Krupps Katastrophe

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Krupps Katastrophe
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Krupps Katastrophe

Capri/Ruhrgebiets-Krimi mit Rezepten


Ulrich Land

Krupps Katastrophe

Capri/Ruhrgebiets-Krimi mit Rezepten


Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2013 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Britta Gerloff

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung von Fotos von anouchka/istockphoto.com und

mymrin/istockphoto.com

Rezepte: Ulrich Land

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-941895-88-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

»Wer arbeitet, macht Fehler. Wer viel arbeitet, macht viele Fehler. Nur wer die Hände in den Schoß legt, macht gar keine Fehler.«

Friedrich Alfred Krupp

1

Wenn ich’s dir doch sage! Ich weiß auch nicht, wie das alles zustande kam. Jedenfalls nicht genau. Das geb ich von vornerein zu. – Aber dabei war ich! Augenzeuge von der ersten Sekunde an. Sicher, ich hätt mir auch was Schönres vorstellen können, aber war nun mal mein Auftrag. Und das Ganze war im Übrigen ja alles andre als eine Allerweltsgeschichte. Besiegelt durch eine Meldung immerhin des Deutschen Allgemeinen Telegraphenbureaus! Ich weiß den Wortlaut nicht genau, weil mich persönlich, war ja klar, mich hat natürlich keiner bedacht, mich erreichte kein Telegramm, den ganzen Tag nicht. Aber dass eins überall in der Weltgeschichte rumgefunkt wurde und landesweit sämtliche Nachrichtenagenturen, Tratschbörsen und Redaktionsstuben erreichte, das ist so sicher wie das Amen in der Villa Hügel. Also ich nehme mal an, der Text hat in etwa so gelautet: »22. november 1902 – stop – friedrich alfred krupp, 48-jährig, soeben verstorben – stop – nach auskunft seiner ärzte an den folgen eines plötzlichen gehirnschlags – stop.«

Was weiß ich, so oder so ähnlich.

Und damit, dachte ich, wäre die Geschichte zu Ende und ich raus aus der Nummer. Aber weit gefehlt.

Fahrenhorst sein Name. Julius Fahrenhorst. Seines Zeichens Detektiv und Fotograf, damals noch jung an Jahren. Er erlebte das Jahresende 1902 völlig mittellos, nicht ein einziges Tröpfchen Champagner konnte er an Silvester die Kehle hinabrinnen lassen, kein aufwändiges Mahl mit erlesenen Köstlichkeiten war ihm vergönnt, nicht einmal ein warmes Linsensüppchen, noch befand er sich in vornehmer oder doch zum wenigsten ausgelassener Gesellschaft. Vielmehr hatte er sich mit einem Kanten hartes Brot in die Dachkemenate zurückgezogen, in den einzigen noch einigermaßen intakten Raum des Häuschens seiner Großeltern, Gott hab sie selig. »Intakt« indes grenzt an Hochstapelei. Der einzige Raum, der noch leidlich funktionstüchtig war! Sieht man mal ab von den angekohlten Sparren, die in der hinteren rechten Ecke die Zimmerdecke vertraten. In dieser angeschlagenen Dachkammer also saß Fahrenhorst, nach Art des armen Poeten in Decken gehüllt, den Rücken so nah am Kanonenöfchen als irgend möglich, und versuchte seine Erinnerungen an die letzten paar Wochen auf einen seidenen Faden zu fädeln.

Also pass auf: Es gibt im Grunde drei Theorien. Die erste, die offizielle Lesart, die Friedrich Alfred Krupp einen betrüblichen, aber alles andre als unüblichen Schicksalsschlag attestiert und einen plötzlichen, auf alle Fälle jedoch natürlichen Tod glauben machen will. Was den Herrschaften, versteht sich, keiner abnimmt. Ich jedenfalls nicht. Ist kaum was Unwahrscheinlicheres denkbar, wenn man Krupp, die Vorgeschichte und die Umstände seines Todes auch nur ansatzweise kennt. Dann die zweite These: Suizid. Ein Gerücht, das – scheint’s – nicht aus der Welt zu bringen ist. Zumal als bekannt wurde, dass Krupps Ärzte in wissenschaftlich durch nichts zu rechtfertigender Großzügigkeit von einer Autopsie seiner Leiche absahen und ruckzuck den Sarg zunagelten. Und eben die dritte Variante – aber die nur unterm Siegel der Verschwiegenheit!

