Hildegard von Bingen

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Hildegard von Bingen
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Ursula Klammer

Hildegard von Bingen

Prophetin für unsere Zeit


„Pflege das Leben, wo du es triffst!“

Hildegard von Bingen

Nachhaltige Produktion ist uns ein Anliegen; wir möchten die Belastung unserer Mitwelt so gering wie möglich halten. Über unsere Druckereien garantieren wir ein hohes Maß an Umweltverträglichkeit: Wir lassen ausschließlich auf FSC®-Papieren aus verantwortungsvollen Quellen drucken und verwenden Farben auf Pflanzenölbasis. Wir produzieren in Österreich und im nahen europäischen Ausland, auf Produktionen in Fernost verzichten wir ganz.

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2021 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Bildquellen: Archiv der Autorin: Seite 44, 48, 64, 69, 83, 93, 97, 101 und 153;

E-W/Wikipedia: 37; Wikimedia: 33 (karlundfaber.de), 40, 45 (CC-BY-SA 3.0/Foto Petra Klawikowski), 51 (Godfrey & Theodoric), 75, 111, 133, 169 und 187.

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Studio HM, Innsbruck

Bildbearbeitung: Artilitho, Trento (I)

ISBN 978-3-7022-3960-2 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3961-9 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Das 12. Jahrhundert: Umbruch und Aufbruch

Das Leben der heiligen Hildegard

Die Prophetin und Visionärin

Schriftstellerin, Dichterin, Komponistin, Heilkundige

Zum Welt- und Menschenbild der heiligen Hildegard

Hildegards Entwurf heilen Lebens

Gesundheitstipps einer lebensfrohen Benediktinerin

Ernährung und Kochen nach Hildegard

Zeittafel

Quellen und Anmerkungen

„Ein Instrument des Heiligen Geistes bist du, denn deine Worte haben mich entzündet, wie wenn eine Flamme mein Herz berührt hätte …“

Elisabeth von Schönau an Hildegard von Bingen

Vorwort

Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich immer wieder aus dem Fenster und erfreue mich an den üppigen Lindenbäumen vor dem Haus, die vom Wind hin- und herbewegt werden. Die nach einem Regenguss hervorblinzelnde Sonne verleiht dem Grün der Blätter eine besondere Intensität und Leuchtkraft, wie ich sie zuvor kaum einmal wahrgenommen habe. Viriditas – Licht, Lebendigkeit, Grünkraft … Die hl. Hildegard würde bei diesem wunderbaren Anblick wohl jubeln! Die beeindruckende Frau des Mittelalters ist mir durch die Beschäftigung mit ihrem Lebenswerk, ihrer Musik sowie ihren naturheilkundlichen Empfehlungen sehr nahegekommen. Es war ein langer, für mich äußerst lohnender Weg. Ein Weg nach innen, zu meinen spirituellen Wurzeln, die insbesondere auch aus dieser kostbaren Quelle genährt werden.

Der heilkundigen Benediktinerin verdanke ich überzeugende Antworten auf persönliche Fragen – u. a. nach einem gesunden und nachhaltigen Lebensstil, aber auch nach einer ansprechenden Art und Weise, meinen Glauben zu leben. Themen wie diese standen am Beginn meiner stetig wachsenden Begeisterung für die weltoffene Mystikerin. Es folgten eine Diplomarbeit zum Abschluss meines Theologiestudiums, eine Buchveröffentlichung sowie die beherzte Weitergabe von erworbenem Wissen, von spirituellen Impulsen oder gesundheitsbezogenen Erkenntnissen der hl. Hildegard im Rahmen von Seminaren und Vorträgen, Exerzitien und Pilgerfahrten zu Hildegards Wirkungsstätten am Rhein.

