Zellgeflüster

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich bin allein. Nichts steht hinter mir außer einem Stuhl, auf dem Kleider liegen. Und dennoch weiß ich, dass es da war. Ich schüttle mich und beginne eine neue Skizze.

Gegen Morgen schlafe ich ein und träume von der Wohnung meiner Kindheit. Diesmal hilft mir meine Mutter beim Suchen der Papiere. Sie rennt hinter mir her und murmelt vor sich hin.

Ich verstehe nur: „Wo hat er sie versteckt, wo hat er sie nur versteckt?“

Als ich sie frage, von wem sie spricht, lächelt sie abwesend und antwortet, „Von dir natürlich. Wem sonst?“

Ich erwidere, ohne zu wissen, warum: „Ich dachte, du meinst Onkel Hans.“

An den Rest des Traums erinnere ich mich nicht mehr, aber ich bin mir sicher, dass wir nicht fanden, wonach wir suchten. Als ich aufwache, versuche ich mich an einen Onkel Hans zu erinnern. Ich gehe alle Brüder, Cousins und weiteren Verwandten meiner Eltern durch, aber keiner heißt Hans und keiner entspricht dem Bild, das ich im Kopf habe: ein älterer Mann mit Silberblick.

Als ich das Telefon am nächsten Mittag anmache, habe ich zwei Anrufe. Einen von Jesse und einen von der Polizei. Jesse beschimpft mich und verabschiedet sich mit den Worten: „Melde dich oder ich komm dich holen.“ Sein Lachen geht in ein Husten über und er legt auf. Die Polizei bittet um einen Rückruf. Ich nehme das Telefon in die Hand, überlege mir, was ich tun soll, lege es wieder hin, mache mir einen Kaffee, nehme das Telefon wieder in die Hand, lege es wieder hin, gehe aufs Klo, gehe duschen, sehe, wie das Telefon aufleuchtet, wieder ein Anruf, den ich unter der Dusche verpasst habe, mit klopfendem Herzen sehe ich die Nummer. Larissa. Ich atme aus.

Ich rufe zurück und sie informiert mich, wann sie Silvester vorbei bringen wird. Der Bann ist gebrochen. Ich rufe bei der Polizei an und werde zu einem Herrn Stiller durchgestellt. Ich erkenne seine Stimme. Er ist einer der beiden Typen, die bei mir zu Hause waren. Er fragt mich, ob ich ein paar von Julianas Bekannten identifizieren könnte. Ich verneine, überwinde mich und frage nach dem Stand der Ermittlungen. Eine Autopsie hat die Selbsttötung bestätigt. Man fand keine Drogen im Blut und die Polizei geht nicht von einer „Fremdeinwirkung“ aus. Die Sache mit meinem Bild und dem Foto scheint vergessen zu sein. Das bedeutet vermutlich, dass keine anderen Fotos von mir gefunden wurden. Ich werde ruhiger.

Die Stimme des Mannes wird verschwörerisch. „Sagt Ihnen der Name Raphaela Lavalle etwas?“

„Nie gehört.“

„Diese Dame war wohl eine gute Bekannte von Frau Narkos. Sie haben Sie nie getroffen?“

„Nein.“

„Wie dem auch sei: Frau Lavalle scheint ihr Geld als Medium zu verdienen.“

„Medium?“

„Ja, sie liest wohl aus Karten und organisiert Geister-Séancen oder so was in der Art. Wir denken, sie könnte einen gewissen Einfluss auf Frau Narkos gehabt haben. Sie hat diese Frau nie erwähnt?“

Ich verneine.

„Schade. Aber wie dem auch sei: Wenn Sie sich an irgendetwas erinnern – oder an irgendwen, den Frau Narkos mal erwähnt haben sollte, rufen Sie mich bitte an, ja?“

„Klar.“

„Und noch etwas. Sie haben einen minderjährigen Sohn, oder?“

Ich beiße mir auf die Unterlippe.

„Sie sollten illegale Substanzen nicht so offen herumliegen lassen. Das wissen Sie doch. Schönen Tag noch.“

Nach dem Anruf schenke ich mir einen doppelten Rum ein und rolle mir eine Tüte. Madame Lavalle. Ich muss lachen. Fiats Ex-Frau ist unter die Geisterbeschwörer gegangen. Davon hat er mir nie etwas erzählt. Ich drehe mich zu dem Autounfall um. Juliana schaut mich anklagend an. Und neben ihr sitzt mein Selbstportrait. Ich habe keine Ahnung, wie es dahin gekommen ist. Ob es schon da war, als die Polizei bei mir war.