Also jedenfalls: Irgendwiewas musste Krupps Frau ein paar Wochen vorher, was weiß ich, zwei Monate vor seinem Tod vielleicht, irgendwas musste sie derart verunsichert haben, dass sie mich anheuerte, um für sie auf Capri mal nach dem Rechten zu sehen. Spesen extra, versteht sich. Das roch nach einem fetten Braten! Wie du dir vorstellen kannst, überlegte ich nicht lange, packte spornstreichs meine sieben Sachen, schnappte mir die bleischweren Holzkoffer mit Kamera, Stativ, Fotoplatten und was nicht allem und machte mich auf die Socken.

Was den historischen Wahrheitsgehalt seiner Erkenntnisse anlangt, so sind diese weder in jedem Detail plausibel noch gar zwingend logisch, und den Maßstäben objektiver Überprüfbarkeit genügen sie schon gar nicht. Ja, wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass in weiten Teilen ein hohes Maß an Spekulation am Werke war. An Stellen, wo Lücken in der Nachvollziehbarkeit der Tragödie klafften und sich weder durch schlüssige Aussagenverknüpfung noch durch direkte Links zwischen den Beteiligten schließen ließen, da verlegte Fahrenhorst sich offenbar ohne weiteres Federlesen und mit dem Gestus des virtuosen Ränkeschmieds aufs Flechten abenteuerlicher Assoziationsstränge. Wobei er sich dabei augenscheinlich weder um die schlüssige Verifizierung der Indizien scherte, wie gesagt, noch um die Basics der Political Correctness.

Das Schiff steuerte mit der für italienische Verhältnisse gradezu fantastisch geringfügigen Verspätung von 44 Minuten den Hafen an. »Marina Grande«. Schon der Name: ein wunderbarer Empfang! Ich hatte mich grade vom Anblick des mit jeder Seemeile tiefer sinkenden Vesuvs im Nordosten getrennt und umgedreht. Blickrichtung volle Kraft voraus: Faszinierend, wie dieses Eiland mit seiner eigenwilligen Mischung aus schroffen Steilküsten und weichen Hügeln als Sahnehäubchen oben drauf näher und näher kam! Und diese winzigen, bunten Häuschen, die den Hafen säumten! Über die geschlängelten Wege da musste man raufkommen zur legendären Piazzetta, wo Künstler, Denker, Schreiber, wo die Hautevolee – oder was sich dafür hält – die mehr oder minder dicken Portemonnaies auf den Ladentischen umstülpen, um sich schließlich ein Capreser Kleinod an den Hut stecken zu können. Aber da oben auf der Piazzetta wär ich noch längst nicht drüben in der schwülen Grotte, von der mir mein Informant, dessen Identität hier nichts zur Sache tut, überschäumend vorgeschwärmt hatte. Ohne dass ich mit einem einzigen Schein gewunken hätte, sprudelte er los wie angestochen und zwitscherte hinter vorgehaltener Hand ein Loblied auf das goldbrokatbesetzte, bordeauxrotsamtige Interieur jener Grotte – oder sollte ich besser sagen: Lasterhöhle? –, die, wie ich heute weiß, Krupp zum Verhängnis werden sollte.

Aber erst mal hatte mich kurz vor der Hafeneinfahrt noch der Blick nach Westen erwischt: tatsächlich diese viel besungene fantastische Sonne, die tiefrot ins Meer taucht und das Wasser in Blut verwandelt!

Bis ich meine Kisten, Kästen, Koffer zusammengerafft und von Bord geschleppt hatte – so eine photographische Ausrüstung hat’s eben in sich; und eins war ja klar: dass ich nach dieser Anreise im Schweiße meiner Füße und meiner Achselhöhlen auf jeden Fall eine vollständige frische Garderobe brauchte, wenn ich Krupp meine Aufwartung machen wollte, mithin war der Koffer auch nicht grade ein Fliegengewicht –, also jedenfalls bis ich mich nach vorn zur Gangway durchgeschlagen hatte und die klapprigen Stiegen runtergepoltert war, da war weit und breit kein Träger mehr zu sehn. Keiner jedenfalls, der nicht bereits von irgendeinem Stiesel oder einer affigen Stöckelschrulle in Dienst gestellt worden war und sich mit andrer Leute Riesenkoffer abzuplacken hatte. Geschweige denn, dass irgendwo ein Mulitreiber zu finden gewesen wäre. Was blieb mir andres, als mich auf Schusters Rappen auf den beschwerlichen und – egal wie groß oder wie klein die Insel auch immer sein mag – viel zu langen Weg zu machen!

