Endstation Salzhaff

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Endstation Salzhaff
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Ulrich Hammer

ENDSTATION SALZHAFF


Inhalt

Prolog

Kapitel 1 Kamptheater Bad Doberan

Kapitel 2 Das Fachkommissariat 1

Kapitel 3 Chili con Carne

Kapitel 4 Amtsgericht Rostock

Kapitel 5 Die »versenkbare« Mühle von Kröpelin

Kapitel 6 Gesucht

Kapitel 7 Die Rechtsmedizin

Kapitel 8 Vermisst

Kapitel 9 Hello again

Kapitel 10 In der Kroy

Kapitel 11 Die Staatsanwaltschaft

Kapitel 12 E-Mail für Dich

Kapitel 13 Kroy reloaded

Kapitel 14 »Was haben wir?«

Kapitel 15 Semper

Kapitel 16 Obduktion Tengler (58)

Kapitel 17 ROSTOCKER 7

Kapitel 18 Butter bei die Fische

Kapitel 19 Von null auf hundert

Kapitel 20 Zurück in Groß Klein

Kapitel 21 Tengler reloaded

Kapitel 22 Neue Nachricht

Kapitel 23 Im Ursprung

Kapitel 24 Alte Freunde

Kapitel 25 Gestrandet

Kapitel 26 Schadensmeldungen

Kapitel 27 Literatur

Kapitel 28 Abschied

Kapitel 29 Noch einmal in die Literatur

Kapitel 30 Rerik

Kapitel 31 Der technische Sachverständige

Kapitel 32 Auf der Suche nach Redlock

Kapitel 33 Neuer Friedhof Rerik

Kapitel 34 Fernabfrage

Kapitel 35 Bleib bei mir

Kapitel 36 EVA im FK 1

Kapitel 37 Dienstreise

Kapitel 38 DNA-Labor

Kapitel 39 Festnahme

Kapitel 40 Anfang und Ende

Epilog

Danksagung

UNSER AUTOR

Prolog

Wir könnten den Roman mit den Zeichen der Corona-Pandemie versehen und die Menschen mit Masken und Abstandsregeln agieren lassen. Da wir diese Zeit aber überwunden haben wollen, lassen wir es. Die Geschichte soll in einer »ganz normalen« Zeit spielen, mit all dem, was unseren Alltag ausmacht.

Es war einmal … so könnten wir beginnen … ein heißer Sommer. In welchem Jahr? Ach, das ist nicht so wichtig. In dieser Zeit so etwa. In der Gegenwart. Als schon alles so war wie jetzt. Sagen wir Anfang Juli. Das Land litt unter Trockenheit, wie in den früheren Sommern auch. Es ist der Klimawandel, wussten viele ganz genau. Im Grundlosen Moor zwischen Hohenfelde und Retschow war kein freier Wasserspiegel mehr zu sehen. Es verlandete Jahr für Jahr mehr. So hatte jeder seine Zeichen für oder gegen irgendwelche Katastrophen. Aber das änderte doch nichts am Täglichen. Die Molli dampfte wie immer durch Bad Doberan. Reisebusse drängten sich vor dem Münster und schickten Besucher und Besucherinnen zu den Führungen in das altehrwürdige Backsteingemäuer. Der Backenzahn stand wuchtig wie immer mit versteinerter Miene auf dem Buchenberg. Am Doberaner Wasserfall, den kaum jemand kannte, stürzten sich wie immer die Wasser des Bollhäger Fließes, befüttert durch den Althöfer Bach, in die Conventer Niederung. Im Cepelin und im Kellerswald gaben die wuchtigen, alten Baumbestände auf den Doberaner Bergen Schatten und Kühle. Eine Geschichte wie diese passiert so mittendrin und manch einer wird fragen: »Wie konnte es so weit kommen?« Aber bis dahin ist noch etwas Zeit …