Hildegard von Bingen, eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters, hat über die Jahrhunderte nichts an Strahlkraft und Aktualität verloren. Unzählige Menschen interessieren sich für ihre Weisheit, ihre mystischen Gesänge und Visionen sowie ihr Schicksal als Prophetin, wurde ihr doch Einblick gewährt in kosmische Strukturen und göttliche Geheimnisse, in tiefgründige Zusammenhänge des Lebens, aber auch in sensible Bereiche der menschlichen Seele. Hildegard konnte Klänge und Töne des Universums wahrnehmen, „himmlische Musik“, die sie zum Niederschreiben eigener Liedkompositionen inspirierte. Die Seherin war eng vertraut mit der göttlichen Stimme, die ihr half, ihre Visionsbilder zu deuten. Von ihr wusste sich Hildegard zum Verkündigen beauftragt bzw. ermächtigt: auf öffentlichen Plätzen, in Kathedralen, in Form von geistlichen Unterweisungen innerhalb ihres Klosters oder auch im Rahmen ihrer umfangreichen Korrespondenz sowohl mit einfachen Leuten als auch mit einflussreichen Persönlichkeiten und politischen Entscheidungsträgern – mit Kaisern, Päpsten, Bischöfen und Gelehrten sowie mit Königinnen oder Äbtissinnen. Selbstbewusst verbreitete die angesehene Benediktinerin ihre Erkenntnisse – u. a. anhand anspruchsvoller theologischer Schriften und naturheilkundlicher Werke. Sie, „eine einfache Frau ohne formale Bildung“, wie die Meisterin vom Rupertsberg nicht müde wurde sich zu erklären. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen konnte sich die geisterfüllte und selbstbewusste Äbtissin gegenüber männlicher Vorherrschaft behaupten.

Und heute? Werden Frauen, die mutig ihre Stimme erheben, gehört? Innerhalb der Kirche? Außerhalb? In welchen Bereichen können und dürfen sich Frauen einbringen? Es bleibt zu wünschen, dass sich kirchliche und gesellschaftliche Strukturen für Frauen und ihre spezifischen Fähigkeiten in umfassender Weise öffnen. „Welche Verschwendung von Charismen und Begabungen, wenn die Kirche den Frauen keinen Zugang zu allen Diensten und Ämtern gibt“, meint Sr. Philippa Rath aus der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in Rüdesheim/Eibingen, wo derzeit 44 Ordensfrauen das Erbe Hildegards weitertragen. Zu ihnen, ihrem beeindruckenden Kloster inmitten von Weinbergen haben mich meine Gedanken und Erinnerungen während der letzten Monate immer wieder hingetragen. Ihnen und zahlreichen anderen spirituellen Frauen und Männern unserer Zeit sowie früherer Generationen bzw. Epochen gehört mein Dank. Dafür, dass sie von Gott erzählen und durch ihr Gebet bzw. ihr engagiertes Handeln die Welt gestalten, dafür, dass sie der lebendigen Geistkraft Gottes Raum geben und an der Kirche mitbauen – an einer gerechten und geschwisterlichen Kirche, die sich offen zeigt gegenüber Vielfalt, Buntheit, Lebensfreude sowie leidenschaftlicher Schöpfungsverantwortung.

Hildegard von Bingen, die umtriebige und willensstarke Äbtissin vom Rupertsberg, kann uns Frauen ermutigen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die kirchlichen Dienste und Ämter mit unserem Frausein zu füllen bzw. zu bereichern. Hildegard, die sich im Großen und Ganzen in die Ordnung ihrer Zeit eingefügt hat, ist es bestimmt nicht immer leichtgefallen, ihre prophetische Stimme zu erheben und sich dann, wenn sie es für notwendig erachtete, den kirchlichen Autoritäten zu widersetzen. Die engagierte Ordensfrau hat sich unerschrocken und kompromisslos für Wahrheit und Gerechtigkeit eingesetzt. Manch schwerer Konflikt – auch mit der Amtskirche – kostete Hildegard viel Kraft und Energie. Die Seherin hat ihr Licht trotz häufiger Krankheitsphasen nie unter einen Scheffel gestellt. Um ihre Mission erfüllen zu können, hat Hildegard nicht lange um Erlaubnis gefragt. Selbstbestimmt und von ihrem Sendungsauftrag überzeugt hat sie sich mehrfach auf den Weg quer durch Deutschland gemacht, um Menschen aufzurütteln, zu trösten, zu mahnen und ihnen Gottes Verheißungen kundzutun – und das auch noch mit über 60 Jahren! Sie ist ihrer inneren Stimme gefolgt und nahm die Bürden mittelalterlichen Reisens bereitwillig auf sich.