Es mochte eine halbe Ewigkeit vergangen sein. Wahre Sturzbäche von Schweiß waren meinen geplagten Rücken runtergeschossen. Du weißt ja, wie ich schwitzen kann. Mein Hemd war längst nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen weiteren Tropfen aufzusaugen, die in die Griffe der sperrigen Kofferkisten verkeilten Hände drohten mir von den Armen zu fallen, die Knie windelweich – aber als ich endlich oben auf dem Scheitelpunkt des Inselbuckels angekommen war: der traumhafte Ausblick von der Südküste aufs offene Meer! Ein Ausblick, der mich mehr als entschädigte. Ich latschte – von meiner Ledernackenzähigkeit selbst überrascht – weiter und weiter, bis ich schließlich einen Blick die Klippen runter in die dramatisch steile Bucht da unten werfen konnte: die »Marina Piccola«. Wo sich der weiße Strand mit der kleinen Anlegestelle zwischen hohen, schroffen Kalkfelsen verkrümelt. Jetzt erst blieb ich stehn, atmete durch und, und stand und stand und wartete. Wartete, bis die ersten Abendrotspuren ins Himmelsblau stiegen. Ich nahm mir felsenfest vor, mich nach Erledigung, na ja, vielleicht der Hälfte meines Auftrages mal für ein paar gute Stündchen abzusetzen und hier oben die Kamera in Anschlag zu bringen. Wenn mir in drei Teufels Namen das man gelungen wär! Mich wenigstens für ein halbes Stündchen zu absentieren. Stattdessen: ständig im Einsatz. Aber langsam, langsam. Der Reihe nach!

 

Folgen wir Fahrenhorsts Erzählungen – und sie seien hier im genauen Wortlaut wiedergegeben, der mir weitestgehend in der Erinnerung haften geblieben ist, da ich mich als Jungspund über Wochen und Monate in ihren Bann hatte schlagen lassen –, so stand er an jenem Abend also ahnungslos auf dem oberen Ausläufer jener Straße, die auf der Südseite Capris in schwindelerregenden Serpentinen steil nach unten zur Marina Piccola führt: die Via Krupp. Benannt nach Friedrich Alfred Krupp, der die Straße um 1900 stiftete. Dieser hatte die Straße so anlegen lassen, dass sie von dem kleinen Hafen aus in mehreren Haarnadelkurven die Augustus-Gärten und endlich die Straßen und Gassen von Capri-Stadt erreicht. Unterwegs aber, in einer der Serpentinen, zweigt ein schmaler Felsenpfad ab, über den man seinerzeit zu einer Höhle namens »Grotta di Fra Felice« gelangte. Dieser »Bruder Glücklich«, ein früherer Einsiedler, wie es heißt, wird die auf etwa 100 Meter Höhe in den Steilabfall gehauene Höhle nicht zuletzt deshalb als seine Eremitage auserkoren haben, weil sie sich Richtung Süden zum Meer öffnet und ein wahrhaft atemberaubendes Panorama bietet.

Mit Krupp wurde ich ohne langes Federlesen handelseinig. Hatte ich mir erheblich schwieriger vorgestellt. Ein ausgesprochen umgänglicher Zeitgenosse. Als ich ihm meine fotografische Ausrüstung zeigte, war er augenblicklich davon überzeugt, dass er’s nicht mit einem Scharlatan zu tun hatte, sondern wie die Jungfrau zum Kinde gekommen beziehungsweise an einen Mann vom Fach geraten war. Auf alle Fälle fand er meine Absicht, ihn hier auf Capri, in seinem so geliebten Refugium fotografisch zu porträtieren, offenbar so berückend, dass er sofort bereit war, meine Dienste mit einem ansehnlichen Salär zu entlohnen. Ohne natürlich zu ahnen, dass diese ja bereits von anderer Seite, und zwar auch nicht grade knausrig honoriert wurden – indirekt ebenfalls aus seiner Schatulle. Aber dazu später. Für mich jedenfalls bot sich die, versteht sich, durchaus verlockende Aussicht, für dieselbe Leistung doppelt einzustreichen. Außerdem hatte mich der Gedanke immer schon fasziniert, mal ein niederträchtiges, ein hundsgemein zweigleisiges Spiel spielen zu können. »Fahrenhorst, der begnadete Doppelagent!«, musste sich doch fantastisch auf der Visitenkarte ausnehmen! Wenn du verstehst, was ich meine.