Kapitel 1
Kamptheater Bad Doberan

Das Bad Doberaner Kino arbeitet nach dem Motto: »Filme können Sie überall sehen, aber Kino, das gibt’s nur hier bei uns im Kamptheater.« Es war ein Mittwoch. Der alte Kinosaal mit Parkett und Rang, 244 roten Polstersitzen und einem Verkauf für Wein, Bier und Popcorn verströmt Kinogeschichte. Der originale UFA-Gong markiert vor jeder Vorstellung den Beginn einer Reise in andere Welten, wie sie eben nur im Kino und nicht zu Hause im Sessel erlebt werden kann. Es lief »Systemsprenger« von Nora Fingscheidt. Eine wuchtige Psychopathologie schrie sich zwei Stunden durch den Saal. Beim Abspann sang Nina Simone »Ain’t got no, I got life …« und entkernte die Zuschauer endgültig, die noch im Eindruck vom finalen Sprung der Benni sitzen blieben und erst einmal tief durchatmeten, bevor sie nach ihren Mänteln und Jacken griffen. Langsam erhob man sich, winkte ein Tschüss zu den Diensthabenden des Kinovereins und schob sich langsam aus dem Saal in den kalten Flur. Das Bistro hatte noch auf. Dr. Karsten Brandenburg und sein Begleiter nahmen schnell einen Tisch in Besitz.

»Und? Wie fandest du den Film?«, fragte Dr. Brandenburg.

»Ging so. Nicht unbedingt mein Thema. Ist mir zu schwer«, entgegnete sein alter Freund Torsten Tengler.

»Ist eben Programmkino hier in Doberan und nicht irgendein Mainstream, den sie überall spielen«, erklärte Dr. Brandenburg.

»Ja, sicher, ist ja auch gut so. Trotzdem, dem einen liegt so ein Film zum Feierabend, der andere will oberflächlich unterhalten werden. Ich brauche nicht immer so eine furchtbare Seelentiefe, auch wenn es ja ein starkes und wichtiges Thema ist. Wenn hier jetzt Fips Asmussen selig oder Markus Krebs auftreten würde, dann würde ich mich schlapp lachen und hätte den richtigen Ausgleich zu dem, was mich letzte Tage auf der Arbeit genervt hat. Meine Frau sagt dann, dass ich ein primitives, dumpfes Männerhirn habe und mit mir kulturell nichts los sei und hätte sie das früher gewusst … Und warum kann ich mir nicht mehr Mühe geben und auf sie eingehen? Dabei würde ich dann allerdings eingehen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ach Torte«, entgegnete Dr. Brandenburg, »ich kann mir nicht vorstellen, dass du so kulturlos bist. Jetzt verordne ich dir als Arzt ein Spätbier und du wirst sehen, dass es wirkt.« »Dr. Brandenburg!?«, rief es laut durch das Bistro. »Telefon!«

»Oh, was ist das denn? Ist ja wie früher«, meinte Dr. Brandenburg, den seine Freunde und engsten Mitarbeiter in der Rostocker Rechtsmedizin nur BRB nannten. Er stemmte sich hoch, winkelte sich aus dem schmalen Spalt zwischen Tisch und Stuhl und ging schnell zum Tresen.

»Brandenburg. Wann ich nach Hause komme? Ach je, hör mal, der Film hatte Überlänge, ist gerade zu Ende und ich will mit Torsten Tengler noch ein Bier trinken. Drück mal bitte nicht. Allzu lange wird’s nicht dauern. Ich komme dann schon, ok? Bis dann. Ja, sicher. Nein, ich pass auf. Wer kommt morgen? Weiß ich doch. Warum sagst du das jetzt? Nein, ich trinke zwei Bier und das war’s und dann bin ich morgen fit. Du, der Torsten trommelt schon nervös mit den Fingern auf der Tischplatte … Nein, das ist kein Problem, ich … ja, du kannst dich auf mich verlassen. Auf jeden Fall. Ok, Tschüss!«

Die Besatzung am Tresen feixte und wechselte vieldeutige Blicke, als BRB mit verspannter Miene zum Tisch zurückkehrte.

 

»Dir scheint es richtig gut zu gehen, mein Lieber.«

»Ja«, erwiderte BRB. »Da kann ich wirklich nicht klagen!«

»Hast du dich denn beruflich gut eingelebt?«, fragte BRB sein Gegenüber.