 

Das Bild der Linden im abendlichen Licht fasziniert mich immer noch und lässt Freude und Glück in mir aufkommen. Die Bäume haben erst in den letzten Wochen ihre Blätter und Triebe bekommen – die Natur ist förmlich explodiert. Was für ein Licht- und Naturspektakel! Geistkraft Gottes, Ruach, Lebensfrische, Viriditas …

Aus meiner Begeisterung für Hildegard von Bingen heraus wünsche ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass auch Sie aus dem reichen Erfahrungsschatz der vielseitigen Prophetin schöpfen können.

Ursula Klammer

Einleitung

Die Arbeit an diesem Buch fällt in die Zeit der SARS-CoV-2-Pandemie, die – auf den ersten Blick – wie aus heiterem Himmel über die Menschheit hereingebrochen ist. Viele Menschen kämpften förmlich ums nackte Überleben – nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in wirtschaftlicher oder psychosozialer Hinsicht.

Bei vielen Menschen hat die Pandemie Verunsicherung, Trauer und Ängste ausgelöst und es sind neben den Seniorinnen und Senioren vor allem auch Kinder und Jugendliche, die unter den sozialen und psychischen Folgen der Epidemie leiden – u. a. durch die Reduktion bzw. den Wegfall von Kontakten, gewohnter Struktur und körperlicher Nähe.

In dieser Belastungsprobe und Verunsicherung werden – abgesehen von den notwendigen Maßnahmen zur bestmöglichen Alltagsbewältigung – nicht selten existentielle Fragen gestellt, bewusst oder unbewusst. Nach dem Woher und Wohin unseres Lebens, nach Sinn und Orientierung. Befriedigende Antworten und Lösungen wollen gefunden werden und darüber hinaus sinnstiftende Bezüge, um uns in dieser zuweilen als bedrohlich erlebten Welt zurechtzufinden. In einer Krise oder angesichts von Krankheit und Leid wird der Mensch in einem besonderen Maß mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert. Die Werteordnung, die bisher Halt und Orientierung gegeben hat, gerät möglicherweise ins Wanken. Unweigerlich stellt sich die Frage nach dem Sinn von Leiden.

In Zeiten großer Umbrüche und notwendig gewordener Neuausrichtung interessieren sich viele Menschen für Vorbilder, für Biographien beeindruckender, eventuell auch erfolgreicher Frauen und Männer und – damit verbunden – für überzeugende und ansprechende Lebensmodelle. Eine herausragende und schillernde Persönlichkeit, die uns in unserer schwierigen und herausfordernden Zeit richtungsweisende Antworten geben kann, ist die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen mit ihrem ganzheitlichen Blick auf Körper, Geist und Seele.

Wer ist diese erst kürzlich heiliggesprochene Benediktinerin, die mit ihren praxisnahen Lebenskonzepten, mit ihren Schriften und Bildern, ihrer Musik und ihrem offensichtlich unvergänglichen Charme die Bühne unserer Welt von Neuem betreten hat? Welche Verdienste werden ihr zugeschrieben, dass sie Papst Benedikt XVI. am 7. Oktober 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben hat? Worin liegt die Besonderheit dieser bis heute unvergessenen Mystikerin und Prophetin des Hochmittelalters?

Das vorliegende Buch will das außergewöhnliche Leben der Hildegard von Bingen und ihr umfangreiches literarisches Erbe kompakt und übersichtlich darstellen, vor allem aber ihre universal gültigen und heute so aktuellen Botschaften für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, herausarbeiten. Dabei scheint es mir ein nahezu „menschen-unmögliches“ Unterfangen zu sein, die unerschöpfliche Fülle von Hildegards Gesamtwerk und ihr geistig-spirituelles Erbe in einem Buch von bescheidenem Umfang auch nur annähernd authentisch beschreiben zu können bzw. gebührend zu würdigen.

