Mein Orient-Tagebuch: Der Löwe von Aššur

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Mein Orient-Tagebuch: Der Löwe von Aššur
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Tomos Forrest

Mein Orient-Tagebuch:

Der Löwe von Assur

Trilogie-Gesamtband


Impressum

Copyright © by Author/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Kathrin Peschel nach einem Motiv von Klaus Dill, 2022

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

-Die Bruderschaft-

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

- Die Prophezeiung -

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

- Krieg der Löwen -

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Aus der Feder von Tomos Forrest sind weiterhin erhältlich:

Das Buch


Kara Ben Nemsi schreibt in seinem Orient-Tagebuch:

Wie so oft in meinem bisherigen Leben überraschte mich die Einladung meines alten Bekannten, Sir David Lindsay. Eigentlich war ich nicht gewillt, mich erneut auf eine Reise zu begeben. Doch da es hier ganz offenbar um ein uraltes Geheimnis ging, das auf die einstigen Herrscher im Zweistromland deutete, reizte mich doch wieder das Abenteuer. Konnte ich denn ahnen, in welche Gefahren ich mich begab? Schließlich wollten wir doch nur ein neues Ausgrabungsfeld besuchen, um endlich den Traum Sir David Lindsays zu realisieren, und einen Geflügelten Stier für ihn finden! Doch schon in Dresden stieß ich auf eine interessante Spur, wurde aber auch von einem Unbekannten verfolgt und beobachtet. Das hätte mir als Warnung dienen sollen …

***

Mein Orient-Tagebuch: Der Löwe von Aššur

-Die Bruderschaft-

Trilogie Teil 1

1. Kapitel

Obwohl ich mich über die Störung ärgerte, konnte ich mir ein Grinsen doch nicht verkneifen, als ich aufsah und die lange, hagere Gestalt sofort erkannte, die nicht gerade rücksichtvoll in den ohnehin überfüllten Saal eintrat. Der zu spät gekommene Zuhörer trug wieder einmal sein Markenzeichen, das ihn schon auf eine weite Entfernung kenntlich machte: einen Anzug aus großkariertem Stoff, dazu die ‚Angströhre‘ (Zylinder), die er erst jetzt abnahm – kurz, es war mein alter Bekannter Sir David Lindsay, der unvermutet in meinen Vortrag platzte, den ich vor der Geografischen Gesellschaft in Dresden hielt.

Und der exzentrische Engländer hielt sich nicht weiter mit Förmlichkeiten oder Entschuldigungen auf, ließ sich von einem Saaldiener einen eigenen Stuhl holen und den direkt vor mein Rednerpult bringen.

‚Ich bin ein Englishman, ich mache, was ich will‘ – sein Lebensmotto – und nun kam aber auch Unruhe unter den übrigen Zuhörern auf, die sich zum Teil lustig machten über diese Erscheinung, zum Teil aber auch böse Blicke zu ihm warfen. Nun, Sir David kümmerte das alles nicht, er schlug seine langen Beine übereinander und nickte mir wohlwollend zu, als hätte ich nur auf sein Eintreffen gewartet und erhielt nun die Einladung, fortzufahren.

„Ja, meine Damen und Herren, Sie haben es alle gerade selbst erlebt!“, fuhr ich fort und lächelte dazu freundlich. „Das Leben ist voller Überraschungen, und der Herr, der eben so bescheiden und freundlich noch eingetreten ist, ist ein alter Reisebegleiter meiner Orientreisen. Ich begrüße deshalb Sir David Lindsay und freue mich, dass er es noch rechtzeitig geschafft hat, sich meinen Vortrag anzuhören.“

Lindsay nickte mir noch einmal hoheitsvoll zu, während ich im Publikum leise Heiterkeitsausbrüche erkannte.

„Nun gut, dann will ich berichten, was ich auf meiner letzten Reise erlebt habe, zu der mich der mit mir eng befreundete Vizekönig von Ägypten, Ismail Pascha, eingeladen hatte.“

Die Aufmerksamkeit meiner Zuhörer hatte ich damit wieder gewonnen, Sir David verhielt sich ruhig und lauschte ebenfalls gespannt. Als ich endete, herrschte eine gefühlte Ewigkeit lang Schweigen, aber dann brach der Beifall los. Ich hatte mehr als eine Stunde frei und ohne Manuskript gesprochen und dabei in Gedanken noch einmal alles miterlebt. Deshalb kam es mir nur so vor, als hätten meine Zuschauer lange ruhig verharrt, später berichtete mir Lindsay anderes. Doch jetzt waren zahlreiche unter ihnen aufgestanden und drängten sich zu mir. Teils wollten sie spezielle Fragen beantwortet haben, teils wollten sie einfach nur mehr von meinen Reisen erfahren.