Diese Perspektive beflügelte mich derart, dass ich die Arbeit sofort aufnahm und den guten Krupp im letzten Licht des Abends noch schnell zwei-, dreimal ablichtete. Zikadenzirpen erfüllte die von der Tageshitze noch nachglühende Luft, und von unten drang das Rauschen der Brandung herauf, die gegen die Steilküste schlug. Wahrhaftig ein grandioses Idyll! Empfindlich gestört jedoch von diesem neugierigen Gimpel, der mir immer wieder unangenehm nah auf den Pelz rückte und Tuchfühlung aufnahm. Tapste die ganze Zeit mit seiner weibisch weichen Hand auf meiner Schulter rum. Brauche ich dir ja nicht zu sagen, wie sehr mir so was gegen den Strich geht. Augenscheinlich jedenfalls war dieses lange, dürre Gestell von keinem anderen Wunsch beseelt, als von Krupp eingeladen zu werden, sich zu ihm zu stellen und also mit auf Platte bannen zu lassen. Krupp aber würdigte ihn keines Blickes und stellte ihn mir beiläufig als einen seiner leitenden Ingenieure vor. Worauf dieser sich nicht entblödete, mit verschnörkeltem Lächeln darauf zu insistieren, dass das hier nichts zur Sache tue und ich ihn doch beim Vornamen nennen möge: Gernot.

»Angenehm, Fahrenhorst mein Name.«

Als aber das Dämmerlicht so schwach geworden war, dass ich auch hier draußen Fotoleuchten hätte einsetzen müssen und also die Kamera vom Stativ schraubte, um sie in die Grotte selbst zu manövrieren, da kamen, lustig vor sich hin pfeifend, die ersten Gäste des Abends über die Via Krupp hinaufgestiegen, nachdem sie unten in der Marina Piccola ihre Boote festgemacht hatten, die, wie man unschwer sah, ihre Besitzer als Fischer auswiesen. Obwohl sie sich jetzt, offenbar aus Anlass der bevorstehenden Lustbarkeiten, in weiße, im letzten Abendlicht hell leuchtende Hosen und seidig wallende Hemden geschmissen hatten. Die Jungs waren eben in der Serpentine angekommen, von wo der Pfad hier rauf zur Bruder-Glücklich-Grotte abzweigt, als unten ein weiteres Fischerboot anlegte. Und auch das warf eine illustre Schar junger Männer von, wie ich neidlos zugeben muss, erlesener Schönheit und mit auffallend weichen Gesichtszügen an Land. Außerdem einen behäbigen, so wohlbeleibten wie wohlgelaunten Kerl, der auf den ersten Blick als Herr von ausgesprochen teutscher Herkunft auszumachen war. Mitten in der Schar ausgelassener Fischerburschen astete er mit immer kürzer werdendem Atem den Berg hinauf. Ein Schauspiel, das ich mit stillem Staunen beobachtete, bis endlich der Teutone schweißtriefend und abgeschlagen als Letzter die in den Fels gehauene Lustlaube hier oben erreicht hatte.

Nach einschlägigen, nicht nur Fahrenhorstschen Überlieferungen hatte Krupp die ›Grotta di Fra Felice‹ im Stil einer mittelalterlichen Einsiedelei mit allerlei gotischem Zierrat und mit einem Komfort, der weit über die nötigsten Bequemlichkeiten hinausging, ausstatten lassen, um dort Bankette und gesellige Zusammenkünfte auszurichten. Die wenigen, aber ausnahmslos auf gepflegte Eleganz bedachten Besucher aus dem fernen Deutschland legten Frack und Vatermörder ab und hüllten sich in wallende Kutten. Während die handverlesenen Capreser, die zu den Festivitäten geladen wurden, jungfräulich weiß, nach Gigoloart gewandet aufliefen. Krupp, der in Essen zwischen dem neobarocken Luxus der Villa Hügel und dem trotz Renovierung immer rußpatinierten Verwaltungstrakt seines vor Produktionseifer und Profitraten glühenden Fabrikgeländes lebte, hatte sich in diesem Felsenloch unter der Sonne Capris einen exklusiven Fluchtpunkt geschaffen, das Vestibül seiner azurblauen Wonnewelten.

