Der Wilde Jäger

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Der Wilde Jäger
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Vanessa S. Morolt

Der Wilde Jäger

Die Wiedergängerin - Band 2

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Fluch der Nacht

Die Elfe

Von Liebe und Erlösung

Geschichten aus einer anderen Zeit

Ein neues Leben

Der Kuss des Vampirs

Lügengeschichten

Verbannung

Neue Erkenntnisse

Eine verbotene Liebe

Wenn die Zeit Wunden heilt

Der Steinfriedhof

Tanz auf dem Aquädukt

Dunkle Schatten

Brudermord

Ulf

Die Erde bebt

Die Schlucht

Der Abschied

Neue Wege

Wilhelms Auftrag

Dörthes Befreiung

In der Falle

Rauhnächte

Wodan und Freia

Die Wilde Jagd

Das Opfer

Personenregister:

Über den Wilden Jäger

Impressum neobooks

Fluch der Nacht

Buch 2:

Der Wilde Jäger

Vanessa S. Morolt

1. Juni 2016

Copyright by Vanessa S. Morolt

basthet_1999@yahoo.de

Horch auf, was klirrt dort in der Gruft?

Was zischt und sauset durch die Luft?

Das muß der wilde Jäger sein,

Er zieht vom Schellert zum Rodenstein,

Hussa zum Rodenstein.

Im Schellert, da schlief er manch ein Jahr,

Reibt sich nun wieder die Augen klar,

Die Friedensburg steht dürr und leer,

Der Jäger zieht mit dem Geisterheer,

Zieht mit dem Geisterheer.

Er reitet voran auf schwarzem Roß,

Hallo! Wie saust ihm nach der Troß!

Es rauscht und spricht – es pfeift und knallt,

Daß drob ertönt der Odenwald,

Der weite Odenwald.

Aus: Rodenstein und Schellerts, Sagen aus Hessen

Theresia weinte. Es war dunkel im Zimmer und sie war aus dem Bett gefallen. In dieser sternenlosen Nacht kurz nach Neumond drang kein Lichtstrahl durch die Vorhänge und Theresia konnte nicht zurück in ihr Bett finden. Sie fror und sie hatte Angst und ihr Schmusetuch war nicht zu finden. „Mama! Mama!“, schluchzte sie laut.

Ich klopfte gegen die Fensterläden.

Ich bin ja bei dir, mein Schatz, ich bin ja da!“

Aber Theresia hörte sie nicht und weinte immer lauter und verzweifelter. Ich suchte und fand einen Stein, den ich gegen das Fenster warf, doch es zerbrach nicht. Im Inneren des Hauses öffnete sich die Tür und jemand betrat den Raum mit einer Kerze in der Hand.

„Mama! Mama!“, rief das kleine Mädchen erneut.

„Ich bin ja da, mein Schatz“, antwortete die Eintretende mit meinen Worten und ließ sich auf die Knie nieder. Ich erkannte Annamaria, einst meine liebste Freundin, die ihre Arme ausbreitete und das Kind an die Brust zog, den Scheitel küsste und beruhigend auf sie einredete.

Ich habe so schlecht geträumt, Mama“, flüsterte Theresia.

Nein! Nein! Ich ließ die Stirn gegen die Scheibe sinken. Sie hat mir meine Tochter weggenommen.

Veith hockte auf der Pritschenkante und musterte Magdas schweißüberströmtes, schmerzverzerrtes Gesicht. Sie litt die gleichen Qualen, die sie alle hier im Fegefeuer erduldeten. Natürlich träumte sie nicht von glühenden Eisen, die auf ihr Gesicht zukamen und ihr die Augen ausbrannten, nicht von Pferden, an die ihre Glieder mit Seilen gefesselt wurden. Pferden, die mit einer Peitsche zum Galopp angetrieben wurden und dabei einen Menschen auseinanderrissen. Ihn selbst, gefoltert und gemartert, unter höllischen Qualen auseinanderrissen.