Ich rufe bei Jesse zu Hause an und Maya meldet sich. Ich entschuldige mich dafür, dass ich am Vortag „so komisch“ gewesen war und mir wegen der „Psychogeschichten von Alice“ Sorgen gemacht habe. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Maya geht’s prächtig.

Sie kommt gleich zur Sache. „Wann kommst du vorbei?“

Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Sie fragt nicht nach Jesse und ich frage nicht, ob er inzwischen nach Hause gekommen ist. Während sie mir von einer Auseinandersetzung in der U-Bahn berichtet, in die sie verwickelt war, kratze ich an der Farbe an meinen Nägeln herum. Violett. Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal diese Farbe benutzt habe und gehe in Gedanken die letzten Bilder durch, während mir Maya von dem Mann berichtet, der sie mehrfach ‚Fotze’ genannt und bespuckt hat.

„Und bei jedem Mal Fffotze hat er mir seine Speichelfäden ins Gesicht geschleudert. Seine tödlichen Fffotze-Fäden. Die hat er auf mich abgeschossen wie Spiderman mit Tourette-Syndrom. Und das Beste: Niemand hat mir geholfen. Alle haben weggeschaut. Ich musste dann zwei Stationen früher aussteigen, weil der Typ echt nicht zu ertragen war.“

Ihre Stimme klingt gleichzeitig empört und amüsiert. Ich versuche mir vorzustellen, wie jemand diese Frau anspuckt. Es gelingt mir nicht. Ich stehe auf und gehe zu den Bildern. Drehe mit einer Hand den Unfall zur Wand. Jetzt schauen mich die Rückseiten von zwei Leinwänden an. Sofort geht es mir besser.

Nach dem Gespräch rauche ich noch einen und lege mich mit Fiats Lektüre ins Bett. Im Vorwort beschreibt die Autorin Halluzinationen und Synchronizitäten, die sie dazu gebracht haben, das Buch zu schreiben. Sie interpretiert diese inneren Bilder und Zufälle als Dämonen, die sich zeigen wollen. Nach neun Seiten bin ich zu müde, um weiter zu lesen. Am liebsten wäre mir, der Text würde durch meine Haut diffundieren. Vorbei am Gehirn und direkt ins Blut.

Als das Telefon klingelt, wache ich auf. Jesse. Im Hintergrund ist es laut. Er will, dass ich sofort vorbei komme, wo auch immer er ist (er weiß es nicht), sonst würde er zu mir kommen. Ich höre eine Frau im Hintergrund lachen, dann ein Zischen.

Er flüstert heiser: „Die Frau bringt mich noch um, Mann, hol mich hier raus.“ Und noch leiser: „Bitte.“

Ich lache, lege auf und schlafe sofort wieder ein. Keine Träume vom Meer, kein süßer Duft, keine Hand auf der Stirn lassen mich aufwachen. Zumindest kann ich mich danach an nichts mehr erinnern.

Am nächsten Morgen verschütte ich meinen Kaffee, als es im Hausflur poltert. Einen Moment denke ich, es ist die Polizei und schleiche mich an die Tür, um durch den Spion zu sehen. Der Spion ist genauso blind wie das Fenster daneben und ich kann nichts erkennen, aber ich mache das immer. Vielleicht, weil ich hoffe, ich könnte die Person auf der anderen Seite der Tür „erspüren“.

Bevor ich etwas erspüren kann, brüllt Jesse meinen Namen. Ich öffne die Tür. An seinem Blick kann ich erkennen, dass er schon länger nicht mehr geschlafen hat.

„Willst du einen Kaffee?“

Jesse verzieht den Mund zu einem Grinsen und lässt den Kopf hängen. Er hält sich an der Tür fest und fixiert mich mit wölfischer Miene. Seine linke Gesichtshälfte ist dunkel verfärbt.

„Guten Morgen, altes Haus!“

Er ist viel zu laut und ich flüchte in die Küche. Dort halte ich meine verbrühte Hand unter das kalte Wasser und frage: „Hast du noch was übrig von deiner guten Laune?“

Jesse brüllt zurück, „Beat, was du brauchst, ist eine Frau, die auf dich aufpasst!“

Ich überlege mir, wie viel Kaffee ich trinken muss, um auf sein Niveau zu kommen. Als ich zurückkomme, steht er vor dem Bild von der Frau vor der Treppe. Er hat den Kopf schief gelegt und zieht an einer abgebrannten Zigarette. „Das ist Maya.“

„Ist es nicht.“

„Doch, das ist Maya. Nachdem du sie gefickt hast. Danach sieht sie immer so aus.“ Er macht beschreibende Handbewegungen.

