Haarmanns Erbe

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»Warten Sie, nicht so schnell.« Tabori richtete sich auf. »Woher wissen Sie das alles? Was Sie mir da gerade erzählt haben! Das waren deutlich mehr Details, als irgendjemand …«

»Ich lese Zeitung«, unterbracht ihn Paust. »Ganz einfach. Und es gab einen großen Bericht darüber.«

»Sie wollen sagen, Sie haben in der Zeitung einen Artikel gelesen und …«

»Und was ich einmal gelesen habe, merke ich mir.«

»Ich muss zugeben, dass mich das verblüfft. Ich habe die meisten Sachen schon am nächsten Tag wieder vergessen!«

Paust blickte ihn an. Tabori hatte augenblicklich das Gefühl, dass sein Gegenüber ihm nicht glaubte.

»Aber es geht ja auch nicht um mich«, sagte Tabori. »Sie haben das also gelesen, Sie haben sich die wesentlichen Fakten gemerkt und sagen, dass das nichts Ungewöhnliches für Sie ist. Was Sie irgendwo aufgeschnappt haben, speichern Sie zuverlässig ab und können es bei Bedarf wieder hervorholen. Habe ich das richtig verstanden?«

»Das ist so, ja. Vor allem bei Sachen in Zusammenhang mit Hannover. Das ist … vielleicht so eine Art Hobby von mir. Es interessiert mich einfach, das ist die Stadt, in der ich lebe und …«

»Können Sie mir ein paar Details … zum Beispiel zum Gartenfriedhof nennen?«, unterbrach ihn Tabori.

Er sah, wie Paust irritiert die Augenbrauen zusammenzog, bevor er mit den Schultern zuckte und antwortete. »Sie wollen mich testen. Also der Gartenfriedhof, gut. Verschiedene Gräber, die von Bedeutung sind, unter anderem Caroline Herschel, eine der ersten Frauen in der Wissenschaft, die immerhin neun Kometen entdeckte. Dann natürlich Charlotte Kestner, geborene Buff, die Goethe als Vorbild für die Leiden des jungen Werther diente, außerdem die Erbbegräbnisstätte der Henriette von Rühlig, das geöffnete Grab, das von einer Birke gesprengt wurde, und am bekanntesten wahrscheinlich das Menschenfressergrab, bei dem der Steinmetz sich mit dem Platz für die Buchstaben vertan hatte und deshalb den Namen Heinrich Andreas Jacob Lutz zu Heinrich Andre as Jacob Lutz trennte …«

Tabori hob die Hände, um den Redefluss zu stoppen.

»Was ist?«, fragte Paust. »Sie wollten das wissen. Aber vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich auch eine Zeitlang als Stadtführer gearbeitet habe. Und außerdem habe ich Geschichte studiert, reicht Ihnen das als Erklärung?«

»Moment, und wie passt dann der Straßenbahnfahrer dazu?«

»Andere Leute sind nach dem Studium Taxi gefahren, weil sie keinen Job bekommen haben. Wo ist da der Unterschied?«

»Kein Unterschied«, gab Tabori zu, während er gleichzeitig versuchte, die verschiedenen Informationen zu sortieren: Geschichtsstudium, Straßenbahnfahrer, Stadtführer. Und ein aufmerksamer Beobachter, der bei irgendwelchen Demos den Wagen von Carlos und Ulrike als schlecht getarntes Einsatzfahrzeug erkannt hatte. Auf linken Demos, woanders tauchten Ulrike und Carlos nicht auf …

»Und heute Abend?«, schoss Tabori unvermittelt seine nächste Frage ab. »Warum sind Sie ausgerechnet hier gewesen? Das ist nicht unbedingt die Gegend für einen Abendspaziergang.«

Paust klopfte auf den Rucksack über seiner Schulter.

»Ich hab die Kamera dabei, ich wollte Fotos machen. Dunkelheit und Nieselregen, ein bisschen was jenseits des Üblichen. Sie können sich das gerne auf dem Display ansehen, sind schon ein paar ganz schöne Bilder dabei. Das Theater am Aegi, das Künstlerhaus mit dem Kronleuchter über der Straße, und dann dachte ich, dass vielleicht auch das Kopfsteinpflaster ein Motiv wäre …«

»Und dabei haben Sie das Glas entdeckt«, sagte Tabori mehr zu sich selbst. Pausts Erklärung erschien ihm schlüssig, obgleich er das merkwürdige Gefühl nicht los wurde, dass irgendetwas ganz und gar nicht passte.