Irgendwann reichte es mir aber, die Fragerei nahm kein Ende. Ich verwies auf meine Bücher- und Zeitschriften-Veröffentlichungen und konnte mich nur mithilfe des Präsidenten der Gesellschaft in einen Nebenraum flüchten. Zu meinem größten Erstaunen erwartete mich hier Sir David Lindsay, der dem Trubel nebenan entflohen war.

„Well, ich will es kurz machen. Wir reisen und werden diesmal Fowling Bulls finden, ganz sicher. Viele Abenteuer. Ich zahle!“

Damit war nun heraus, weshalb er mich in meiner Heimat aufgesucht hatte. Dieser spleenige Mann glaubte wirklich, dass ich nichts Besseres zu tun hatte, als meinen Koffer zu packen und mit ihm wieder irgendwelchen Ausgrabungen nachzujagen. Er lächelte mich so selbstgefällig an, dass mich die Wut packte und ich in einem ersten Impuls sagte:

 

„Das ist einfach lächerlich.“

Er zog kaum merklich die Augenbraue über dem rechten Auge hoch und antwortete gelassen:

„Was ist daran lächerlich?“

„Schon die Tatsache, dass Ihr stets und immer wieder erneut von Fowling Bulls redet, Sir David! Gerade ein gebildeter und weit gereister Mann wie Ihr sollte wissen, dass die Bezeichnung Winged Bull korrekt ist.“

Noch immer zuckte lediglich die Augenbraue wieder in die Höhe, ansonsten blieb der ganze, lange Mensch wie eine Statue. Schließlich verzog er doch die Mundwinkel und antwortete sehr von oben herab:

„Master, Ihr werdet unhöflich. Wenn die Welt von Winged sprechen mag, so sagt ein Sir David Lindsay trotzdem so, wie er diese geflügelten Stiere seit seiner Kindheit bezeichnet hat. Wem das nicht passt, der mag sich packen. Ich bin ein Englishman und mache, was ich will, verstanden!“

Das war so trocken und knapp herausgebracht, dass ich lachen musste.

„Gut, einverstanden. Aber ich habe weder Zeit noch verspüre ich Lust, erneut in den Orient zu reisen, um dort irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen. Wir werden auch diesmal keine geflügelten Stiere finden, sie ausgraben, um sie dann dem Britischen Museum zu schenken.“

„Oh, Ihr irrt. Aber das ist verständlich. Schaut einmal auf diese Karte.“

Damit griff er in die Rocktasche und zog eine zusammengefaltete Karte heraus, die er gleich darauf vor uns auf dem Tisch ausbreitete. Gerade deutete er auf eine bestimmte Stelle, als Herr Breitenbach, der freundliche Direktor der hiesigen Geografischen Gesellschaft, wieder eintrat. Auch sein Blick fiel auf die Karte, und erstaunt rief er aus:

„Oh, das alte Assyrische Reich! Wollt Ihr ins Zweistromland, Sir David, und Ausgrabungen machen? Ist ja eine vielversprechende Gegend, und auch deutsche Forscher sind sehr daran interessiert, ganz Mesopotamien zu erforschen!“

Der Engländer schenkte ihm einen finsteren Blick, den ich nicht sofort deuten konnte. Er richtete sich auf und bemerkte nur knapp:

„So? Mag sein, aber wir Briten sind da schon ein ganzes Stück weiter. Kommt, Master, ich habe Hunger und möchte hier etwas zu mir nehmen!“

Damit faltete er hastig wieder die Karte zusammen und schob sie in seine Jackentasche, drehte sich um und war an der Tür, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen. Ich bedankte mich bei Direktor Breitenbach und eilte Lindsay nach.

Der stürmte jedoch hinaus auf die Straße und blieb auch dort nicht stehen, sondern eilte im gleichen Tempo weiter.

„Sir David!“, rief ich ihm nach. „Den Zug nach Marseille werden wir heute nicht mehr bekommen!“

Das zeigte Wirkung. Abrupt blieb er stehen und sah mich mit einem seltsamen Blick an.

„Habt Ihr das bemerkt?“

„Was?“, erkundigte ich mich verwundert.