Ich setze mich aufs Bett, schließe die Augen. Ich kann mich nicht daran erinnern, das Bild wieder umgedreht zu haben. Ich wünsche, ich hätte es nicht getan. Oder war ich das gar nicht? Jetzt ist es zu spät und ich weiß, es ist sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Die Frau auf dem Bild ist ungefähr zwanzig Jahre älter als Maya und nach der Mode der Zeit gekleidet. Sie steht starr vor einer Treppe, mit einem panischen Gesichtsausdruck. Hinter ihr tropft ein Schatten in einer dunklen Lache die Stufen hinunter. Im Holz zeigt sich der Umriss eines Menschen. Auf dem Foto, von dem ich sie abgemalt habe, wirkt sie nicht halb so panisch. Und auch hier hat sie nicht viel Ähnlichkeit mit Maya. Ich zeige mit der Hand auf die Vorlage, ein Ausdruck in schwarzweiß, der links oben auf der Leinwand klebt. Es ist sinnlos. Jesses Augen werden zu Schlitzen.

„Sie war hier, oder?“

„Vor einer Woche. Mit dir.“

„Nein, letzte Nacht.“

„Leider nicht. Willst du ein Bier?“

„Mann, sag mir die Wahrheit, war sie hier?“

„Nein. Willst du was rauchen?“ Ich überlege krampfhaft, was ihn herunterbringen könnte. Migränemedikamente? Schlafmittel?

„Lüge mich nicht an, verdammt. Sie war hier, oder?“ Er steht vor mir, beugt sich nach unten, holt aus. Auf einmal weiß ich, warum ich das Bild nicht mehr anrühren wollte.

Es dämmert, als ich wieder aufwache. Ich rolle mich an den Rand des Bettes und mache das Licht an. Einer von uns hat geblutet. Jesse liegt neben mir auf dem Bauch. Die langen Kratzer auf seinem Rücken sehen aus wie Schaltkreise. Meridiane, an deren Schnittstellen ich die letzten Stunden rekonstruieren könnte. Wenn ich wollte. Ich will nicht. Ich ziehe mich an den Heizungsrohren hoch und gehe ins Bad. Spucke ins Waschbecken. Kein Blut im Speichel. Meine rechte Augenbraue ist verkrustet. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Maya meldet sich nach dem ersten Klingeln. Ich sage ihr, dass ich es heute nicht mehr schaffe. Ich höre, wie sie ausatmet.

 

Und dann stellt sie die Frage, die seit unserem letzten Telefonat durch den Raum geistert: „Hast du was von Jesse gehört?“

Ich würde gern antworten, das ist schon ein paar Tage her, warum? Aber ich kann nicht. „Er ist hier. Schläft seinen Rausch aus. Ich schmeiße ihn raus, wenn er wach ist, OK?“

„Ach, weißt du was? Behalte ihn einfach. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Sie legt auf.

Ich frage mich, ob das auch für mich gilt.

Ich male an der Frau vor der Treppe, als Jesse aufwacht. Seine Reaktion hat mir die Zweifel an dem Bild genommen. Vielleicht habe ich unbewusst geahnt, was es auslösen würde. Jetzt kommt mir nichts mehr merkwürdig daran vor. Im Gegenteil, die Stimmung ist genauso, wie ich sie haben möchte. Die Angst ist in Panik umgeschlagen. Der Angreifer hat angegriffen. Jetzt ist die Luft rein. Wer das allerdings entschieden hat, ich oder das Bild oder irgendetwas anderes, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wer das Bild umgedreht hat. Aber ich weiß, ich kann mir wunderbar selbst aus dem Weg gehen.

Als ich ein Geräusch höre, drehe ich mich um. Jesse setzt sich langsam auf. Sein normalerweise ausdrucksloses Gesicht wirkt kurz gequält, aber er fängt sich wieder. Ich bemerke, dass nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Oberkörper geprellt und zerkratzt ist. Mehr als meiner. Dann sehe ich die blutigen Kreise zwischen seinen Brustwarzen. Davor waren sie mir nicht aufgefallen.

Ich mache einen Witz. „Hast du dir was von Robert Fludd einritzen lassen?“

Er schaut mich mit roten Augen an. Dann hustet er, zuckt mit den Schultern und steht auf. Er geht ins Bad und ich kann hören, wie er sich übergibt. Danach höre ich die Dusche, mehr Kotzen, den Wasserhahn. Er kommt zurück, wickelt sich in die Decke und schaut mir beim Malen zu. Ich mache die Musik lauter und male weiter. Ich bin mir sicher, er wird sich gleich über die Musik beschweren. Wenn er das tut, kontere ich mit Wagner.