»Sie stimmen mir also zu«, unterbrach Paust seine Gedanken. »Das ist der Originalkopf von Haarmann, oder?«

»Das kann ich so nicht entscheiden, das muss im Labor untersucht werden. – Warum haben Sie unbedingt mich verlangt? Ich meine, ein Streifenwagen hätte es doch wohl auch getan.«

Paust schüttelte den Kopf. »Meine Erfahrungen mit uniformierten Beamten sind nicht unbedingt dazu angetan, um Vertrauen zu erwecken. Und ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, woher ich Ihren Namen kenne. – Wenn das jetzt wirklich Haarmann ist, dann muss das doch so was wie ein Geschenk für Sie sein!«, setzte er gleich darauf hinzu. »Ich meine, zum Wiedereinstieg in die Kripo, was Besseres können Sie sich doch gar nicht wünschen.«

»Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht ganz folgen … Irgendwie scheinen Sie da bei meinem Job etwas falsch zu verstehen.«

»Aber Sie sind gekommen! Also liege ich ja wohl nicht so ganz daneben in meiner Annahme, dass Sie …«

»Ich sag Ihnen, was wir jetzt machen«, überging Tabori den Einwurf, der ihm alles andere als angenehm war. »Ich stelle Ihnen die Kollegen in dem Bus vor, den Sie ja bereits kennen, und die nehmen erst mal Ihre Personalien auf. Wir werden Sie ganz sicher auch noch mal zu einem Gespräch ins Polizeipräsidium bitten, um Ihre Aussagen zu protokollieren. Aber bevor ich jetzt die Spurensicherung rufe, die sich um den Kopf kümmert, habe ich noch eine Frage: Gibt es irgendetwas, was Ihnen vielleicht aufgefallen ist, als Sie hier ankamen? Haben Sie jemanden gesehen, waren da noch andere Leute oder ein Auto …«

»Nur ein paar Jugendliche, die in Richtung Bahnunterführung gelaufen sind. Aber die kamen direkt vom Aegi und waren auch auf der anderen Straßenseite. Klar, und ein paar Autos sind vorbeigefahren, aber …«

Taboris Handy klingelte. Das Display meldete »Lepcke« als Anrufer.

»Moment bitte … Ja, Lepcke, was ist los?«

Lepckes Stimme war nur undeutlich zu hören, der Partylärm schien noch zugenommen zu haben.

»Sag mal, wo bist du eigentlich? Ein Kollege hat behauptet, du wärst zur Tanke, um Kippen zu holen. Aber das war schon fast vor einer Stunde! Hat das was mit diesem Anruf von der Leitstelle für dich zu tun?«

»Ja, hat es. Ich erkläre es dir später, im Moment ist es gerade ein bisschen schlecht. Ich stehe hier …«

»Ich glaube, ich will es gar nicht wissen! – Mann, Mann, kaum bist du wieder dabei, wird es auch schon merkwürdig. Erst kriegst du diesen Anruf, dann verschwindest du ohne Erklärung und eine knappe Stunde später steht hier der Pizzabote mit seiner Lieferung für dich vor der Tür.«

»Was? Ich hab keine Pizza bestellt!«

»Dachte ich mir schon. Vor allem ganz sicher keine mit dieser Beilage.«

»Wovon redest du, Lepcke? Jetzt rück endlich raus damit.«

»Ich rede von einer Pizza mit dickem Käserand, Champignons und Artischocken sowie einem abgeschnittenen Mittelfinger als Beilage. Ach ja, und einem fettgetränkten Zettel mit der handschriftlichen Botschaft: Es ist noch lange nicht vorbei, es fängt alles gerade erst an …«

Sonntag, 27. September. 10.50 Uhr.

»Er ist gerade noch im Kunstmuseum in Celle«, sagte Ulrike am Telefon. »Irgendeine Ausstellung, an der er beteiligt ist und die morgen eröffnet wird. Aber ich habe euch für zwölf Uhr heute Mittag verabredet. High Noon, das passt doch.« Tabori hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete. Er hatte nicht gewusst, dass sie rauchte, und hatte sie auch noch nie mit einer Zigarette gesehen. Sie inhalierte tief, bevor sie weitersprach. »Um zwölf also, und zwar im Café Bar Celona am Weißekreuzplatz.«

»Kenn ich, ja. Aber ganz ehrlich hätte ich ihn lieber in seinem Atelier getroffen«, wandte Tabori ein. »Ich brauche einen klaren Eindruck von ihm. Ich will sein Arbeitsumfeld sehen, verstehst du? Nicht nur ein bisschen Small Talk beim Kaffeetrinken!«