Trotzdem zweifelte er nicht daran, dass sie genauso litt wie er selbst, Nacht für Nacht. Bis in die Ewigkeit.

Wie grausam mochte erst das Höllenfeuer sein?

Er schlüpfte in seine Stiefel und ging hinaus. Am Waldrand erahnte er bereits Helges gedrungene Gestalt, die ihn erwartete.

„Was hast du herausgefunden?“, fragte er seinen Freund.

Helge nickte ernst.

„Luis hatte Recht mit dem, was er gesagt hat. Simon sammelt seine Leute am Heierswall.“

Zornig schüttelte Veith den Kopf. „Dieser Mann lernt es nie. Er soll sich endlich mit seinem Machtbereich begnügen.“

Seit Jahrzehnten wollte Räuberhauptmann Simon vom nördlichen Gebiet ihm den Flusslauf der Timella abnehmen, der Veiths Territorium von dem des Fürsten von Ansphal trennte. Dort gab es die geschützten Höhlen, in denen Kupfer und Erz zum Schmieden von Waffen gewonnen werden konnten. Ein Räuber versuchte lieber, solche Rohstoffquellen an sich zu reißen, anstelle sich auf einen Tauschhandel einzulassen. Und so musste Veith immer wieder in Simons Territorium einfallen, um Kohle zu rauben und Simon versuchte, an die Höhlen zu kommen. Was ihm bisher jedoch nie gelungen war.

„Machen wir uns auf“, befahl Veith Helge und dieser gab ein liebliches Vogelzwitschern von sich, das von Luis, der in der Krone eines Baumes hockte, wiedergegeben wurde.

Es klopfte laut an der Tür. Sehr laut. Als trommele jemand mit zwei Stöckern im Wechsel gegen das Holz der Hüttentür. Verschlafen rieb ich mir die Augen und wandte mich zu Veiths Schlafstätte um. Doch sie war leer.

Als das Trommeln nicht verebbte, wurde mir klar, dass er nicht aufgestanden war, um die Tür zu öffnen. Ich wühlte mich aus der Decke und sah an mir herab, um zu prüfen, ob mich das Nachthemd auch züchtig bedeckte. Beim Öffnen der Tür verwandelte ich mich in Lenchen.

Ein aufgeregt zappelnder Luis stand vor mir und wedelte mit den Armen.

„Schnell, Lenchen, schnell …“

Er redete wirr und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er Hilfe brauchte bei einem Verletzten, der irgendwo in den Büschen am Waldrand lag.

Geschwind rannten wir über die Lichtung und in das Gebüsch hinein. An einen Baumstamm gelehnt lag ein Mann mit bleichem Gesicht und sein Hemd und die Hosen waren von dunklem Blut verschmiert. Erschreckt quiekte ich auf, als ich Veith erkannte. Mit langen Schritten eilte ich auf ihn zu und schlitterte neben ihm zu Boden.

„Was ist denn nur passiert?“

Ich zupfte an dem Hemd und eine furchtbar tiefe, mindestens zwei Handbreit lange, klaffende Wunde an der linken Seite seines Brustkorbs kam zum Vorschein, aus der unaufhörlich Blut strömte.

„Abdrücken“, keuchte Veith.

Verzweifelt sah ich mich um. Luis stand schluchzend neben uns.

„Komm, Luis, ich brauche deine Hilfe.“

Zögernd näherte sich der Junge.

Sobald meine Finger die Ränder der Wunde zusammenpressten, waren sie blutverschmiert. So konnte ich nicht helfen.

„Hier, drück deine Hände auf die Wunde“, befahl ich und der Junge gehorchte zitternd. „Fest, damit nicht noch mehr Blut hinausfließen kann.“

Fahrig wischte ich die Finger an meinem Rock ab. Was war zu tun? Ich schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Saubere Tücher, Wasser …

 

„Was muss ich tun?“, rief ich hilflos.