Doch er bleibt still. Als ich mich umdrehe, blättert er in einem Buch. Ich drehe den Ton herunter. „Was liest du da?“

Er hält das Buch von Fiat hoch. Verdammt.

Ohne etwas zu sagen, blättert er weiter darin herum. Ich ahne Böses, aber ich drehe mich um und arbeite an dem Hut der Frau. Ich möchte, dass sie durchscheinend wird, so als sei sie der Geist, nicht die Erscheinung vor ihr oder der Schatten auf der Treppe.

Auf einmal spüre ich ihn direkt hinter mir.

„Woher hast du dieses Buch?“

„Keine Ahnung.“

„Du hast es von Fiat, oder?“

„Fiat ist ein alter Freund.“

„Fiat war mit Pernath unterwegs. Er ist nicht ganz dicht.“

Der sagenumwobene Pernath? Auf diese Diskussion lasse ich mich nicht ein. Stattdessen zeige ich auf das Bild. „Was denkst du? Sieht sie wirklich aus wie Maya?“

„Lass dir keine Bücher von ihm aufdrängen. Er denkt, er hat einen Auftrag.“

„Was für einen Auftrag?“

„Ich war bei einem dieser Treffen, die er organisiert. Das sind Psychopathen. Die haben nicht locker gelassen, haben ständig genervt. Wie eine Sekte, Mann. Lass dich darauf nicht ein.“

Ich atme aus. „Schon gut. Da besteht keine Gefahr. Ich bin kein Gruppenmensch.“

Er starrt mich einen Moment lang an. Dann geht er zurück zum Bett, sucht seine Klamotten, seine Zigaretten. Als er merkt, dass ich zu ihm hinüberschaue, sieht er mich herausfordernd an. „Was?“

„Bist du in Ordnung? Was sollen diese Kreise da ...“ Ich zeige mit dem Finger auf seine Brust.

Er grinst, steckt sich eine an und hustet. „Das war dieses Mädchen. Die kleine Blonde. Von neulich?“

Ich schüttle den Kopf.

„Die war ziemlich wild.“ Er zieht sich an. „Scheiße, ich muss ins Studio. Vasili dreht durch, wenn ich nicht aufkreuze.“

„Es ist halb zwei.“

„Und?“

„Es ist mitten in der Nacht, Jesse. Entspanne dich.“

„Die beste Zeit, um zu arbeiten.“

„Maya hat nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass du hier bist.“

Jesse steht unschlüssig im Raum, Hände in der Jacke vergraben und schaut sich um. „Ich sehe sie morgen.“

„Sie ist ziemlich sauer.“

Er kratzt sich am Kopf. „Sie wird sich schon beruhigen. Ich muss los.“

„Sie macht sich Sorgen.“ Ich drehe mich um und kratze am Hut der Frau herum. „Nicht zu Unrecht.“

Er umarmt mich von hinten, überraschend fest, und ich merke, wie müde ich bin. Ich werfe den Pinsel auf den Tisch, während er mir ins Ohr flüstert: „Komm bald vorbei. Maya vermisst dich.“


# 6: 08. Februar

Es dauerte ewig, bis ich dort war, Pendelverkehr, dann lief ich in die falsche Richtung. Als ich ankam, war ich zwanzig Minuten zu spät. Eine verschleierte Frau öffnete mir die Tür, ich sagte, ich möchte ins Reptilienhaus und sie zog mich in einen rot beleuchteten Gang. Dort streifte ich die Schuhe ab und sie gab mir ein Gewand, das ich mir überzog und das mich wie eine Burka von oben bis unten bedeckte.

Sie legte den Finger auf die Lippen und schob mich in den nächsten Raum, in einen großen, mit Kerzen beleuchteten Saal. Es roch nach Weihrauch und ich konnte nicht erkennen, wie viele Leute da waren. Meine neue Bekanntschaft konnte ich auch nicht sehen und ich wollte nicht nach ihm fragen.

Alle um mich herum waren in dunkle Gewänder gehüllt. Lediglich ein Mann in der Mitte trug einen ganz normalen Anzug und eine Sonnenbrille, obwohl es viel zu dunkel dafür war. Er stand in einem Kreis Kerzen neben einem hüfthohen Granitblock, aus dem eine Stange ragte, an der sich zwei Schlangen empor rankten. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich konnte die Details langsam erkennen.