»Bin ganz zufrieden. Wir haben es ja noch richtig gelernt. Einmal Fuß gefasst, kommst du überall klar.«

Torsten Tengler, der in seinen Kreisen Torte genannt wurde, stammte aus der Nachbarschaft, früher in Brandenburg/Havel. Die Kinder spielten und rauften zusammen. Es gab da einen Spielplatz neben der Franz-Ziegler-Straße, wo Bäcker Suchalski sein Geschäft hatte, mit Wippe und Klettergerüst, am Rande eine riesige Trauerweide, die nach stürmischem Wetter ihr zerzaustes Haar wieder glättete. Sie überragte alles und ihre gewaltige Größe wirkte wie ein Garantieversprechen: Euren Kindern passiert nichts. Lasst sie nur bei mir spielen. Ich passe auf. Das war in den 50er- und 60er-Jahren. Aus dieser Zeit kannten sich BRB und Torte schon. Sie hatten sich dann aus den Augen verloren. Das Medizinstudium des einen in Rostock und die Polizeilaufbahn des anderen passten nicht mehr zusammen. Doch jetzt schien sich ein Kreis zu schließen.

»Hab es nicht bereut, nach Rostock gekommen zu sein, obwohl es ein tiefer Einschnitt war. Einen alten Baum soll man ja nicht verpflanzen!«

»Der alte Baum darf aber gegossen werden«, fiel ihm BRB ins Wort. »Noch zwei Bier bitte«, rief er zum Tresen und die Kellnerin nickte kurz.

»Ich wollte vor allem die Ostseenähe haben«, begann Torsten Tengler zu schwärmen und sein Blick verlor sich kurz in einer seligen Fantasie.

»Kann ich gut verstehen«, sagte Brandenburg. »Du oder ihr seid ja mit dem Kajak viel auf dem Wasser, oder habt ihr zwei? Jeder in seinem? Ich sehe öfter mal ältere Ehepaare, die mit zwei Booten fahren. Meine Frau und ich kajaken auch.«

»Sag bloß. Wir sind bestimmt schon 15 Jahre fast jeden Sommerurlaub irgendwo mit dem Kajak unterwegs«, schwärmte Torsten Tengler weiter. »Wir haben einen Zweier und einen Einer. Mit dem Einer fahre ich auch gern mal allein los. Ich-Zeiten sind wichtig, sollte man sich in einer Beziehung gegenseitig gönnen.«

»Da sagst du was. Ich gehe Geocachen, am liebsten die T5er, hoch auf die Bäume.«

»Was bedeutet T5?«

»Das ist der technisch höchste Schwierigkeitsgrad für das Terrain, nicht um einen Cache zu orten, sondern um ihn zu erreichen. Eine Klettertour bekommt dann immer die höchste T-Wertung.«

»So hat jeder seins«, entgegnete ihm Torte lächelnd.

»Du bist ja gleich im Rostocker Fachkommissariat 1 der Kriminalpolizeiinspektion gelandet«, stellte BRB fest. »Warst du vorher in Potsdam auch im FK 1?«

»Ja, erst zwei Jahre Arbeitsunfälle und dann zu den schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Das war immer meins. Und was wurde deins?«

»Ich habe in Rostock studiert und bin da hängen geblieben. Zur Wende hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag und da ich politisch nicht belastet war, hat mir die Ehrenkommission der Uni einen Persilschein ausgestellt.«

»Wenn du nicht belastet warst, brauchte es wohl kein Persil, oder?«

»Ja, hast recht. Mir fiel der Begriff eben nur ein, weil mein Großvater nach dem Krieg auch so einen Zettel bekam. Damals sagte man so. Der sieht meinem recht ähnlich.« »Geschichte wiederholt sich eben.«

Mit diesem Satz in Wort und Sinn belächelten beide ihr Jetzt und waren so vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie zwei Tische weiter ein einzelner Mann aufstand, dem Kellner einen Betrag zusteckte, sich seinen Mantel überwarf und betont langsam zunächst an ihrem Tisch und dann am Tresen vorbei zur großen Glastür ging, die den Gastraum vom Eingangsbereich und Flur abtrennte. Die Klinke in der Hand drehte er sich nochmal zu den beiden Freunden, verharrte einen Moment und ging dann. Dabei schlug er sich den Kragen hoch, ruckelte sich die Ärmel zurecht, klopfte auf die Seitentaschen, um den Inhalt zu prüfen und trat vor die Tür. Er überquerte die Straße mit dem alten Kopfsteinpflaster. Seine Kontur verlor sich im Dunkel der Bäume des Bad Doberaner Kamps. All das geschah von BRB und seinem alten Freund völlig unbeachtet.