„Den Blick von diesem Mann auf die Karte? Und seine Bemerkung?“

„Dass die deutschen Gelehrten an Ausgrabungen in Mesopotamien interessiert sind? Ja, und? Das ist doch nichts Neues!“

„Der Blick war gierig, so, als wüsste er von den neuesten Funden!“

„Was für Funde, Sir David, ich verstehe überhaupt nichts …“

„Well, erst hier essen, dann mehr davon.“

Schon betrat er ein Speiselokal, der Kellner geleitete uns an einen freien Tisch und überreichte uns die Speisekarte. Lindsay warf keinen Blick darauf, sondern bestellte sich Lammkeule mit mint sauce. Als der Kellner irritiert blickte, erklärte ich ihm, dass mein englischer Freund gern ein Lammgericht mit der kalten Mintsoße haben möchte. Der Kellner, noch immer begriffsstutzig, erkundigte sich:

„Kalte Mintsoße, mein Herr? Was soll das sein?“

Sir David schaute gelangweilt im Speisesaal umher, als ginge ihn das alles gar nichts mehr an.

„Sagen Sie bitte dem Koch, er möge grüne Minze klein hacken und mit Essig, Zitronensaft und etwas braunem Zucker anmischen.“

Jetzt schien der Mann zu verstehen, denn lächelnd antwortete er:

„Ah, der Herr möchte das Fleisch mit der ‚Grünen Soße‘, wie von der Mutter unseres hochverehrten Dichterkönigs Goethe zubereitet. Selbstverständlich gern, der Koch wird das Rezept kennen, auch wenn es mehr in der Frankfurter Gegend als bei uns gebräuchlich ist.“

Mir graute schon bei dem Gedanken, was da serviert werden mochte, denn die angeblich von Goethes Mutter verwendete Grüne Soße wird mit Mehl, Butter, Milch, Salz, Pfeffer, Muskat und anderen Kräutern angedickt.

Ich bestellte mir sicherheitshalber einen Schweinebraten Thüringer Art mit Klößen und Rotkohl und war gespannt, wie Sir David auf das Essen reagieren würde. Zu meiner Überraschung verzehrte er es klaglos und ohne die Miene zu verziehen. Da es für ihn selbstverständlich war, die Rechnung zu übernehmen, gab er ein großzügiges Trinkgeld und wollte dann mit mir in ein Café wechseln, damit wir uns ungestört unterhalten konnten.

Kaum wieder auf der Straße, sagte er laut zu mir:

„Scheußliches Essen, kann mich nicht erinnern, jemals so eine Soße gegessen zu haben.“

Aber damit war die Sache für ihn auch abgeschlossen, er bemerkte mein Grinsen nicht und stiefelte wieder schweigend neben mir her, bis wir an den Brühlschen Terrassen angekommen waren, wo wir einen Fensterplatz mit Blick auf die Elbe in einem der zahlreichen Cafés fanden.

Hier nun schien mein englischer Bekannter förmlich aufzutauen. Die Karte lag wieder auf dem Tisch, wenn auch nicht aufgefaltet, dazu ein paar handschriftliche Aufzeichnungen sowie ein kleines Büchlein.

„Well, Master!“, begann er und benutzte dabei seine übliche Anrede. „Werden also wieder gemeinsam reisen. Marseille, Tunis, Bagdad. Aššur. Habe starke Partner in Tunis und in Bagdad, yes!“

Ich antwortete ihm nicht, sondern betrachtete ihn nur belustigt.

Sein hageres, aber noch immer gebräuntes Gesicht hatte ein paar scharfe Linien mehr erhalten als bei unserem letzten Treffen. Und die Narbe seiner Aleppo-Beule auf der ohnehin großen Nase fiel als besonderes Merkmal auf.

„Ich habe doch gesagt, dass ich weder Zeit noch Lust zu einer weiteren Orient-Reise habe.“

Lindsay warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Diesmal alles anders. Habe geheime Informationen. Werden prächtige Abenteuer erleben. Hadschi Halef Omar treffen. Und Fowling Bulls ausgraben, yes!“

Bei so viel Zuversicht, mich doch noch umstimmen zu können, musste ich fast schon wieder lachen, aber ich schüttelte den Kopf.

„Ich habe zu tun. Meine letzten Reiseerlebnisse müssen noch einmal vor dem Druck durchgesehen werden, und dann …“

„Alles kein Problem, Master. Wir reisen, Ihr lest unterwegs. Zahle alles, well.“

Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein, er gab dem Kellner ein Zeichen und ließ sich die Rechnung bringen.