Von Anfang an war ich mir ziemlich sicher, dass in den Gewändern Frauen und Männer steckten, obwohl niemand redete und alle ganz still standen. Vor dem Mann in der Mitte saßen zwei Menschen auf dem Boden. Die anderen standen um den Lichtkreis und atmeten tief.

Der Mann im Anzug war der einzige, der sprach. Je länger ich hinsah, desto älter wirkte er. Er hatte weißes, nach hinten gekämmtes Haar und seine Stimme war überraschend hoch und brüchig. Mit den Händen zeigte er uns, in welchem Rhythmus wir ein- und ausatmen sollten, dabei verlangsamten sich die Gesten und damit die Atemzüge zunehmend. Ich versuchte mitzuhalten, bis mir schwindelig wurde. Als ich zu früh einatmete, war mir so, als würde er in meine Richtung sehen. Als würde er merken, dass ich den kollektiven Rhythmus durchbrach und nicht mehr im Takt war.

Nach einer gefühlten Stunde machte er eine neue Handbewegung und die beiden, die vor ihm saßen, zogen ihre Gewänder aus. Es waren zwei Männer, der eine klein und dünn, der andere etwas größer und sehr muskulös. Sie waren nackt und legten sich nebeneinander vor ihm auf den Boden. Ich reckte mich leicht, um nichts zu verpassen. Inzwischen konnte ich erkennen, dass außer mir und den drei Männern in der Mitte 20 bis 30 weitere Leute da waren. Alle außer mir standen bewegungslos um den Kreis herum und atmeten tief im selben Takt ein und aus.

Auf einmal kamen zwei verhüllte Gestalten in die Mitte und setzten sich auf die Nackten am Boden. Eine weitere Gestalt in einem roten Gewand trat hinter dem Mann im Anzug hervor. Sie hielt ein metallisches Gerät in der Hand, das so aussah wie ein Zirkel. Die beiden, die auf den Nackten saßen, bewegten sich rhythmisch. Es war kein Laut zu hören außer dem regelmäßigen einstimmigen Atem um mich herum. Die rotgewandete Gestalt beugte sich nach unten und setzte den Zirkel auf die Brust des Mannes, der links von mir aus auf dem Boden lag. Sie zog den Zirkel einmal herum und ich sah, wie sich ein dünner roter Kreis bildete. An dem Zirkel war ein kleines Messer oder Skalpell befestigt. Dann verkleinerte sie den Durchmesser und zog einen weiteren Kreis. Und noch einen.

Danach reinigte sie den Zirkel und wandte sich dem Mann rechts von mir zu. Außer dem Atem und dem Rascheln der Gewänder war nichts zu hören. Die beiden, die auf den Nackten saßen, regten sich nicht mehr, um den Zirkelhalter nicht zu stören. Ich konnte nicht genau erkennen, was passierte, aber ich vermutete, dass auch der zweite Nackte drei Kreise in die Brust geschnitten bekam. Als die Gestalt in dem roten Gewand damit fertig war, stand sie auf und verschwand hinter dem Mann im Anzug. Er machte eine Geste und die beiden Verschleierten auf den Männern standen auch auf, traten hinter die Männer, zogen sie nach oben und drehten sie mehrfach um sich selbst, so dass alle sie von vorne sehen konnten. Die Kreise begannen stärker zu bluten und ein dünnes rotes Rinnsal zog sich von den Brustwarzen bis zum Bauch hinunter.

Alle um mich herum fingen an zu jubeln und ich stimmte mit ein, ohne zu wissen, warum.

Kapitel 7

Als es schon fast vorbei war zwischen uns, kam Larissa ins Atelier. Ich teilte mir damals ein Ladencafé in Neukölln, das ähnlich dunkel wie meine jetzige Wohnung war. Auch die Bilder wurden immer dunkler. Gegenständlicher und düsterer. Sie setzte sich an den Tisch und kratzte mit einem Pinselgriff auf der Tischplatte herum. Dann fragte sie mich, was ich da malte. Ich antwortete, eine Geisterséance. Sie lachte.

„Was ist daran so lustig?“, fragte ich.

Séancen sind natürlich an sich schon lustig, aber Larissa hatte Beschwörungen sonst immer „pathologisch“ und „gefährlich“ gefunden. Ihre Antwort überraschte mich: „Du glaubst doch gar nicht an ein Leben nach dem Tod.“

Ich zog den Pinsel über die Ecke eines rotstichigen Bildes, auf dem vier Leute um einen Tisch saßen. Einem von ihnen quoll weißes Zeug aus dem Mund. Einer meiner ersten Versuche, Ektoplasma darzustellen.