»Vergiss es, Tabori! Er hat gar kein Atelier. Bestenfalls eine Art … Lagerraum, in dem er arbeitet. Schwerlastregale an den Wänden, und jede Menge alte Kartons und übereinander gestapelte Bananenkisten, die mit irgendwelchem Kram vollgestopft sind. Auf den ersten Blick ein unvorstellbares Chaos, bei dem ich mich ernsthaft frage, wie er es überhaupt schafft, bis zu seinem Arbeitstisch durchzukommen. – Aber das ist in der Sodenstraße«, setzte sie dann hinzu. »Gleich um die Ecke, ihr könnt da also problemlos rüber gehen, wenn du es immer noch für nötig hältst. Ich dachte nur, es macht vielleicht Sinn, dass ihr euch erst mal auf neutralem Boden begegnet. Ich habe keine Ahnung, wie der Typ tickt, und die Kneipe hat er selber spontan vorgeschlagen. Scheint so was wie ein zweites Zuhause für ihn zu sein.«

»Woher weißt du so genau, wie es da in der Sodenstraße aussieht?«, fragte Tabori irritiert.

Es dauerte einen Moment, bis Ulrike antwortete. Und ihre Antwort hatte nichts mit seiner Frage zu tun.

»Ich habe eben mal aufgerufen, was wir über ihn gespeichert haben. Ist vielleicht ganz gut für dich zu wissen. Also, kurzes Briefing gefällig?«

Tabori nickte, bevor ihm klar wurde, dass sie ihn ja nicht sah.

»Ja, ich höre«, beeilte er sich hinzuzusetzen.

»In Berlin geboren, Architekturstudium in Hannover, gründet 1961 eine ›Werbezentrale für Totalkunst‹ und stellt sich von da an immer wieder als ›Erstes Lebendes Kunstwerk‹ in den verschiedensten Formen selbst aus. Er hat einen Steifftier-Knopf im Ohr und eine tätowierte Zielscheibe auf der Brust …«

»Ich erinnere mich, dass ich ihn irgendwann in den siebziger Jahren im Kunstverein gesehen habe. Da ist er endlose Runden in einem überdimensionalen Hamsterrad gelaufen. Hat mich damals ziemlich fasziniert, weil es so völlig anders war als die Kunst in den Museen, in die wir als Schüler so geschleppt wurden. Ein bisschen wie ein Aha-Erlebnis, dass es also etwas gab, was mit dem ganzen verknöcherten Bildungsscheiß aufräumte.«

Er meinte, Ulrike zustimmend auflachen zu hören, bevor sie weitersprach.

 

»Erschrick übrigens nicht, falls er während eures Gesprächs mal kurz die Augen zumacht, auf seinem rechten Augenlid sind nämlich die Worte ›The End‹ tätowiert! Und seinen Grabstein gibt es auch schon, steht auf einem Künstlerfriedhof in Kassel und hat die schöne Inschrift: ›Denken Sie immer daran, mich zu vergessen‹…«

Unwillkürlich musste Tabori an den Grabstein von Kurt Schwitters denken, ›Man kann ja nie wissen‹, aber der Satz von Timm Ulrichs gefiel ihm fast noch besser. Ein Sprachspiel, das ihm in seiner Absurdität entlarvend für jede Form von hohlem Geplapper zu sein schien …

»Ich überspringe mal eben die Liste der verschiedenen Kunstaktionen, die Ulrichs über die Jahre gemacht hat«, unterbrach Ulrike seine Gedanken. »Wichtig für dich ist vielleicht noch, dass er lange Zeit eine Professur an der Kunstakademie in Münster hatte, bis zu seiner Pensionierung 2005. Warte, was hab’ ich noch … ah, ja, hier, er lebt meistens in Hannover, manchmal auch in Antwerpen oder Berlin. Da hat er übrigens auch gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert, in Berlin, meine ich, aber offensichtlich nur im kleinen Kreis, mit Essen vom Catering-Service und so. Und er scheint mit Armin Rohde befreundet zu sein, dem Schauspieler, jedenfalls hat der ihm ›Happy Birthday‹ aufs Handy gesungen. Das war’s mehr oder weniger.«

Tabori holte tief Luft. »Ich verstehe nicht, wieso ihr …«

Noch bevor er seine Frage zu Ende formuliert hatte, kam Ulrikes Reaktion. »Weil wir es hier mit jemandem zu tun haben, der auffällig ist.«