„Hört mal, Sir David, aber ich …“

Er musterte mich höchst erstaunt und unterbrach mich:

„Mache Vorschlag, Master. Treffen uns heute in einer Woche auf dem Hauptbahnhof. Da geht – Moment …“ Rasch kramte er in seiner Tasche, dann zog er einen weiteren Zettel hervor. „Da geht um neun Uhr dreißig unser Zug. Ich werde alles reservieren. Wir treffen uns am Zug. Bis dahin habt Ihr Eure Schreibereien fertig und wir fahren los. Diesen Umschlag nehmt an Euch und beschäftigt Euch mit dem Inhalt. Es wird interessant, Master. Viele Abenteuer!“

„Aber – ich muss den Abendzug nehmen, weil mich mein Verleger erwartet! Das ist mir von der Zeit her alles zu knapp, und ich kann nicht …“

„Well!“, antwortete Lindsay und nickte mir knapp zu. „In einer Woche auf dem Bahnhof. Neun Uhr dreißig.“

Damit griff er seinen Zylinder auf und stolzierte davon, ohne sich noch ein einziges Mal nach mir umzusehen. Fast hätte ich ihm wütend etwas nachgerufen, aber dann beruhigte ich mich wieder.

Warum sollte ich seiner Einladung nicht folgen? Natürlich, es war zeitlich etwas eng, aber ich konnte mit meinem Verleger alles in zwei Tagen klären, wäre danach wieder zurück und hätte noch Zeit genug, meine Ausrüstung zu vervollständigen und mein ohnehin nicht umfangreiches Gepäck zu packen.

Schon halb entschlossen, stand ich auf und – stieß mit einem Mann zusammen, der am Nebentisch gesessen hatte und sich ebenfalls erhob.

„Verzeihung!“, sagte der Fremde, als mir mein Umschlag aus der Hand fiel, eine Karte herausrutschte und auch noch ein Foto daneben lag. Rasch bückte sich der Mann, griff nach meinen Dingen und hob sie für mich auf. „Wie ungeschickt von mir, bitte nochmals um Verzeihung!“

Damit drückte er mir alles wieder in die Hand, nickte mir zu und war aus dem Café, noch bevor ich richtig reagiert hatte.

Seltsam, irgendwie kam mir der Mann bekannt vor!, dachte ich, während ich ebenfalls auf die Straße trat. Aber ich konnte mir nicht erklären, wo ich ihn bereits gesehen hatte. War der Zusammenstoß vielleicht absichtlich erfolgt und hatte der Fremde unser Gespräch am Nebentisch mit angehört? Irritiert sah ich mich auf der Straße nach ihm um, konnte ihn aber nirgendwo mehr entdecken. Er war groß und breitschultrig, ein dichter, schwarzer Bart bedeckte seine Züge fast vollständig, und die Augen, mit denen er mich rasch gemustert hatte, zeigten einen verschlagenen Ausdruck.

Etwas beunruhigt griff ich nach meiner Brieftasche, fand sie aber am gewohnten Ort und dachte mir nun nichts weiter. Es war meine Absicht, direkt vom Vortrag zum Bahnhof zu gehen, wo ich bereits meine Reisetasche aufgegeben hatte. Noch war genügend Zeit bis zur Abfahrt, und ich schlenderte langsam in die Richtung des Dresdner Bahnhofs. Manchmal blieb ich an einer Schaufensterauslage stehen, und einmal war es mir so, als würde mich der Unbekannte aus dem Café verfolgen. Rasch drehte ich mich nach der Gestalt um, musste aber feststellen, dass ich mich geirrt hatte.

Na, Charly, da schneit der englische Hobbyforscher unverhofft in meinen Vortrag, und schon beginnst du, überall Gespenster zu sehen. Warum sollte der Unbekannte mich überhaupt verfolgen?

Trotzdem sah ich mich jetzt häufiger mal um und beobachtete die Menschen, die mit mir in die gleiche Richtung strebten, in den Schaufensterscheiben. Doch nichts konnte meinen Verdacht bestätigen, und schließlich betrat ich den vor Menschen wimmelnden Bahnhof, ging zur Gepäckausgabe und ließ mir meine Reisetasche wieder aushändigen.

Laute Rufe, Pfiffe, dazu die ein- und auslaufenden Lokomotiven – das alles vermischte sich zu einem starken Crescendo und machte mich nahezu taub für Geräusche in meiner unmittelbaren Nähe. Gerade stand ich vor der Auslage einer Buchhandlung, als ich eine leise Stimme vernahm und zugleich am Rock gezupft wurde:

„Einen Groschen, Herr, nur einen Groschen für eine warme Mahlzeit!“

Erstaunt blickte ich den schiefen Menschen in seinen erbärmlichen Lumpen an, der vor mir stand und einen fast zahnlosen Mund zu einem seltsamen Lächeln verzerrte.