„Geister leben ja auch nicht. Sie sind ... einfach nur da, verstehst du?“ Ich drehte mich zu ihr um. „Keine Ahnung. Nimm das einfach nicht so ernst.“

Sie sah mich an und ich ahnte, es würde nicht mehr lange so weiter gehen. Ich fühlte mich auf einmal verloren. Gefangen in einer Zwischenzone. In einem Vakuum zwischen Lebensphasen, Geistern, Impulsen. Meine inneren Widersprüche waren zu meiner Welt geworden. Transparente Körper, Nebel, Ektoplasma. Ich griff zu jedem Mittel, um nicht selbst Form annehmen zu müssen. Ich wollte mich nicht entscheiden.

Also fällte Larissa die Entscheidung.

In der Woche nach der Trennung passierte es zum ersten Mal. Ich lag auf dem Sofa und drehte mich um. Auf einmal spürte ich ein Stechen in der linken Schulter. Der Schmerz durchzuckte mich bis in die Hand. Ich schloss die Augen und atmete in die Seite. Stellte mir vor, wie heilendes Wasser durch die Adern floss, wie mich flirrende leuchtende Vögel berührten und den Schmerz aussaugten. Aber nichts passierte. Der Schmerz wurde stärker und die Vögel langsamer und dunkel. Und dann spürte ich die kalte Welle.

Ohne meine Augen zu öffnen, sah ich, wie sich ein Schatten aus meiner Schulter löste, wie dunkler Nebel aus dem Arm sickerte und nach oben tropfte, in die falsche Richtung. Oder ich lag falsch. Ich hatte die Orientierung verloren. Der Schatten war in mir oder um mich herum und ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Der Schatten hatte sich als Schmerz in meinem Körper manifestiert und kam nun langsam zum Vorschein, zog sich durch die verspannten Muskeln, durch die Haut. Von da an besuchte er mich regelmäßig oder ich ihn. Oder vielleicht war er auch schon immer da und jetzt erst bemerkte ich ihn. Ich konnte ihn nicht mehr ignorieren. Ich musste antworten.

Das erste Bild, das ich nach der Trennung malte, war die Somnambule, Magdeleine Guipet, die „Traumtänzerin“, die um die vorletzte Jahrhundertwende vor einem Publikum in Trance ging und einige Künstler der Münchner Secession inspirierte. Meine Magdeleine wurde zum Selbstportrait. Das dunkle Haar, das sie auf den meisten Fotos zusammengebunden trug, fiel ihr auf meinem Bild schwer ins Gesicht. Dunkle Flecken zogen sich ihre Hände und Arme entlang. Sie hatte meine Haltung, meinen unsicheren Blick. Halb entrückt und gleichzeitig festgenagelt in der Welt. Sie hatte meinen Schatten.

Seitdem trägt jedes meiner Bilder den Schatten. Ich kann ihn nicht abschütteln, egal, wie oft ich ihn male. Aber ich bilde mir ein, er wird leichter, wenn ich ihn auf viele Bilder verteile. Jeder Charakter trägt ein Stück davon. Und während ich ihn male, spüre ich ihn nicht.

 

*****

Als die Tür hinter Jesse zufällt, zittern mir die Beine. Es ist so, als würde schlagartig alle Kraft aus mir weichen. Ich setze mich aufs Bett und lasse mich nach hinten fallen. Ich weiß nicht mehr im Detail, was in den letzten Stunden passiert ist, aber es war anders als sonst. Jesse wirkte die meiste Zeit, als sei er weggetreten. Doch machte er immer weiter, wie ferngesteuert. Ich verlor einen Witz darüber, auf den er nicht reagierte. Und dann.

Und dann überrascht er mich. Er lässt sich auf mich fallen und bleibt schwer auf mir liegen. Ich kann mich nicht mehr wegdrehen, kann mich nicht mehr bewegen. Bekomme keine Luft mehr. Er schiebt mir etwas in den Mund, klein und glatt. Ich schlucke, bis mir schwarz wird vor Augen. Das letzte, was ich spüre, ist ein Brennen am Steißbein und sein Atem an meinem Ohr. An beiden Ohren gleichzeitig. Dann bin ich weg.