»Dann hattest du ja eine geradlinige, typische Ossi-Karriere. 40 Jahre auf einer Arbeitsstelle. Respekt«, sagte Torsten Tengler. »Übrigens – mir kam es damals nie komisch vor, dass du so heißt wie unsere Heimatstadt«, stellte er fest. »Nach all den Jahren fällt es mir jetzt erst auf.«

Beide lachten.

»Nun, bei mir lief es etwas holpriger«, erzählte Torsten Tengler weiter. »Da gab es einige Dienststellen mehr, noch vor der Potsdamer Zeit. Hing auch mit der Familie zusammen. Bin einmal geschieden und jetzt das zweite Mal verheiratet. Kind aus erster Ehe. Ging alles nicht so glatt.« Tenglers Blick bohrte sich dabei schwer zu beschreiben in den von Brandenburg, der das registrierte.

»Ja … Du … Is wie is. Mein Weg war glatt und vorgezeichnet. Es ergab sich eben alles so. Gerichtsmedizin oder Rechtsmedizin, wie es nach der Wende hieß, war und ist im Wesentlichen an Universitäten gebunden. Eine ärztliche Niederlassung wie beim Allgemeinmediziner war nicht möglich. Ich bin aber ganz froh. Als Gehaltsempfänger ging und geht es mir nicht so schlecht. Du hattest doch als Beamter eigentlich auch immer deine Sicherheiten, oder?«, gab Brandenburg zurück.

Tengler schwieg einen Moment. »Sicher, ich hatte Sicherheiten. Finanzielle Sicherheiten. Mit einem Gefühl von Sicherheit hat meine tägliche Arbeit aber nichts zu tun. Da geht manchmal nicht alles so glatt, wie ich vorhin schon sagte.«

Brandenburg hakte nicht nach, weil er den Eindruck bekam, dass sein alter Freund so einiges in sich trug, was jetzt nicht unbedingt auf den Tisch sollte. Der Abend lief dann langsam aus, sodass beide in völlig unbedenklichem Zustand dem frühen Aufstehen am nächsten Tag optimistisch entgegensehen konnten.

Kapitel 2
Das Fachkommissariat 1

Kommissar Tengler hatte das Abc der Polizeiarbeit gelernt. Das merkten seine Kolleginnen und Kollegen schnell. Seine Routine, die er sich über viele Jahre im Polizeidienst erworben hatte, war tief ausgeprägt. Er brauchte keine lange Anlaufzeit. Es war auch der »Stallgeruch«, der ihm schon am ersten Tag das Gefühl gab, hierbleiben zu können. Und bald war er nicht mehr wegzudenken. Es lief. Dass er sich zuvor in Schwerin beworben hatte, wusste kaum jemand. Das musste auch nicht breitgetreten werden. Die Stelle dort war von Kommissar Berger besetzt, der mit einem Kollegen Paulsen ein gut eingespieltes Duo bildete. So hatte er gehört. Kennengelernt hatte er beide persönlich bisher nicht.

Tengler sah gerade die Akte zweier Vermisstenfälle durch, die über das Kriminalkommissariat zur Bearbeitung in das FK1 gekommen waren. Es hatten sich Verdachtsmomente auf Fremdeinwirkungen ergeben. Er vertiefte sich in die erkennungsdienstlich brauchbaren Angaben. Nur für den Fall, dass es zum Auffinden der Personen kommen sollte. Während er kurz aufsah und seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ, klingelte das Telefon. »Tengler.«

»Semlock. Ich grüße Sie.«

»Ist es nun die Tochter oder die Mutter?«, charmierte er in den Hörer. »Ich kann beide nicht auseinanderhalten.«

»Und wie wäre es, wenn wir Ihnen gegenüberstehen würden?«

»Dann ist es ganz aus. Keine Chance.« Beide lachten herzlich.

»Lieber Herr Tengler, wo haben Sie das nur gelernt. Sie schaffen es, mir im Handumdrehen die Stimmung aufzuhellen.«

»Reiner Reflex«, gab er zurück.