Hildegard hat mit ihrer Botschaft und all dem, was sie auszeichnet, viele Herzen erobert. Zu Recht kann man in den letzten vier Jahrzehnten von einer Hildegard-Renaissance sprechen. Ob Literatur, Kunst, Musik, Kochkurse, Kräutergärten, Wellness-Angebote …, eine unüberschaubare Fülle an Bezügen zur historischen Person Hildegard von Bingen! Die hochbegabte Äbtissin aus vergangenen Tagen scheint den Nerv unserer Zeit zu treffen. Was ist es, das uns heute empfänglicher denn je macht, einer Prophetin des Hochmittelalters unser Ohr zu leihen? Was sind die Gründe, dass sich so viele Frauen und auch Männer unserer Tage für Hildegards visionäre Berichte und ihre außerordentlichen Lebensumstände interessieren? Was treibt viele Menschen an, mittelalterliche Rezepte bzw. unkonventionelle heilkundliche Anweisungen auszuprobieren? Und ihre einzigartige Musik – was löst sie in uns aus?

Jedes Jahrhundert hat seine besonderen Herausforderungen zu bewältigen, aber im Letzten geht es immer um ähnliche Grundanliegen: Der Mensch sucht nach Möglichkeiten und Perspektiven sinnerfüllter und geglückter Lebensgestaltung. In ihren theologischen und lebenskundlichen Schriften geht die Mystikerin über einen rein privaten Erlösungsgedanken hinaus: Sie plädiert für eine beherzte und engagierte Hinwendung zur Natur, unserer Um- und Mitwelt. Wenn ein Mensch seine Verantwortung anderen und der Schöpfung gegenüber ernst nimmt und seine (religiöse) Bestimmung erkennt, kann er schon im Hier und Jetzt ansatzweise Heil erfahren. „Die ganze Schöpfung steht dem Menschen zur Verfügung“, wird Hildegard nicht müde zu verkünden.

Die mittelalterliche Benediktinerin schaut und beschreibt die großen Zusammenhänge, die uns heute weitgehend verloren gegangen sind. Die Corona-Pandemie hat sie uns in neuer Deutlichkeit vor Augen gestellt. Ein schnelles Ausprobieren von ganzheitlichen Entwürfen kann jedoch nicht weiterhelfen, wenn das zugrunde liegende Gesamtkonzept in seiner spirituellen Ausrichtung vernachlässigt bzw. übergangen wird. Geht es um tiefgreifende Erfahrungen und Lebensthemen sowie um eventuell notwendige Korrekturen von Einstellungen oder Verhaltensweisen, bleibt uns ein längerer, unter Umständen mühsamer Weg nicht erspart.

Das Ineinandergreifen von Körper, Geist und Seele, von Mensch und Schöpfung, wie es Hildegard beschreibt, lässt uns an so manche „Baustelle“ auf unserem Planeten denken, beispielsweise an die vielseitigen und dramatischen Auswirkungen der fortschreitenden Klimaerwärmung auf diverse Ökosysteme. So werden u. a. die globalen Windsysteme bzw. die weltweiten Meeresströmungen nachweislich durcheinandergebracht. Jahrzehntelange Überdüngung und Überfischung sowie die Rodung riesiger Waldflächen wirken sich verheerend auf das ökologische Gleichgewicht auf der Erde bzw. in den Weltmeeren aus. Menschliches Eingreifen in sensible Kreisläufe der Natur zeitigt schwerwiegende Folgen für Fauna und Flora, ja für den gesamten Planeten und nicht zuletzt für den Menschen selbst.

Die globale Klimaerwärmung sowie die ungerechte Verteilung von Gütern sind mitverantwortlich für Hungerkatastrophen in klimatisch und wirtschaftlich benachteiligten Ländern. Kriegerische Auseinandersetzungen bedrohen das Leben tausender Menschen und lösen in vielen Ländern Fluchtbewegungen (Migration) aus. Doch nicht nur in fernen Ländern, auch in Europa stellt sich die Frage, in welcher Weise Grundbedürfnisse wie Sicherheit, angemessene Ernährung, Kleidung, Wohnmöglichkeit sowie medizinische bzw. psychologische Hilfe gewährleistet werden. Auch der grundsätzliche Schutz des Lebens ist und bleibt ein fundamentales und brandaktuelles Thema, gerade auch in der Rechtsprechung. Durch die gigantischen Möglichkeiten und Fortschritte moderner Technik – beispielsweise in der medizinisch unterstützten Fortpflanzungsbiologie – wird die Menschheit zunehmend mit ethischen Grenzfragen konfrontiert, die sich u. a. auf den Gebieten der Präimplantationsdiagnostik, des Klonens, der Stammzellenforschung oder der Organtransplantation auftun.