Als ich wieder zu mir komme, höre ich ihn flüstern. Ich verstehe nicht, was er sagt, und öffne die Augen. Er sitzt auf meinem Bauch und schaut mich an mit einem nüchternen, abschätzenden Blick. Unter seiner weißen Haut pulsieren blaue Flecken, die größer und kleiner zu werden scheinen. Morsezeichen, die ich genauso wenig verstehe wie sein Murmeln. Er lacht und hustet, immer lauter, bis ich ihm eine Ohrfeige gebe.

Und dann muss auch ich lachen. Ich fühle mich dabei seltsam schwerelos, als würde mein Gehirn in Helium schwimmen. Ich lache, bis mir die Tränen kommen, bis ich Jesse nicht mehr sehen kann. Bis die Leichtigkeit zu einer tiefen Schwere wird, die sich über mich legt, mich in die Matratze drückt. Das nächste, was ich erkenne: Jesse beugt sich über mich. Seine großen schwarzen Augen sind aufgerissen und ich kann mich für einen Moment darin spiegeln (gleichzeitig weiß ich, dass das nicht möglich ist), fühle wie der Druck nachlässt, der Schmerz nebensächlich wird und treibe weg, immer weiter hinaus, sehe mich von oben, sehe, wie ich in einer großen stahlgrauen Wassermasse schwimme, ein kleiner heller Fleck in der Dunkelheit, schiffbrüchig, werde immer kleiner, während eine Stimme in mir summt. Die Stimme.

Es muss aufhören. Aber es tropft und tropft und tropft in den nächsten endlosen Augenblick. Wie ein weiches schwarzes Meer, in dem sich die Zeit ausdehnt. In Wellen, nur wahrnehmbar, wenn sie an der Küste brechen, die Küste zur nächsten Welt, die hinter dem Augenblick lauert, hinter der nicht enden wollenden Gegenwart. In einer ausgefransten Schleife, einer Acht aus Algen, Strudeln, verblassenden Farben. Hier taucht man ein, um nie wieder aufzutauchen. Es hätte schon längst vorbei sein sollen.

Ich merke oder bilde mir ein, dass ich schlafe und nicht aufwachen kann. Oder dass ich nicht schlafe und trotzdem nicht aufwachen kann. Ich träume, dass ich schlafe, ohne zu schlafen, dass ich immer schlafe, mein ganzes Leben lang, bis in den Tod hinein, und plötzlich erinnere ich mich an ein Versprechen: erst Farben, Strudel davon, Gewitter gar, und dann: Dunkelheit.

Das war die Vereinbarung.

Ich gleite durch Bilder und Blitze, fahre direkt in den Sturm hinein, ins gleisende Licht, und ich weiß, dahinter ist das Nichts. Ich segele hinein, in den längsten Moment, den Höhepunkt, treibe ins Gewitter, Wellen, so hoch wie mein Haus, wie alle meine Häuser, eins über dem anderen, eine Wellenstadt voller Türen und Fenster, halbe Gesichter hinter Vorhängen, winkende Hände, Füße auf Treppenstufen. Glitzernde, flackernde Erinnerungen, während sich das Gehirn reinigt, während das Gedächtnis alles abruft, bevor es sich löscht, sich immer wieder überschreibt, bis nichts übrig bleibt, das ersehnte Nichts, sich überschreibt, mich überschreibt und irgendetwas dazwischen, das mit mir zu tun hat, aber etwas anderes ist, schwimmt in der Welle, obenauf, ein Stück Treibholz, ich bin es, ein Stück Erinnerung, das sich gerade auflöst, alles nach Plan, alles, wie versprochen. Ich schwimme in einem Bardo, mein Haus zerbirst, eine Schwesterwelle nach der anderen wirft es wie Treibholz nach oben, nach unten, ins Nichts, ohne loszulassen, ich lasse nicht los, es lässt mich nicht los, ich fliege im Sturm, mein Kopf eine Flagge, mein Körper das Holz, an dem ich mich festhalte, in die Dunkelheit, die Dunkelheit, die große, schwere Dunkelheit.

Ich träume, dass ich die Augen öffne und keine mehr habe. Alles ist grau. Ich sehe mich selbst, auch ohne Augen, erkenne mich in den Wolken, in den Wellen, hebe mich aus dem Wasser, schaue auf die Oberfläche, die jetzt ganz ruhig ist und spiegelglatt, erkenne mein Gesicht, das nasse Haar wie Algen auf der Stirn, wie Schlamm, spüre, dass es vorbei ist und

Nachdem Jesse gegangen ist, nehme ich mein Notizbuch und schreibe los. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber der Traum schreibt sich von selbst auf die Seiten, rekonstruiert sich, während meine Handschrift immer unleserlicher wird. Ich weiß nur eins: Ich war in einem Gewitter und habe mich langsam aufgelöst. In viele einzelne Teile, die jeder für sich weitergeträumt haben. Es noch jetzt tun.