»Aber wieso?«

»Ist das nicht offensichtlich? Wir haben ihm zwar nie eine konkrete Verbindung zum linken Spektrum nachweisen können, aber glaub mir, es gab und gibt genug Anhaltspunkte, um ihn zumindest im Auge zu behalten. Ich meine, jemand, der schon 1969 eine ›Kunstpraxis‹ gegründet hat, ›Sprechstunden nur nach Vereinbarung‹, und der da dann detaillierte Ratschläge gegeben hat, wie man bei Ausstellungseröffnungen mitreden kann, ohne von Kunst auch nur die leiseste Ahnung zu haben …«

»Was? Das ist doch witzig!«

»Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen dafür, dass da jemand schon immer versucht hat, unsere Gesellschaft lächerlich zu machen! Und du weißt, dass es genau mit solchen Sachen anfängt, die scheinbar ganz harmlos sind, aber in Wirklichkeit die Leute dazu bringen sollen, sich gegen jede Form von rechtsstaatlicher Ordnung aufzulehnen. Und er hat es immer wieder versucht, es gibt da zum Beispiel eine Aktion, bei der er ein Kriegerdenkmal in Tarnfleckfarben bemalt hat. Oder ganz und gar die deutsche Bundesflagge als ›Geruchsfahne‹ ausgestellt hat! So etwas meine ich. Und das ist allemal Grund genug, um ihn verdächtig zu machen.«

Manchmal war sich Tabori nicht sicher, ob Ulrike nicht vielleicht doch selber an das glaubte, was sie da sagte. Oder ob sie diese dümmlichen Behauptungen nur wiedergab, um die manchmal unvorstellbare Idiotie eines Systems aufzuzeigen, an dem jeder zweifeln musste, der seinen eigenen Kopf benutzte.

Die Gesprächspause, in der sie jetzt auf seine Erwiderung wartete, ließ ihn Letzteres hoffen.

»Ich hab’s kapiert«, sagte er zögernd. »Der Mann provoziert, statt einfach nur bunte Bilder vom Ex-Kanzler zu malen, wie das andere Künstler ja auch machen. Meinst du das ungefähr so?«

Tabori hörte jetzt deutlich, dass Ulrike nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken konnte.

»Und wenn sich seine subversiven Inhalte erst mal in den Hirnwindungen der Leute festgesetzt haben, dann gute Nacht«, sagte sie. »Du weißt ja, auch zehn leere Flaschen Wein können schnell zehn Mollis sein«, brachte sie noch scheinbar ohne konkreten Zusammenhang an, bevor es in der Leitung klickte und die Verbindung unterbrochen war.

Um viertel vor zwölf saß Tabori an einem Straßentisch vor der Bar Celona und rührte in seinem Espresso. Der Himmel war bewölkt und es wehte ein kühler Wind, aber drinnen hatte es Tabori nicht gefallen, die Kneipe war ihm zu groß und zu sehr auf Wiener Kaffeehaus gemacht, wofür der Raum wiederum zu wenig Atmosphäre hatte und das Licht der Stromsparlampen zu kalt und zu modern war.

Er ließ den Blick über den Platz vor sich schweifen, mit den Zelten der Sudan-Flüchtlinge, die jetzt nach weit über einem Jahr dabei waren, das Camp nach und nach aufzulösen, nachdem sie zumindest erreicht hatten, dass sich sowohl die Öffentlichkeit als auch die Politik mit den Zuständen in ihrem Heimatland auseinandersetzen mussten. Aufmerksamkeit um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Tabori selber war im Winter dagewesen und hatte einen Schlafsack, eine Isomatte und ein paar warme Klamotten vorbeigebracht – und war verblüfft von der freundlichen Offenheit der »Supporter« gewesen, die die Sachen in Empfang genommen hatten. Ein junger Mann mit kahlgeschorenem Schädel und schwarzem Kapuzenpulli, und ein vielleicht 16-jähriges Mädchen mit grellbunt gefärbten Haaren, die sich so überschwänglich für seine Unterstützung bedankten, dass er sich vorgenommen hatte, ihnen am nächsten Tag auch noch eine Flasche Campinggas für die Zeltheizung zu bringen. Jetzt ärgerte er sich, dass er es nicht getan hatte.

Das Mädchen war auch heute wieder da, sie stand an einem Tapetentisch und diskutierte mit Passanten. Die Leute aus dem Sudan drängten sich ein Stück von ihr entfernt dicht zusammen, einer von ihnen trug Taboris alten Wollpullover.