Bei diesen facettenreichen und zum Teil emotionsgeladenen Themen und Debatten sollte immer der konkrete Mensch mit seinen existentiellen Bedürfnissen und seiner unantastbaren Würde im Mittelpunkt stehen. Hildegard von Bingen propagiert in ihren Schriften und visionären Bildern einen anthropozentrischen Ansatz: Der Mensch steht im Zentrum der Schöpfung, ja des gesamten Kosmos. Mit diesem ist er auf vielfältige Weise untrennbar verbunden.

Diese Interdependenz gilt es neu zu entdecken. Gerade auf dem Gebiet der Heilkunde sind schon seit Längerem Bestrebungen im Gang, unsere hochspezialisierte, überwiegend wissenschaftlich orientierte Medizin durch naturheilkundliche bzw. komplementärmedizinische Verfahren zu ergänzen. Im Unterschied zu einer rein mechanischen oder medikamentösen (Symptom-)Behandlung berücksichtigt eine ganzheitlich orientierte Krankenvorsorge bzw. Betreuung auch die sozialen sowie geistig-religiösen Bedürfnisse des Menschen. Hildegard von Bingen hat schon im 12. Jahrhundert auf die unauflösbare Einheit von Leib und Seele hingewiesen. Sie baut ihre ganze Lehre vom Menschen, von Welt und Kosmos auf einer – modern ausgedrückt – psychosomatisch orientierten Anthropologie und Heilkunde auf. In ihrer bildreichen, naturnahen Sprache weist Hildegard immer wieder auf das schöpferische, wohlwollende Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele hin. „Die Seele ist für den Körper, was der Saft für den Baum ist“, lässt Hildegard in ihren theologisch-philosophischen Schriften anklingen.

Da die visionär und mystisch begabte Nonne immer wieder mit persönlichen Krisen konfrontiert war – u. a. aufgrund von schweren Krankheitsschüben, Konflikten mit Klerikern und kirchlichen Behörden oder aufgrund einer äußerst schmerzlichen Trennung im privaten bzw. klösterlichen Umfeld –, vermag sie aus eigener Erfahrung und Betroffenheit heraus nützliche Antworten auf tiefgründige Lebensfragen zu geben. Hildegards Schriften enthalten zeitlos gültige Wahrheiten und Hinweise, wie die Menschheit die großen Herausforderungen erfolgreich bewältigen kann. Das Einüben neuer Lebenshaltungen gelingt ihrer Meinung nach am besten in Freiheit und mit Geduld. Sich dabei selbst zu überfordern, sei kontraproduktiv, hält die spirituell erfahrene Äbtissin fest.

Hildegards beeindruckendes Lebenszeugnis und ihre geistreichen, inspirierenden Schriften sind eine unerschöpfliche Quelle für all jene, die nach einem erfüllten und authentischen Leben suchen.

Das 12. Jahrhundert: Umbruch und Aufbruch

Hildegard von Bingen (1098–1179) wurde in die bewegte Zeit des Hochmittelalters hineingeboren. Diese Epoche wird heute übereinstimmend zwischen 1000 und 1250 festgelegt. Als Hildegard das Licht der Welt erblickte, lag die folgenreiche Spaltung der Christenheit in eine römische Westkirche und eine Ostkirche unter der Führung von Byzanz (1054) gerade einmal 40 Jahre zurück.

Sehr oft wird das Mittelalter vorschnell als eine eher dunkle, düstere Zeit zwischen der Antike und der Neuzeit eingestuft, die u. a. von Kriegen, allen voran den Kreuzzügen, der Pest sowie von misslichen Lebensumständen – beispielsweise Unfreiheit und Unterdrückung großer Bevölkerungsschichten – geprägt ist. Wenn man die annähernd 1000 Jahre des Mittelalters zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert auf europäischem Boden allerdings etwas differenzierter betrachtet, dann zeichnet sich durchaus auch eine hellere Seite ab, die mit wegweisenden Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden kann: Die ersten Universitäten wurden gegründet, Städte entstanden bzw. erblühten und der Handel sowie das Handwerk erfuhren einen enormen Aufstieg.

