Indien?«, schießt ihm ein Protestgedanke fast augenblicklich durch den Kopf. »Das ist jetzt etwas überraschend. Sie erinnern sich sicher, dass ich doch schon bei der Einstellung erklärt habe, dass ich da etwas voreingenommen bin. Das ist nicht gerade mein bevorzugtes Tätigkeitsland.«, erwidert Erik nun mit einem etwas abwehrenden Blick.

Andresen schaut ihn kurz, aber energisch an und schüttelt den Kopf.

»Ich weiß, es ist nicht gerade eine Belohnung, aber wir haben im Augenblick keinen anderen, dem wir zutrauen, dass er den Job hinbekommt. Ich traue ihnen durchaus zu, dass sie in eine Führungsposition hineinwachsen.«, lockt ihn Andresen. »Zum einen kann ich Ihnen anbieten, dass wir etwas mit Ihrem Gehalt machen. Sie sind noch nicht so lange bei uns. Sie haben die Gelegenheit, sich in einer Führungsposition zu behaupten und damit für höhere Aufgaben zu qualifizieren.«, fährt Andresen seine Argumente auf, »und außerdem, es sind doch nur 3 Wochen!«.

 

Erik überlegt kurz, wie er reagieren soll. Er weiß genau, dass eine Ablehnung nicht gut ankommen wird.

»Nun, was die drei Wochen angeht, so ist das ein überschaubarer Zeitraum. Ich würde da gerne noch mal auf Ihre Eingangs verwendeten Worte zurückkommen. Ich denke, dass ich Beweise geliefert habe, welchen Mehrwert ich der Firma biete. Daher würde ich gerne mit Ihnen über meine zukünftige Gehaltsentwicklung sprechen. Wenn ich dann in Indien bin, geht das ja leider nicht«, erklärt Erik.

Andresen stöhnt zwar, so als ob er eine Gehaltserhöhung aus eigener Tasche zahlen muss, willigt aber schließlich ein und hebt das Grundgehalt von Erik um immerhin 300,-€ an. Der negative Beigeschmack, den die Aussicht auf den Einsatz in Indien hinterlässt, wird somit von einem kleinen Erfolgsgefühl übertönt, so dass Erik mit etwas ambivalenten Gefühlen das Büro verlässt.

»Nach Anta soll es gehen. Mal sehen, wo das denn nun ist. Vielleicht irgendwo in der Nähe von einem Strand? Oder in Kaschmir, oder am Rande des Himalaya? Indien ist groß und das Abenteuer lockt schon ein wenig«, springen die Gedanken durch Eriks Kopf, als er zu seinem Arbeitsplatz geht und sich langsam an den neuen Gedanken gewöhnt. Leider kann ihm in der Firma keiner genau zeigen, wo die Baustelle liegt. Es hängt zwar eine große Weltkarte an der Wand, aber der Versuch diese Ansiedlung auf einer Weltkarte zu finden, ist nicht möglich. Nach einiger Nachforschung findet Erik die ungefähren Angaben: etwa 600 km südöstlich von New Delhi und etwa 200 km nördlich von Bopal. Die nächste größere Ortschaft heißt Kota. An Bopal kann Erik sich noch erinnern. Seine traurige Berühmtheit hat dieser Ort nach einem Chemieunfall erlangt. Dabei traten auf Grund von Fehlbedienung der indischen Betreibermannschaft giftige Stoffe in die Umgebung. Dieser kleine Unfall führte zu mehreren Tausend Toten und forderte an die 100.000 Verletzte. Erik fand es immer sehr irritierend, dass keine genauen Angaben zu den Toten und Verletzten gemacht wurden, sondern die Schätzungen immer um einige tausend Menschen voneinander abwichen. Heute ist ihm allerdings klar, warum die Zahlen in Indien nie genau ermittelt werden können und nur auf groben Schätzungen beruhen. Es gibt einfach keine verlässlichen Unterlagen, wie viele Menschen an einem Ort leben. Neben den Einheimischen gibt es viele Wanderarbeiter, die ständig auf der Reise sind. Um die Zahl der Menschen zu ermitteln, geht man wie bei den Ameisen vor. Man zählt eine überschaubare Fläche aus und rechnet dies dann auf die Gesamtfläche hoch.