An der Ecke zur Friesenstraße stand der Gorleben-Stein zur Erinnerung an den legendären Demonstrations-Treck gegen Atomkraft, an dem Ende der siebziger Jahre über 100.000 Menschen teilgenommen hatten. Auf der anderen Seite ragte die auffällige Solarstromanlage des Pavillon in den grauen Himmel, das ursprüngliche Kaufhausprovisorium war als alternatives Kommunikationszentrum längst zum festen Bestandteil des Stadtbildes geworden. Die Tische vor dem dazugehörigen Café waren fast vollständig besetzt, das »Mezzo« machte seit vielen Jahren gutes Geld nicht nur mit den inzwischen alt und seriös gewordenen Vorkämpfern der Bürgerinitiative.

Irgendwo hatte Tabori mal aufgeschnappt, wie jemand die Betreiber des Cafés als Wölfe im alternativen Schafspelz bezeichnete, er war sich fast sicher, dass das Bild zutraf. Lange vor dem Pavillon hatte genau an dieser Stelle das Gerichtsgefängnis gestanden, auf dessen Hof Haarmann hingerichtet worden war.

Tabori blickte auf die Uhr, im gleichen Moment hielt ein Auto neben den Betonpollern am Straßenrand. Ein bis unters Dach vollgeladener dunkelgrüner Volvo-Kombi, eine dieser rollenden Ikea-Schrankwände aus den frühen neunziger Jahren, die unter den eingeschworenen Volvo-Fans als unkaputtbar galten. Blubbernd kam der Motor zum Stehen. Ein Mann stieg auf der Beifahrerseite aus, goldgefasste Brille, schwarzer Anzug, kariertes Hemd, auffällig dünn und mit fast gänzlich weißen Haaren, die wirr und in langen Strähnen von seinem Kopf abstanden. Trotz der weißen Haare sah er jünger aus als fünfundsiebzig, aber Tabori zweifelte keinen Moment, dass er Timm Ulrichs vor sich hatte, und hob die Hand, um sich zu erkennen zu geben.

Ulrichs beugte sich nochmals kurz zurück zum Auto und sagte etwas zu dem Fahrer, bevor er die Tür zuschlug und auf Tabori zukam.

»Das ist Meister Hoppe«, erklärte er anstelle irgendeiner Form von Begrüßung und nickte mit dem Kopf zum Wagen. »Er hat mich hergefahren. Er ist Tischler und Drechsler und was weiß ich noch alles. Und er ist gut! Er hat schon viel für mich gebaut. Oder gedreht, wie man’s nimmt. Ich brauche ja immer jemanden, der meine Ideen umsetzt.«

Hinter der Scheibe der Beifahrertür erkannte Tabori ein rundes Gesicht mit den dunklen Schatten eines Dreitagebartes. Der Drechsler nickte ihm freundlich zu, Tabori nickte zurück. Hoppe klappte die Sitzlehne nach hinten und legte den Kopf an die Kopfstütze. Gleich darauf dröhnte laute Musik aus dem halbgeöffneten Fenster.

Als Ulrichs bemerkte, wie Tabori irritiert die Augenbrauen zusammenzog, sagte er: »Er wartet so lange, bis wir fertig sind. Wir müssen nachher noch weiter. Und er kann nicht aussteigen, hier wimmelt es nur so von Politessen.«

»Verstehe«, sagte Tabori. »Und was ist das für Musik?«

Die Bluesgitarre und die Stimme kamen Tabori merkwürdig bekannt vor, ohne dass er sie einem Bandnamen zuordnen konnte.

»Chuck Berry!«, klärte Ulrichs ihn auf. »›You never can tell‹, wie auf dem Grabstein von Kurt Schwitters.« Ulrichs grinste, er wirkte fast jungenhaft, als er hinzusetzte: »Mag sein, dass Rock’n’Roll schlechter Geschmack ist, aber es geht ja auch immer noch viel schlimmer. Und so was wie die Scorpijons kommt mir jedenfalls nicht ins Haus. Mir nicht und Hoppe auch nicht!«

Die Scorpijons, mit j! Nicht schlecht, dachte Tabori, muss ich mir merken. Er erhob sich halb und streckte Ulrichs die Hand hin. »Tabori, Hauptkommissar bei der Mordkommission.«

»Wie der Regisseur? George Tabori? Ich habe ›Mein Kampf‹ gesehen, als Theaterstück. Gut. Hat mir gefallen.«