Er streckte mir eine unglaublich dreckige Hand flehend entgegen, und ich konnte nicht umhin, zog meine Geldbörse und drückte dem Bettler mehrere Münzen in die Hand.

„Danke Herr, Sie sind ein feiner Mensch! Der liebe Gott möge Sie auf Ihren Wegen beschützen und alles Böse von Ihnen fernhalten!“

Damit bewegte sich der Bettler auf eine unglaubliche Weise weiter. Seine Beine schienen so verkrüppelt zu sein, dass er nur seitwärts laufen konnte und sich wie ein Krebs zwischen der Menge bewegte, immer wieder seine klägliche Stimme erhebend und die Menschen anbettelnd.

Ich verlor ihn bald aus den Augen, kaufte mir eine Zeitung für die Reise und stieg wenig später in den bereits wartenden Zug. Glücklicherweise hatte ich das Abteil allein für mich und konnte mich entsprechend ausbreiten. Der Zug stand noch, als ich mich bereits in den Inhalt des Umschlages vertieft hatte. Da war zunächst einmal die Fotografie, die mir eine unbekannte Gegend zeigte, die von zahlreichen Trümmern übersät war. Ein paar hell gekleidete Personen waren dazwischen zu erkennen, und ich folgerte daraus, dass mir Lindsay das Foto einer Ausgrabungsstätte in den Umschlag gelegt hatte.

Die ebenfalls enthaltene Karte war identisch mit der, die er aus seiner Jackentasche gezogen hatte, und dann ärgerlich zusammenfaltete, als der Direktor der Geografischen Gesellschaft einen neugierigen Blick darauf geworfen hatte. Die Karte zeigte auf der einen Seite einen Überblick über das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, auf der anderen Seite Details um die Städte Ninive und Aššur. Bei der zweiten Stadt fand ich ein Kreuz auf der Karte und dazu winzig kleine Zahlen, mit dem bloßen Auge kaum zu entziffern. Ich hielt mir die Karte dicht vor die Augen, konnte aber bei der schlechten Abteilbeleuchtung nur erkennen, dass es sich wohl um Längen- und Breitengrade handelte sowie um ein paar Ziffern, die möglicherweise Entfernungsangaben waren.

 

Ich lehnte mich zurück und dachte nach.

Mesopotamien bildet zusammen mit der Levante das früheste Kulturgebiet des alten Orients. Sumerer, Babyloner, Akkader und viele andere Völker siedelten hier schon vermutlich Jahrtausende vor Christi Geburt. Die alten Städte waren längst untergegangen und der Wüstensand hatte viele Spuren verwischt. Perser, Makedonier, Parther, Sassaniden, Araber, dann die Osmanen, folgten in den nächsten Jahrhunderten und hinterließen ebenfalls ihre Spuren. Hier wurde einst Bier gebraut, es entwickelten sich bestimmte Keramik-Arten, die Kulturen erreichten ungeheure Kenntnisse in Handwerk und Technik, legten Kanäle zur Feldbewässerung an, ritzten Zeichen in Tontafeln und schrieben in Keilschrift und Buchstaben, beobachteten das Firmament und verehrten zahlreiche, mächtige Götter. Große Tempelanlagen waren ihnen gewidmet und bildeten heute für die Archäologen, besonders in England und Deutschland, ein überaus interessantes Forschungsgebiet, das jedoch durch die verschiedenen Machthaber und politischen Entwicklungen nicht einfach betreten werden konnte.

Ich erinnerte mich auch an den Fund einer alten Siegelrolle, die man in das 5. Jahrtausend vor Christi Geburt einstufte, gefunden am Ufer des Tigris. Und jetzt also wollte Sir David Lindsay, der schwerreiche englische Hobby-Archäologe, seinen großen Fund machen.

Hatte er nicht die Stadt Aššur erwähnt?

Je länger ich mich mit dem Thema auseinandersetzte und dabei immer wieder einen Blick auf die Notizen Lindsays warf, die hauptsächlich aus Stichwörtern bestanden, je mehr wirbelten mir die Gedanken durch den Kopf. Die Luft im Abteil war warm und stickig, ich wollte eines der Fenster herunterlassen und musste schließlich aufgeben, weil der dünne Stoffgurt befürchten ließ, bei nochmaligem Versuch zu reißen. Dazu kam das eintönige Rattern der Schienen, und irgendwann musste ich eingeschlafen sein.