Es mochte inzwischen Mitternacht gewesen sein. Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber damit nicht: Krupps Grotte vibrierte! Männer, alles bloß Männer. Weit ausladende Fummel übergeworfen. Sofern sie überhaupt noch was anhatten. Der steinreiche König der Kanonen, musst du dir vorstellen, treibt auf der blütenweißen Insel neckische Spielchen mit einheimischen Fischern! Gut, ich meine, im Grunde hättest du bloß einen Blick in sein rundes, weiches Gesicht werfen müssen, um auf den Gedanken zu kommen, dass, nun ja, dass er dergleichen, sagen wir: extraordinären Sinnenfreuden zugetan sein mochte.

Die Lustbarkeit jedenfalls nahm ruckzuck den Charakter eines weinseligen Gelages an. Aus einer der hinteren Felsnischen kämpften vergeblich hauchdünne Gitarren- und Mandolinenklänge gegen den Wirrwarr aus Stimmen emsig pokulierender Männer an, gegen fliegende Sektkorken und prostende Gläser. Ich musste mich regelrecht am Riemen reißen, um nicht ebenfalls den Verlockungen dieser mediterranen Ausgelassenheit zu erliegen und meinen Auftrag schlicht zu vergessen. War schließlich nicht zum Vergnügen hier. Du weißt ja, ich bin relativ hart im Nehmen, aber als die schlüpfrig hautfarbenen Auswüchse überhandzunehmen drohten, wurde mir das rauschende Halligallispektakel denn doch zunehmend unheimlich. Wenn die gute Frau Krupp geahnt hätte, wie richtig sie mit den übelsten ihrer Befürchtungen lag, wie sehr die bösen Hinterzimmergerüchte, die ihr wie auch immer zu Ohren gekommen waren, der Wahrheit entsprachen! Mehr, um mich selbst an meinen Auftrag zu erinnern, als dass ich ernstlich eine, na ja, künstlerisch wertvolle oder doch wenigstens aussagekräftige Fotoausbeute im Visier gehabt hätte, hielt ich noch mal mitten aufs bunte Treiben. Wartete, bis die Flamme an der Blitzlichtpulver-Lunte hochgekrochen war, und drückte genau in dem Moment ab, als die schunkelnde Lall- und Lasterhöhle für einen winzigen Augenblick taghell erstrahlte.

»Hehe, wenn das Foto nur halb so scharf wird wie dein Fest, Friedrich!«, grinste dieser Lackaffe namens Gernot. »Das muss auf jeden Fall einen prominenten Platz kriegen: Einen Abzug hängen wir hier drüben mitten auf die Wand deines prachtvollen Samtkabinetts, und einen stellen wir in der glitzerndsten Galerie im ganzen Reich aus!«

Womit unser warmblütiges Kasperle weiß Gott nicht unrecht hatte. Zumindest dem Ambiente dieses Austragungsortes von Krupps Spektakelferkelfesten hätte mein Foto wahrlich nicht schlecht zu Gesichte gestanden. Trotzdem: Dass er sich mit diesem Gernot nach allen Regeln der Kunst ein Kuckucksei ins Nest legen würde, das hätte einem Krupp verdammt noch mal klar sein müssen. Diesen Blässling aus der Essener Wirklichkeit mit hierherzuschleppen, das grenzte nun wirklich an ausgemachte Dämlichkeit.

»Gott bewahre!«, fuhr Krupp seinem Günstling denn auch mit einer Schnelligkeit übers Maul, die ich seiner weinschweren Zunge längst nicht mehr zugetraut hatte. »Von wegen ›glitzerndste Galerie im ganzen Reich‹! Schraube locker, wie? Das Foto landet hier in meiner Schatulle. Und sonst nirgendwo.«

Aber noch gab Krupps Ingenieur nicht auf: »Die alten Griechen haben sich doch auch stets im Kreise galanter Jünglinge verewigen lassen. – So eine wunderbar lustvolle Pose: Das gehört raus ans Licht, raus aus der verschworenen Gemeinschaft hier, das muss an die breite Öffentlichkeit!«

»Gernot, du bist nicht bei Trost!« Krupp zwirbelte sich mit flattrigen Fingern den Schnäuzer. Das linke Augenlid stellte sich schief und legte ein komisch zwinkerndes Zucken an den Tag, das sich, obwohl er fahrig mit dem Zeigefinger darauf herumdrückte, partout nicht beruhigen lassen wollte. Wie du sehn wirst, nicht ganz zu Unrecht.