»Sie erwähnen immer noch meine Tochter«, spitzelte sie ihm zu. »Dabei hat sie doch als Medizinerin nur ein kurzes Praktikum bei uns absolviert, weil sie sich überlegt, in der Rechtsmedizin ihre Facharztausbildung zu beginnen. Sie sah wohl einen interessanten Brückenschlag zwischen der Blutspurenanalyse der Rechtsmediziner und der Kriminaltechnik. Muss mich das beunruhigen?«

»Ach, wissen Sie, wenn jemand nett über jemanden denkt, muss das nicht beunruhigen. Im Gegenteil. Nehmen Sie es mal heiter und gelassen.«

»Ok. Lassen wir das mal. Deswegen rufe ich nicht an. Wir haben ein Problem. Könnten Sie bitte mit den anderen Kollegen in einer halben Stunde für eine Lagebesprechung zu mir kommen? Und bringen Sie bitte die Akten der Vermisstenfälle mit.«

»Geht klar, Chefin. Wir schleppen uns zu Ihnen. Bis dann.«

Von der Besatzung des FK 1 betrat einer nach dem anderen das Chefinnenzimmer und nahm eine Sitzordnung ein, die keinen Zweifel am Führungsanspruch von Kommissarin Kerstin Semlock aufkommen ließ. Die Zeit, in der sie von dem einen oder anderen Kollegen belächelt wurde, war vorbei. Als attraktive Frau und Mutter in den besten Jahren hatte sie in der ersten Zeit so manche Avancen zu parieren. Doch dieses urmännliche Gebaren spielte keine Rolle mehr, weil sie zu einer Institution geworden war. Sie war eine durch und durch abgestimmte Frau. Es passte einfach alles, vom dezenten Make-up bis zum lässigen Jeans-Look. Während die Kaffeemaschine gluckste, verteilte sie bedruckte Blätter, die das besagte Problem zusammenfassen sollten.

»Meine Herren«, begann sie. »In den letzten drei Wochen arbeiten wir an zwei Vermisstenfällen, bei denen wir auf der Stelle treten.«

»Auf einer Stelle!«, redete Kommissar Kollberg dazwischen.

»Wie bitte?«

»Na, auf einer Stelle. Also drei Wochen, zwei Fälle, eine Stelle. Weiter runter geht’s nicht. Wir sind also ganz unten. Fast bei null, meine ich.«

»Ich fasse es nicht, Kollberg! Was sollen denn Ihre Wortspielereien hier schon wieder?!«

Sichtlich verärgert fuhr Kommissarin Semlock fort. »Als erstes wurde ein 39 Jahre alter ehemaliger Mitarbeiter der Geschäftsstelle Strafrecht des Landgerichtes Rostock vermisst. Mirko Menzel. Jetzt im psychosozialen Dienst des Gesundheitsamtes Rostock. Unauffälliger familiärer Hintergrund. Verheiratet, zwei Kinder. Keine aufregenden Hobbies. Keine Alkohol- oder Drogenprobleme, soweit bekannt. Die Ehe nach Angaben der Frau, die die Vermisstenmeldung erstattete, ohne Hinweis auf Affären oder sonstige Skandale. Keine Vorstrafen. Wohnhaft in Blengow. Die Eltern in Kühlungsborn. Klingt alles erstmal unauffällig.«

»Fast zu unauffällig«, gab Kommissar Tengler in die Runde. »Es dürfte eher selten sein, dass Personen abgängig sind, die keinem Milieu oder keinen besonderen Risikogruppen angehören.«

»Sie sagen es«, pflichtete ihm die Chefin bei. »Ist mir auch zu glatt. Wenn wir dahinter sehen wollen, müssen wir in eine Richtung leuchten, die wir bisher nicht auf dem Schirm hatten.«

»Unklar ist für mich nur dieses Blengow. Wo liegt das? Nie gehört«, fragte Torsten Tengler nach.

»Dass Sie Blengow nicht kennen, sei Ihnen verziehen. Es ist ein Ortsteil der Stadt Rerik am Salzhaff, knapp drei Kilometer landeinwärts. Kommen wir zum zweiten Fall, der nur wenige Tage später kam. Eine 45-jährige Frau und Mutter eines Kindes. Wenke Nielsen. Wohnhaft in … halten Sie sich fest, im schönen Blengow. Der gesamte Hintergrund genauso unspektakulär wie bei Menzel, sodass wir beide Fälle nicht so richtig anfassen können.«

»Was macht Frau Nielsen beruflich?«, fragte jemand in die Runde.