»Da wird man von seiner Firma zu einem riesigen Projekt geschickt, bei dem für ein paar hundert Millionen ein Kraftwerk in die Wüste gesetzt wird und keiner weiß genau, wo das Ganze auf der Karte zu finden ist!«, wundert sich Erik, wobei sich ein merkwürdiges Gefühl einschleicht. Erik kann sich noch gut an den schlimmsten Fluch seines Großvaters erinnern, wenn dieser richtig wütend war: »Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst.« In Indien wächst Pfeffer.

»Ich brauch noch Ihren Pass, damit wir ein Arbeitsvisum beantragen können!«, wird Erik in seinen Gedanken von der Sekretärin unterbrochen, die unvermittelt vor seinem Schreibtisch steht.

»O. K., den kann ich morgen mitbringen.«, erwidert Erik.

»Ach ja,« fährt die Sekretärin fort, »gehen Sie am besten auch gleich bei unserem Betriebsarzt vorbei wegen der Impfungen. Der ist noch bis 11:00 Uhr da!«

»Impfen? Spritzen? Oh nein!«, schießen erschreckte Gedanken durch Eriks Kopf. Er hasst es, Spritzen zu bekommen. Als kleiner Junge musste er mehrere Wochen wegen einer Infektion im Krankenhaus verbringen. Jeden Morgen kam die Krankenschwester mit einem Rollwagen, um ihm und den anderen Kindern zum einen schmerzhafte Spritzen gegen irgendetwas zu geben und zum anderen mit einer Rasierklinge das Ohr anzuritzen, um etwas Blut abzunehmen.

Er hat die Worte »Stell Dich nicht so an, das tut überhaupt nicht weh!« der Krankenschwestern noch gut im Ohr. Nach ein paar Tagen war er so weit, dass er aus dem Bett sprang und versuchte, sich irgendwo im Zimmer zu verstecken, wenn er die Krankenschwester mit dem Spritzenwagen auf dem Flur hörte.

Durch die Schmerzen, die er jedes Mal fühlte, hat die Glaubwürdigkeit des medizinischen Personals erheblich gelitten. Vor allem hat er seit dieser Zeit eine regelrechte Angst vor Spritzen manifestiert. Die Aussicht, sich nun auch noch freiwillig Spritzen abzuholen, war alles andere als eine Freude für Erik. Mit einem mulmigen Gefühl und etwas weichen Knien geht er über das Gelände zu dem Sanitätsbereich. Der Arzt sieht auf dem Formular für die Kostenstelle, dass es nach Indien gehen soll. Auf einer Tabelle schaut er dann nach, was denn da so alles fällig wird. Da wäre zum einen die Impfung gegen Hepatitis A, gegen Typhus und gegen Cholera. Zu allem Überfluss erkennt der Arzt auch noch, dass die Tetanusimpfung überfällig ist, was einen weiteren Stich bedeutet. Zu seiner großen Freude ist die Impfung gegen Cholera eine Schluckimpfung, aber für alle anderen muss er jeweils einen Stich akzeptieren. Am Schluss gibt ihm der Arzt auch noch ein kleines Päckchen mit diversen Medikamenten mit. Ein kleiner, selbst erstellter Beipackzettel klärt über die Anwendungsfälle und die Dosierung auf. Erik wird langsam bewusst, dass sich dieser Job deutlich von seinen bisherigen Einsätzen unterscheidet. Für einen Einsatz in Europa hätte er sicher nicht zum Arzt gemusst. Erleichtert, dass er die Prozeduren überstanden hat, verlässt er schließlich nach einer Stunde den Sanitätsbereich.