Ich schreckte hoch, als der Zug auf freier Strecke plötzlich bremste und dann hielt. Verwundert blickte ich aus dem Abteilfenster in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen.

Wird wohl ein Signal sein!, dachte ich und wurde auch nicht misstrauisch, als ich plötzlich laute Stimmen hörte und ein paar Abteiltüren zugeschlagen wurden. Dann ruckte der Zug an und setzte sich wieder langsam in Bewegung. Erst jetzt fiel mein Blick auf meinen Nebensitz, auf dem ich den Inhalt des Umschlages ausgebreitet hatte. Nur der leere, braune Umschlag lag dort noch, Karte, Foto und Aufzeichnungen waren verschwunden.

Das ist ja wohl nicht möglich!, schoss es mir durch den Kopf.

Ich bückte mich, um unter den Bänken nachzusehen, aber da war überhaupt nichts.

Noch einmal untersuchte ich das Abteil gründlich, schob sogar die Hände zwischen die Polster und musste mir schließlich eingestehen, dass man mich beraubt hatte. Einfach so in einem harmlosen Zug auf dem Weg nach Süden. Wir hatten vor etwa einer Stunde Leipzig passiert und waren jetzt wohl auf dem Weg nach Frankfurt.

Ich trat auf den Gang hinaus und hielt Ausschau nach einem Schaffner.

Niemand schien sich Gedanken um den zusätzlichen Halt zu machen, die Abteile waren auch nur schwach besetzt. Also ging ich von einem Wagen in den anderen und traf schließlich in der Ersten Klasse auf einen Schaffner, der mir wohl gerade mit einer abwehrenden Bewegung den Zugang verbieten wollte, als ich ihm sofort das Wort abschnitt.

„Ich bin überfallen und beraubt worden. Warum hielt der Zug eben auf freier Strecke?“

Der Mann, ein kleiner, untersetzter und rotgesichtiger Beamter, schien buchstäblich in sich zusammenzusacken, als hätte man ihm die Luft abgelassen.

„Um Himmels willen, Raub? Aber das hatten wir ja noch nie in unseren Zügen!“

„So, dann ist es eben das erste Mal, guter Mann. Also, warum hielt der Zug?“

Ich sah den Kleinen streng an, und er schien förmlich noch weiter zusammenzusinken, als er schließlich auf ein Abteil hinter ihm verwies und kleinlaut antwortete: „Jemand in der Ersten Klasse hat die Notbremse gezogen. Bevor ich nach dem Rechten sehen konnte, war er aus dem haltenden Zug gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden.“

„Na, das ist ja wunderbar! Da werden nichtsahnende Reisende beraubt, der Täter zieht die Notbremse, und der Zug hält mitten auf der freien Strecke, damit der Dieb entkommen kann! Schöne Zustände!“

„Aber, bester Herr, ich bitte Sie, wie sollen wir wissen, dass es kein Notfall war?“

Ich wehrte mit der Hand ab.

„Egal. Wann kommt der nächste Bahnhof?“

„Das ist Frankfurt, aber erst in einer guten halben Stunde!“

„Gut. Dann werde ich dort Anzeige erstatten müssen! Sie werden mir Gesellschaft beim Gang auf das Revier leisten!“

Der Kleine riss entsetzt die Augen auf.

„Aber – das geht auf keinen Fall, Herr, ich kann doch den Zug nicht verlassen!“

„Ist mir eigentlich egal, aber dann sorgen Sie dafür, dass in Frankfurt die Polizei unterrichtet wird. Können Sie den Mann beschreiben, der in diesem Abteil saß?“

„Nein … nur so viel – es war ein großer Herr mit einem kräftigen Bart, aber ob ich ihn wiedererkennen würde – ich weiß nicht!“

„Nun, Sie wissen, was zu tun ist. Ich erwarte Sie in Frankfurt in meinem Abteil.“

Damit drehte ich mich um und kehrte in meinen Waggon zurück.

Natürlich hatte ich gar nicht die Absicht, den Diebstahl anzuzeigen. Einmal war die Nachsuche ja ohnehin unmöglich, dann würde mich eine Aussage auf einem Polizeirevier viel zu lange aufhalten. Nein, ich wollte eigentlich nur dem Schaffner ein wenig Dampf machen, damit er sich bemühte. Alles Weitere bliebe abzuwarten.