Und jeder Teil badete in einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit, die organisch roch und voller Zellen war. Voller kleiner Lebewesen, die ständig ihren Zustand wechselten, aufleuchteten, sich vereinten, sich lösten, abstarben, in einem Raunen verschwanden, während ich nicht verschwinden konnte. Ich konnte einfach nicht loslassen.

Der Traum hinterlässt eine Unruhe, die mich an den Zustand vor der Migräne erinnert. Ich klappe das Notizbuch zu und verstecke es unter der Matratze. Vielleicht, weil mich Tagebuchschreiben an meine Pubertät erinnert. Ich selbst habe nie Tagebuch geschrieben, aber ich habe die Tagebücher von anderen gelesen und darin herumgekritzelt. Mit kleinen Zeichnungen die immer gleichen Dramen illustriert. Wer in der Schule neben wem sitzt, wer wen nicht beachtet, wer mit wem raucht und wer in der Pause allein bleibt. Ich stehe auf und gehe einkaufen.

Choco Crispies und Milch für Silvester. Gemüse und anderes Zeug, das ich ihm vorsetzen werde und das er nicht essen wird. Bier, Wein, Tabak und Brot für mich. Ich lasse mich durch die Gänge des Supermarktes treiben und überlege mir, was ich noch alles kaufen könnte. Ich könnte vieles brauchen, aber es ist mir zu anstrengend, die Packungen aus dem Regal zu ziehen und nach Hause zu schleppen.

An der Kasse fange ich an zu husten.

Ich schaffe es noch bis nach Hause und lasse die Tüten fallen. Die Milch muss in den Kühlschrank, das meiste andere Zeug wahrscheinlich auch, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ein Hustenanfall schüttelt mich minutenlang und ich krieche ins Bett. Mir ist kalt, ich habe Durst, aber der Weg in die Küche ist zu lang. Der Weg zu der Wolldecke auf der Couch auch. Ich liege unter zwei Decken, zittere und huste.

Es beginnt schleichend, kriecht lautlos von hinten heran wie ein geruchloses Tier. Leichtfüßig, tödlich. In der ersten Phase fühlst du die Schwäche in den Gliedern. Ein leises Räuspern in der Brust. Der Atem wird kürzer, rasselt hinter Rippengittern. Die Augen brennen, der Kopf pulsiert, Lichtreflexe bohren sich hinter geschlossene Lider. Alles ist zu eng und du ziehst dich noch weiter in dich zurück, weil dir kalt ist. Phase zwei: Dir ist so kalt, dass du dir an- und überziehen kannst, was du willst. Dir wird nicht wärmer. Die berühmte Eiseskälte der viralen Erscheinung macht es dir unmöglich, dich zu bewegen. Du erstarrst. Erst wenn du im Bett liegst und langsam eindöst, beginnt die Glut in dir zu schwelen. Die Hitze deines Bluts, das Antikörper produziert und immer schneller fließt, gepumpt von einem unregelmäßigen Herzschlag. Dir wird unglaublich heiß. Der Kopf glüht. Die Augen tränen. Die Nase läuft. Der Hals brennt. Fieber. Alles, was starr war, wird jetzt flüssig. Nun beginnt die dritte Phase.

Du bist auf einmal ganz bei dir. Die Welt so groß wie dein Kopf, der sich aufbläht, das Bett, das ganze Zimmer, die Wohnung umfasst und sich dann wieder zusammenzieht, in die Größe einer Walnuss. Du bist in deiner Welt und alles ist gleichzeitig nah und weit entfernt. Du siehst Dinge, die sich nicht gerne zeigen, sprichst mit Piraten und Priestern, mit immer abstrakteren Formen, die trotz ihrer fehlenden festen Konturen zunehmend an Kraft gewinnen, zu nahe kommen, verschwinden, wieder auftauchen, in dich hineintauchen, in deine tränenden Augen, laufende Nase, dröhnenden Ohren, durch deine schweißnasse Haut eindringen und dich noch kranker machen, das Blut noch schneller werden lassen, mehr Holz in dein Fieber legen, es zum Lodern bringen, bis an die Decke, an die erkennbare Grenze deiner Welt, die sich mit jedem Atemzug weiter ausdehnt oder verschwindet, je nachdem, wie offen du bist.

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