»Die Gelegenheit, Friedrich, mein Liebster, Farbe zu bekennen«, antwortete Gernot mit fiebrig rotem Kopf, »aufzutreten als der große deutsche Krupp, als der bedeutendste Industrielle des Reichs und eine Kampagne vom Zaun zu brechen, die sich gewaschen hat. Zur Abschaffung dieses verdammten Paragraphen!«

Sein Chef verfiel in gackerndes Hohngelächter. »Und der ›große deutsche Krupp‹ ist ruiniert. Samt Firma.« Um dann knochentrocken und nüchtern, als hätte er seit Wochen keinen Tropfen angerührt, hinzuzusetzen: »Wie du wissen dürftest, hab ich einen Ruf als ergebener Diener des Kaisers von untadeliger Gesetzes- und Vaterlandstreue zu verlieren. Nein, Gernot, nicht mit mir. Mach du dein Stürmchen auf die Bastille der Sittenwächter, aber lass mich aus dem Spiel! Der Einsatz ist mir zu hoch.«

»Und ich dachte, du bist ein ganzer Mann, ein Kerl aus Eisen und Stahl – wie deine Panzerplatten.«

»Wenn du in den Federn auch nur annähernd so heiß wärst wie bei deinen Kampagnen!«, kam es zurück.

»Friedrich, das hast du nicht umsonst ...«

Aber Krupp, wieder ganz der Großmogul, fiel Gernot unter dröhnendem Lachen ins Wort: »Guck sie dir an, diese athletisch gebauten, blutjungen Caprijungs hier! Die gereichen einem Krupp zur Ehre. Nicht so ’n müdes Gestell, so ’n dürrer Preußenkörper wie du!«

Dieser Anwurf gab einem weiteren Akteur Oberwasser. Ein schwarzgelockter Narziss italienischen Zungenschlags, der sich Giovanni nannte, trat plötzlich aus dem Hintergrund: »Siehst du? Nix du! Io. Ich bin Liebeling dem Capitano. Primo amante. Du kriegen kein’ hoch!«, gluckste er glück- und weinselig.

»Halt dich geschlossen, Giovanni! Satansbraten!« Aufbrausend, soweit es ihm sein dünnes Stimmchen erlaubte, ging Gernot auf die Palme.

Was ihm eine nun wieder völlig ungezwungen lallende und lachende Quittung seitens seines Meisters eintrug: »Ruhig, Gernot, langes Elend, ganz ruhig. Pass mal auf, wir werden dir jetzt mal stahlhart zeigen, was dein § 175 uns so alles vermasselt, was für ...«

»Danke, da brauch ich weiß Gott keine Belehrung. – Friedrich, he, wenn du deine Barbaren hier nicht zurückhältst, ich ...«

Und schon war das schönste Handgemenge im Gange. Zahllose Hände, die’s ansonsten gewohnt waren, schwere, mehr oder minder prall gefüllte Netze an Bord zu ziehen, verkrallten sich in Gernots weißwallendem Gewand.

»Bleibt mir von der Wäsche!«, schrie er mit dem Mut der Verzweiflung ins Rund der grölenden Kerle. Was einen von ihnen dazu veranlasste, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. »Eure schmierigen Finger da weg!«, gurgelte Gernot über den geschwollenen Bizeps des Caprifischers hinweg, aber da hatte man ihm den weißen Fummel bereits vom Leib gerissen, und er stand im Adamskostüm vor der versammelten grinsenden und geifernden Mannschaft. Der Ingenieur hatte offensichtlich nicht nur schmalgliedrige Hände, auch sein elfter Finger war dünn und spitz wie bei einem Pudelrüden. Der arme Mann machte jedenfalls eine alles andre als wackere Figur.

 

Mitten in dieser mitleiderregenden Vorführung meldete sich nun auch der wohlbeleibte Teutone prustend zu Wort, offenbar im irgendwie ratlosen Bemühen, ein paar Stimmungsaufheller zu landen: »Hach, das nenn ich mal ’ne Sause! Ringelpietz mit Anfassen. Los, Geschlechtsgenossen, lasst die letzten Gewänder fallen! Legt ab, Brüder, macht euch frei! Hübsch-herrlich, so viel nacktes Fleisch. Krupp Hammerfritz, deine Feste sind unschlagbar, unschlagbar sind die.«

»Jau, Allers, alter Knabe, nur Gernots Knorz will und will nicht in den Himmel wachsen«, grinste Krupp.