»Der Film ist auch gut. Mit Götz George und vor allem Tom Schilling. Sehr beeindruckend.«

Ulrichs setzte sich und bestellte ein Bier. »Götz George hat auch den ›Totmacher‹ gespielt«, sagte er dann wie nebenbei, »in dem Film über Fritz Haarmann.«

Tabori überlegte noch, ob die Erwähnung von Haarmann gerade zufällig oder ganz bewusst passiert war, als Ulrichs bereits schon wieder auf die Getränkekarte tippte und erklärte: »Ich nehme immer das billigste Bier. Ich kann den Unterschied sowieso nicht schmecken. – Mordkommission, ja? Dann haben Sie nichts mit der Sache zu tun, die mir neulich passiert ist?«

Tabori blickte ihn fragend an.

»Ich bin überfallen worden, hier, gleich um die Ecke, bei mir vor der Tür.«

Ulrichs erzählte, wie er nachts um eins nach Hause gekommen war. Zwei jüngere Männer, die sich angeblich nicht auskannten, hatten ihn nach dem Weg zum Bahnhof gefragt. Er war mit ihnen sogar noch bis zur Kreuzung am Bredero-Hochhaus zurückgelaufen, um ihnen die Richtung zu zeigen, und sie hatten sich bedankt und freundlich von ihm verabschiedet. Aber als er fünf Minuten später wieder in seine Straße einbog, tauchten sie plötzlich aus der Dunkelheit auf und waren jetzt alles andere als freundlich.

»Der eine griff mir ins offene Jackett und zog meine Notizbücher aus der Innentasche. Hier, sehen Sie …«

Ulrichs hielt Tabori einen Packen dünne, in Moleskin eingebundene Hefte hin.

»Zum Glück konnten sie nichts damit anfangen und haben sie mir zurückgegeben. So was Ähnliches ist mir schon mal vor Jahren in Neapel passiert, aber da habe ich die Bücher nicht wiederbekommen. Das ist eine Katastrophe für mich, meine ganzen Ideen stehen da drin …«

»Und weiter?«, hakte Tabori ein. »Was ist dann passiert? Mit den beiden Männern vor Ihrer Tür, meine ich.«

»Mein Handy haben sie gar nicht bemerkt, aber mein Geld haben sie mir abgenommen. 190 Euro, ich hatte hier im Café gerade noch mein Bier bezahlt, sonst wären es über 200 gewesen. Als sie weg waren, bin ich sofort zu der Polizeistation am Welfenplatz. Ich habe den Diebstahl gemeldet und dann bis vier Uhr morgens da gesessen, ab und an lief mal einer Ihrer Kollegen vorbei, aber es hat sich niemand weiter um mich gekümmert. Bis sie dann mit zwei Typen ankamen, die sie irgendwo in der Innenstadt einkassiert hatten, und die ich identifizieren sollte – sie waren es! Und mein Geld hatten sie auch noch. Jetzt gibt es nächsten Monat eine Verhandlung wegen räuberischer Erpressung. Aber das hat alles nichts mit Ihnen zu tun, richtig?«

»Richtig. Aber seien Sie froh, dass nicht mehr passiert ist.«

»Bei mir an der Ecke gibt es übrigens einen Puff mit dem Namen ›Casanova XL‹«, sagte Ulrichs mit einem Schulterzucken, als wäre das Erklärung genug für den plötzlichen Gedankensprung. »Und gleich daneben ist das ›Kloster‹. Da kann der Mann abends sagen: Ich geh mal eben ins Kloster.«

Als Ulrichs lachte, wirkte er völlig entspannt und ohne jeden Hintergedanken, dachte Tabori.

Aber bevor er noch etwas erwidern konnte, redete Ulrichs schon weiter: »Haben Sie das in der Zeitung gelesen? Schröder ist jetzt wieder geschieden! Ich weiß noch, dass ich 1997 öffentlich gefragt habe, ob jemand, der zum vierten Mal heiratet, wirklich als Kanzler taugt. Es ist doch so, entweder er versteht nichts von Frauen oder nichts von sich selbst. Beides keine guten Voraussetzungen, meine ich. Obwohl ich den SPD-Kunstpreis dann trotzdem bekommen habe«, setzte er noch hinzu. »Fünftausend Mark waren das immerhin. Ich weiß, für andere sind das keine Summen, die reden nicht über fünftausend, da geht es um fünfzigtausend, hunderttausend, vielleicht war das auch immer mein Fehler! Ich habe Sachen von mir für lächerliche Summen verkauft, die Stühle zum Beispiel, die Hoppe jetzt gerade für mich baut, da reden wir von zweitausend Euro pro Stück …«

 

Tabori nutzte den neuerlichen Themenwechsel, um Ulrichs zu unterbrechen.