»Moment, ich sehe nach. Sie war Sekretärin in einer großen Metallbaufirma und nebenher Schöffin, auch beim Rostocker Landgericht. Zuletzt aber nicht mehr, da war sie zu Hause. Ihr ist in der Firma gekündigt worden. Wir wissen nicht warum. Da können wir ja nochmal nachhaken.«

»Wer hat die Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Der Ehemann. Beiden Fällen ist gemeinsam, dass das Verschwinden aus einer für die Angehörigen normalen Alltagssituation geschah. Sie kam vom Einkaufen in Rerik nicht zurück und er, Menzel, war auf dem Nachhauseweg, kam von der Arbeit aus Rostock und ist vermutlich auch über Rerik gefahren. Also, wir haben keine abgängigen Psychiatriepatienten, keine aus Lust oder Frust und Laune ausgerissenen Jugendlichen, die wiederauftauchen, wenn das Geld alle ist. Beide Fälle liegen zeitlich nah beieinander, beide wohnen im gleichen Dorf und beide waren mal beim Rostocker Landgericht. Mir ist nicht wohl bei der Konstellation und den Kollegen im Kriminalkommissariat war offenbar auch nicht wohl, sodass wir das auf dem Tisch haben. Wir haben Freitag und so möchte ich nicht ins Wochenende gehen. Deshalb ist Brainstorming angesagt. Also kommen Sie, meine Herren. Diskussion bitte!«

Zunächst schwiegen alle. Allmählich lockerte sich die Atmosphäre. Kommissarin Semlock trug dazu bei, indem sie klarmachte, dass sie keine ausgefeilten Statements erwarte, sondern das Zusammentragen von Gedanken.

 

»Erstmal alles in einen Topf. Dann wird durchgerührt. Mal sehen, was dann oben schwimmt. Und wenn das eine oder andere wieder rausfliegt, ist es völlig ok.«

So bekam die Lagebesprechung zunehmend Dynamik. Sie notierte stichpunktartig mit und versuchte schon, den aussichtsreichsten Ermittlungsweg abzustecken. Als die Zahl der Diskussionsbeiträge abflaute, machte Kerstin Semlock einen Cut.

»Das reicht«, sagte sie knapp. »In mir steigt die Ahnung auf, dass es keinen Sinn hat, bei den Vermissten irgendwelche spektakulären Hintergründe im Persönlichen bzw. Familiären zu suchen. Gemeinsam ist beiden die ehemalige Tätigkeit am Landgericht Rostock, wobei wir nochmal schauen müssen, ob sich diese Zeiten decken oder teilweise überlappen. Das kann Zufall sein, sollte uns aber aufhorchen lassen. Privat wussten wohl beide im Ort voneinander, sollen aber keine engeren gegenseitigen Kontakte gehabt haben. Auch wenn wir keine konkreten Anknüpfungstatsachen haben, sollten wir prüfen, ob die beiden Fälle nicht doch zusammengehören. Die Polizei ist ja schließlich eine Behörde der Gefahrenabwehr und falls das der Beginn einer richtigen Serie ist, möchte ich nicht erst bei der fünften Anzeige aufwachen. Wenn die sich privat nicht kannten …, das heißt, ist das gesichertes Wissen?«

»Ich wollte mir gerade einen Zwischenruf erlauben«, entgegnete Kollberg, der die Stimmung der Chefin wieder aufhellen wollte. »Das sind bisher nur Vermutungen. Die Angehörigen sind noch nicht zeugenschaftlich vernommen und auch beim ersten Kontakt zu diesem Punkt nicht explizit befragt worden.«

»Ok, dann holen wir das so bald wie möglich nach. Ich möchte, dass die jeweiligen Ehepartner nach einem vorher ausgearbeiteten Fragenkatalog identisch befragt werden. Dazu müssen unbedingt Fragen gehören, die das berufliche Umfeld ausleuchten und dazu bitte auch die komplette Sozial- und Eigenanamnese sowie die Jetztanamnese. Das gehört alles zu einem Status praesens!«

Die letzten beiden Sätze formulierte sie genüsslich mit einem zufriedenen Lächeln, weil sie die irritierten Gesichter ihrer Kollegen amüsierte. Diese Begriffe aus der Medizin, die die Erhebung der detaillierten Vorgeschichte eines Patienten meinten, hatte sie sich über die vielen Jahre gemeinsamer Arbeit mit Dr. Brandenburg gemerkt. Sie erhob sich und gab damit die Bewegungen der Kollegen frei, die genauso artig den Raum verließen, wie sie gekommen waren.

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