Und Giovanni sekundierte ihm gekonnt herablassend: »Per amor di Dio. Armer Kerl, soll’n wir bissken warm machen? Falten bissken glatt ziehn? So junge noch und schon talmente molti Falten.« Und nicht faul, setzte Giovanni unterm zotigen Gejohle und Gelärme der Capreser Jungs noch mal nach: »Lasse uns machen! Wir dir hinstellen Schlappeschwanze!«

Während Gernot sich mit leichenbleichem Gesicht zur Wand drehte und kleinlaut murmelte: »Unter Druck läuft gar nichts. Wie denn auch!«

Wodurch nun wieder Giovanni sich bemüßigt fühlte, der wie Espenlaub zitternden Bohnenstange um die Hüften zu greifen und mit höchst sorgenvoller Miene untertänigst anzubieten: »Komm, io helfen selbst!« Gefolgt von tosendem Gelächter, das die Grottenwände beben ließ.

Deprimiert und ohne jeden Nachdruck murrte Gernot: »Ich hab gesagt, du sollst deine verschmierten Griffel da wegnehmen!« Aber so sehr er sich auch wand, er schaffte es nicht, Giovannis Hände abzuschütteln. Was das Gegröle nur noch mehr anheizte und den von einem Fuß auf den anderen trippelnden Krupp zu der Frage veranlasste, wie lang er denn noch warten solle, er habe schließlich seine Zeit nicht gestohlen.

»Gernot ragazzo, wie lange soll warten capitano! Sempre ist bereite Frederico Alfredo. Sempre pronto, sempre disposto. Dio mio! E molto bello«, säuselte Krupps Capreser Liebesknabe.

Von Giovannis Honigseim endgültig auf die Schwingen der Sünde gehievt und angestachelt durch die prächtig funktionierende Demütigung Gernots, riss Krupp mit zwei schnellen, kräftigen Handbewegungen seine weiße Robe vom Hals bis zum Saum auf und bot sein Gemächte den geifernd schwülen Blicken der Burschen dar. »Soll ich euch’s beweisen?!«, rief er in die Runde.

Giovanni hatte als erster die Fassung wiedergefunden und jubilierte: »Si, si, Capitano!«

Worauf sich ein allgemeines »Bravo, bravissimo!«-Gegröle in der heißen Luft breitmachte. Und befeuert vom Applaus der aufgedrehten Jünglinge regte und reckte sich ganz allmählich Krupps rosarote Lanze mitten in den Freudentaumel. »Hier Jungs, bitte sehr«, juchzte – unverhohlen von sich selbst begeistert – der Ur-Heber.

»Ecco!«, pflichtete voller Bewunderung sein Adlatus bei.

Und der verschwitzte Teutone stammelte ebenfalls sichtlich beeindruckt: »Stolzgeschwellt! Friedrich Alfred, das nenn’ ich stattlich. Stattlich nenn’ ich das.«

Wobei die letzten zwei, drei Worte im zischenden Paaaf des Blitzlichtpulvers und im Auslöserklackern untergingen. Prompt richtete sich der Fokus des Tumults auf mich. Gradezu beängstigend schnell schien Krupp erneut völlig nüchtern und ließ eine Flut unflätiger Flüche über mich hereinbrechen, die wiederzugeben des Sängers Höflichkeit nun wirklich verbietet. Was denn das jetzt hier zu bedeuten habe?! Also – also das sei doch wohl die Höhe! Sein senkrecht geschwollener Stolz neigte sich zusehends vornüber und büßte a tempo Macht und Größe ein. Krupp japste nach Luft, und seine Stimme überschlug sich. »Was haben Sie hier rumzuknipsen? Es war nur ausgemacht, dass Sie fotografieren, solange wir hier Modell sitzen, die Herren und ich. Von einfach wild draufhalten war nicht die Rede. – Die Platten sind meine, dass wir uns da ganz klar verstehn!«

»Selbstverständlich«, antwortete ich dienstfertig, »ich werde Ihnen umgehend einen Abzug zukommen lassen, Herr Krupp.«

»Keinen Abzug; die Platten! Und zwar sofort.«

»Tut mir aufrichtig leid«, versuchte ich es noch mal auf die servile Art, »aber die Fotoplatten sind und bleiben ...«