»Da Sie selber gerade davon anfangen – ich wollte ohnehin mit Ihnen über Kunst sprechen. Deshalb bin ich hier.«

Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, dass Ulrichs’ Blick sich veränderte. Ulrichs musste es gewohnt sein, dass die Leute ihn auf das Thema Kunst ansprachen. Wahrscheinlich konnte er es schon lange nicht mehr hören, womöglich hatte Tabori also gerade einen Fehler begangen und Ulrichs würde jetzt einfach dichtmachen.

Aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht, allerdings meinte er, bei den folgenden Sätzen einen leicht ironischen Unterton herauszuhören.

»Das können wir gerne machen«, erklärte Ulrichs. »Aber ich rede nicht über Baselitz, der ist mir zu albern. Oder Immendorf, dieses Bild von der Berliner Mauer, die von Biermanns Faust gesprengt wird. Das ist billig und plakativ, sonst gar nichts, das interessiert mich nicht. Oder ganz und gar Gerhard Richter, um mal den Allererfolgreichsten zu nennen, ich kenne ihn gar nicht, aber ich kann mir genau vorstellen, wie sein Tagesablauf aussieht: Er wird sich wohl morgens von seiner Frau ein paar Butterbrote schmieren lassen, dann fährt er ins Atelier, wo ein paar fixe Jungs schon Leinwände aufgespannt und schnelltrocknende Acrylfarbe bereitgestellt haben. Also ruck, zuck!, und schon sind ein paar Bilder fertig, der Tag hat gut angefangen. Frühstückspause. Dann ein paar Korrekturen, ehe die Farben trocken sind. Zeit fürs Mittagessen und ein kleines Nickerchen. Am Nachmittag dann noch ein paar kleine Bilder für die darbenden Museen, dann kommt vielleicht noch der Lastwagen der Hasenkamp-Spedition für die großen Brocken, die in Klimakisten direkt an die internationale Großsammler- und Oligarchenszene geliefert werden, und wenn die Zeit es zulässt, werden noch einige potente Galeristen und Anlageberater vorgelassen. Punkt fünf Uhr ist Dienstschluss, Abendessen und Fernsehen. Was ich damit sagen will: Jemand wie Richter muss die Mentalität eines Fließbandarbeiters haben, anders wäre es gar nicht denkbar, dass er seine fünf bis sieben Ideen jeweils mehr als tausendfach variieren kann! Während ich ja tausend Ideen immer nur einmal umsetze, ohne irgendwelche Varianten. Das ist sicher der große Unterschied, aber da ich mich nicht bedingungslos in den Dienst irgendeiner Warenproduktion oder Marktbefriedigung stelle, kann ich mir auch ein wildes, zweifelndes Denken leisten, Zweifel und Neugier!«

Ulrichs machte eine Pause und nahm einen langen Schluck Bier.

Zweifel und Neugier, wiederholte Tabori für sich. Würde das als Motiv reichen, um mit Haarmanns Kopf zu spielen? Um Zweifel daran zu säen, ob der Kopf wirklich eingeäschert worden war? Aber warum, was sollte das? Nein, die Zweifel des Betrachters waren erst der zweite Schritt, am Anfang stand Ulrichs eigene, zweifelnde Neugier, wenn er es richtig verstanden hatte. Kurz entschlossen zog er das Foto vom Fundort aus der Tasche seiner Lederjacke und schob es über den Tisch.

Ulrichs warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor er sagte: »Das ist mein Kopf-Stein-Pflaster, habe ich schon 1978 als Projekt entwickelt, in Lüdenscheid, eine Straßendecke mit Schädeldecken. Aber das Foto ist hier am Schiffgraben, neben der Sparkasse …«

»Sehen Sie noch mal genau hin, bitte.«

Ulrichs nahm das Foto hoch und schob seine Brille in die Stirn. Er hielt das Bild so dicht vor seine Augen, dass es fast sein Gesicht berührte. »Was ist das da hinten? Hat da jemand einen Eimer hingestellt? Nein, das ist aus Glas und … ich kann das nicht richtig erkennen, was ist das?«, wiederholte er.