Das im Mittelalter vorherrschende Ständesystem wies jedem und jeder seinen bzw. ihren festgelegten Platz in der Gesellschaft zu. Diese feste Gesellschaftsordnung galt als von Gott gegeben und daher in der Regel als unveränderlich. An der Spitze regierten auf der einen Seite der Kaiser oder ein König, auf der anderen der Papst. Die Vertreter der Kirche bildeten den ersten Stand. Dazu gehörten neben dem Papst Bischöfe, Äbte, Priester, der so genannte niedere Klerus sowie eine große Vielfalt an Mönchen und Nonnen. Sie hatten für das Seelenheil der Bevölkerung Sorge zu tragen.

Der zweite Stand umfasste den Adel, also beispielsweise Herzöge, Grafen, Barone, Fürsten sowie Ritter. Diese gesellschaftliche Schicht war für die Sicherheit der Bevölkerung zuständig, besonders auch für die Verteidigung von Land und Leuten im Kriegsfall. Die Ritter gewannen mit der Kriegsführung zu Pferd (ca. ab dem 9. Jh.) an Bedeutung und als Zeichen ihrer Wichtigkeit für ihren Herren bekamen sie beachtliche Privilegien zuerkannt. Im 12. Jahrhundert erlebte das Rittertum seine Blütezeit. Schon ca. 200 Jahre später verloren die höfischen Ritter durch das Aufkommen von Söldnerheeren und den Einsatz neuer Waffen an Bedeutung. Ihr gesellschaftlicher Abstieg folgte.

 

Der dritte Stand bestand aus Bauern und Bürgern. Diese machten ungefähr 90 Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung aus. Unter ihnen herrschten große Unterschiede hinsichtlich der Vermögensverteilung. Die so genannten freien Bauern besaßen ein eigenes Stück Land, das sie bewirtschaften konnten. Der größere Teil der bäuerlichen Bevölkerung aber war besitzlos und ohne eigene Rechte, also unfrei. Man nannte sie Leibeigene und sie wurden von ihren Gutsherren häufig ausgebeutet. Als Gegenleistung für das ihnen zur Verfügung gestellte Stück Land zahlten sie relativ hohe Abgaben oder leisteten Frondienste. Sie zogen für ihren Herrn in den Krieg und waren ihm meist ein Leben lang zu Gehorsam verpflichtet. Im Gegenzug verpflichtete sich der Gutsherr, seinen Untergebenen „Schirm und Schutz“ zu bieten.

Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung führte ein karges, von Hunger bedrohtes Leben. Die Menschen hausten zumeist in engen und düsteren Hütten. Heizmaterial war vielfach knapp, und unzureichende hygienische Bedingungen gefährdeten die Gesundheit der ärmlichen Bevölkerung. Die weit verstreuten Weiler bzw. Ortschaften waren größtenteils nur durch schlechte Straßen oder Wege miteinander verbunden.

Wanderprediger lehrten öffentlich auf Straßen und Plätzen. Häufig in Lumpen gehüllt, streiften sie mit ihren Gefährten umher und erbettelten sich ihren Lebensunterhalt. Auf den Straßen begegnete man arbeitslosen Handwerkern, verarmten Vagabunden und nicht selten Aussätzigen. Gewalt und Brutalität waren Folgeerscheinungen der ungerechten Vermögensverhältnisse und der oft aussichtslosen Perspektiven vieler Tagelöhner.

Mit zunehmendem Aufstieg der Städte im 12. Jahrhundert zogen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Auch so genannte Unfreie versuchten ihren elenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu entfliehen. Wenn sie von ihrem Herrn nicht innerhalb eines Jahres zurückbeordert wurden, gelang es ihnen sogar, frei zu werden. In den Städten entstanden nach und nach Märkte, die sich mancherorts bald zu beachtlichen Wirtschaftszentren entwickelten. Handwerk und Handel erfuhren eine Blütezeit, manche Bürger wurden mächtiger und reicher als viele Adelige.