»Die Platten her, sonst zieh ich sie eigenhändig aus Eurer Kiste da!«

Und Krupp ballte die Faust, oder besser: das Fäustchen. Trotzdem reichte dieser mäßig martialische Anblick aus, die schlankranken Jünglinge in Berserker der übelsten Sorte zu verwandeln. Von einer Kakophonie aus derbem »Puta de madre!«-, »Che palle!«- und »Mama mia!«-Gezeter begleitet, kamen sie langsam, ganz langsam, leise, ganz leise eine Capri-Schnulze summend, auf mich zu. Scheint’s ohne überhaupt zu bemerken, dass sie einen Tisch voller Flaschen und Gläser umstießen, dass ein Stuhl krachend zu Bruch ging, dass eine der hochgereckten Fäuste sich in einem Gobelin verfangen hatte und diesen aus seiner Verankerung riss. Schließlich standen sie so dicht vor mir, dass meine Nase übelst beleidigt wurde von dieser geballten Mixtur aus Amaretto-, Prosecco-, Grappa-Atem, die mir entgegenschlug. Die Luft vor meinen Augen flimmerte wie eine Fata Morgana. Bevor die aufgebrachten Gesellen einen kurzen Zwischenstopp einlegten, als müssten sie doch noch so was wie einen Rest von Beißhemmung überwinden, um mir endgültig an den Kragen zu gehen.

Daheim hatte man Friedrich Alfred Krupp das Label »Kanonenkönig« verpasst, genau wie seinem Vater. Friedrich Alfred galt – keineswegs zu Unrecht – als einer der Hauptmatadoren der aggressiv-militaristischen Politik des Kaiser-Wilhelm-Reichs. Auf Capri hingegen hatte er in dieser Einsiedlerhöhle hoch überm Meer sein Refugium für jene Fantasien installiert, die so gar nicht zu dem nach außen getragenen Bild des stahlharten Fabrikanten passten. Hier tauchte er ein und ab in kindlich romantische Sphären. Sodass für uns Heutige sogar höchst zweifelhaft erscheinen mag, ob die andere von ihm an den Tag gelegte, allerdings ausgesprochen gesellschaftsfähige Obsession, seine Tätigkeit als Forscher der Meeresfauna nämlich, aus echtem zoologischen Interesse herrührte oder nur dazu diente, seiner eigentlichen Leidenschaft einen Deckmantel umzulegen. Dass er indes ein ausgeprägtes Doppelleben führte – zu Hause eingebunden in ein knallhartes System äußerer Zwänge, auf Capri dagegen verschwimmend in den sonneglitzernden Weiten des tyrrhenischen Meers –, das steht außer Frage.

Quasi als Memento des reichsdeutschen Alltagslebens brachte er neben seinem, sagen wir: artverwandten Ingenieur auch diesen von Julius Fahrenhorst ›Teutone‹ getauften Christian Wilhelm Allers mit nach Capri. Drei Jahre jünger als Krupp, also Mitte vierzig und ein damals im ganzen Reich äußerst populärer Zeichner, der sich vor allem durch seine Bismarck-Porträts einen Namen gemacht hatte. Und eben dieser Virtuose der Tuschefeder würde wenige Wochen nach jener letzten Spektakelparty in der gotisch gestylten Grotte zum Sündenbock gekürt werden. Doch folgen wir der Chronologie des Fahrenhorstschen Reports.

Gut, du hast mich als jungen Mann nicht gekannt, aber ich darf wohl sagen, dass meine Muskel-, gut, vielleicht nicht -berge, aber doch -hügel ähnlich straff waren wie deine heute. Und so wehrte ich mich nach Kräften und drosch mit der bleischweren Fotokamera auf die wild gewordene Rotte der Kruppschen Lustkomplizen ein. Dass im Zuge des einen oder andern wohl platzierten Streichs eine Mandoline saitensprengend zu Bruch ging und ein Satz wertvoller Porzellanvasen von der Anrichte gefegt wurde – na ja nun, auf gewisse Verluste konnte ich angesichts der angespannten Situation keine Rücksicht nehmen. Als Quittung für meinen einsamen und, wie du mir glauben magst, mit Schmiss und Hingabe vorgetragnen Kampf erntete ich einen bunten Strauß Faustschläge, der dem auf mich herabregnenden Wolkenbruch aus fauchenden Flüchen in wenig nachstand. Mit der am ausgefahrenen Stativ geschwungenen Kamera aber verfügte ich über eine verdammt wirksame Distanzwaffe, die mir jeden Bengel, dem es gelungen war, sich bis auf Tuchfühlung an mich ranzuarbeiten, wieder vom Leib schaffte. Und im Schwung meiner Rundumschläge posaunte ich, ein jeder solle, verflucht noch eins, bleiben, wo er sei und der Pfeffer wachse. »Sonst tanzt der Hammer. – Zurück, ihr Schweine, oder euch fliegt das Ding hier um die Ohren!«