Tabori schob das zweite Foto zu ihm, eine Großaufnahme von Haarmanns Kopf in dem Glasbehälter der Göttinger Rechtsmedizin. »Haarmanns Kopf«, erklärte er. »In Formalin eingelegt, ursprünglich als Untersuchungsgegenstand für Medizinstudenten gedacht, mit der Frage, ob sich Verbrecher anhand bestimmter Anomalien im Gehirn erkennen ließen.«

»Ich habe den Artikel dazu in der Zeitung gelesen.« Timm Ulrichs sprach so leise, dass Tabori ihn kaum verstehen konnte. »Aber da ging es darum, dass der Kopf eingeäschert worden wäre, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Sie erinnern sich richtig. Nur dass er jetzt plötzlich wieder aufgetaucht ist. Und zwar zwischen Ihren in Beton gegossenen Köpfen am Schiffgraben.«

Ulrichs nahm noch mal das Foto hoch. »Und das ist keine Montage?«

»Nein, keine Montage und aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich der Originalkopf. Wir untersuchen das gerade noch, aber es gibt kaum Zweifel, dass es sich wirklich um Haarmann handelt.«

Ulrichs zog einen Kugelschreiber aus seinem Jackett und machte sich eine Notiz auf der Innenfläche seiner linken Hand.

»Was schreiben Sie da?«

Keine Antwort. Nur ein flüchtiges Lächeln, mit dem Ulrichs den Stift zurück in die Tasche schob.

»Gut«, nickte Tabori. »Dann mal ganz konkret: Ich verstehe die Idee noch nicht, warum haben Sie das Präparat aus Göttingen in Ihrer Installation platziert?«

»Habe ich nicht. Warum sollte ich?«

»Sagen Sie es mir.«

Wieder dieses Lächeln. Jetzt allerdings mit einem so spöttischen Blick, dass Tabori unwillkürlich das Gefühl hatte, sich mit jeder weiteren Frage einfach nur lächerlich zu machen. Gleichzeitig wusste er es ohnehin schon – die Theorie, dass Ulrichs mit Hilfe von Haarmanns Kopf auf sich und seine Kunst aufmerksam machen wollte, war höchst unwahrscheinlich und entsprach auf keinem Fall dem Bild, das sich für Tabori gerade Stück für Stück zusammenfügte.

»Kennen Sie Gottfried Benn?«, fragte Ulrichs unvermittelt. Nur, um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben: »Natürlich kennen Sie ihn. Aber ich habe ihn gerade erst für mich wiederentdeckt: Als ich von der Brust aus, unter der Haut, mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn …«

Tabori brauchte einen Augenblick, bis er begriff, dass Ulrichs gerade aus einem Gedicht von Benn zitierte.

»Wir haben da in Berlin vor kurzem eine Lesung gemacht«, erklärte Ulrichs jetzt. »So was wie Jazz & Poetry. Das war ganz neu für mich. Ich kann ja eigentlich gar nicht reden, geschweige denn Lyrik vortragen! Ich habe das richtig geübt. Mit einem Schauspieler, Hermann Treusch, war auch mal hier am Staatstheater …« Im nächsten Moment zog er einen kleinen Beutel aus der Tasche und öffnete ihn. »Erkennen Sie, was das ist?«

Er hielt Tabori einen goldfarbenen Trauring hin, der einen runden Knopf auf der Oberseite trug.

»So eine Klammer für Briefsendungen …?«

»Sehr gut«, nickte Ulrichs, als hätte Tabori gerade eine Prüfung bestanden. »Der korrekte Terminus ist ›Musterbeutelklammer‹. Und das ist mein Ehering. Aber ich trage ihn nicht, damit er nicht zerkratzt.« Er schob den Ring zurück in den Beutel. »Ich kaufe mir auch manche Bücher ein zweites Mal, wenn sie mir gefallen haben, und lasse sie eingeschweißt. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht noch mehr ansammle. Ich bin gerade dabei, aufzuräumen und alles zu sortieren. Verschenke auch viel von meinen Sachen. – Brauchen Sie vielleicht einen Schaukelstuhl? Ich habe noch drei im Keller, aus Husum, bevor mir Hoppe damals die Stühle mit den Ventilatoren in der Rückenlehne gebaut hat. Ich hatte schon überlegt, ob ich sie zurück nach Husum bringe, aber wahrscheinlich wollen sie die da gar nicht mehr haben.«

»Ich nehme einen«, sagte Tabori, ohne lange zu überlegen. Und ohne eigentlich zu wissen, was er mit einem Schaukelstuhl anfangen sollte.