„Nähen“, hauchte Veith mit letzter Kraft. Sein Auge war ganz hell, fast grün, geworden.

Gut, ich brauchte also auch noch Nadel und Faden. Und ich stellte mir vor, ich hätte alle Kräuter, die eine Heilkundige benutzte, um Verletzungen zu versorgen und auch das Wissen, sie zu gebrauchen.

Als ich die Augen öffnete, lag alles vor meinen Knien. Ich fädelte einen dunklen Zwirn in eine Nadel und biss die Zähne zusammen, als ich sie zum ersten Mal in Veiths Fleisch stach. Dieser schrie laut auf und verlor nach ein paar Stichen das Bewusstsein. Luis assistierte mir bleich, aber tapfer. Er tupfte das Blut weg, wrang den Lappen aus, reichte mir die Kräuter zu, die die Blutung stillen sollten. Zum Ende der Operation tauchte Helge an meiner Seite auf.

„Wie sieht es aus, Mädchen?“

„Ich … ich weiß nicht. Ich habe niemals so viel Blut gesehen. Doch, … einmal …“ Ich dachte an mich selbst auf meinem Totenbett. „Bei einer Wöchnerin … und sie hat nicht überlebt.“

Helge strich mir über den Kopf. „Das ist Veith, der überlebt alles.“

„Aber er ist noch nie verletzt worden“, jammerte Luis und Tränen schwammen in seinen großen Augen.

„Ja, diesmal war er ein wenig unaufmerksam. Aber wir haben sie vertrieben, wie immer.“ Der alte Mann drückte den Jungen kurz.

„Allerdings“, Helge schien zu überlegen, wie er weitersprechen sollte, „Petto hatte nicht soviel Glück.“

„Ist er …“ Ich verstummte.

„Er war nicht unter den anderen, als wir uns gesammelt haben.“

Petto. Hätte ich nun Trauer verspüren müssen? Er war ein unscheinbarer Kerl gewesen. Eigentlich hatte ich ihn nur bemerkt, wenn er sich mit Irmer in der Wolle gehabt hatte, was in regelmäßigen Abständen geschah.

„Komm, Mädchen, lass ihn mich ins Haus tragen, die anderen sollen ihn in dem Zustand nicht sehen.“

Helge hob seinen Hauptmann, der plötzlich klein und schmächtig wirkte, auf die Arme und trug ihn zur Hütte.

Bewegungslos sah ich ihnen nach. Doch nach einem kurzen Moment drehte ich mich weg und lief hinunter zur Timella, wo ich mich voll bekleidet tief ins Wasser bewegte, um Veiths Blut von mir abzuspülen. Das Gefühl, der Tod sei in greifbarer Nähe, umgab mich. Die Luft roch nach Kampf und Blut. Das nasse Kleid wog schwer, als ich die Böschung hinaufkletterte und mich dort niederwarf. Keuchend starrte ich in den Himmel. Die Sterne verloren gerade an Kraft und verblassten am hellgrauen Firmament. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über den Horizont.

Welche Konsequenzen würde Veiths drohender Tod dem Ikenwald bescheren? Mittlerweile hatte ich begriffen, dass es zu einer Katastrophe kommen würde, wenn es keinen Herrn der Wilden Jagd mehr gab. Es würde ein anderer gefunden werden müssen und dieser konnte uneingeschränkt über den Ikenwald herrschen. Veith war kein Heiliger, sonst wäre er nicht hier. Aber er sorgte für ein gewisses Maß an Ordnung und Gerechtigkeit. Er tötete präzise und ohne zu Zögern, wenn er es für notwendig hielt, doch ich hatte niemals erlebt, dass er Spaß daran gehabt hätte, jemanden zu quälen und er ließ es auch nicht zu, dass sich ein anderer diesem kranken Genuss hingab. Das Grausen überkam mich, als ich daran dachte, wie genussvoll der Fürst von Ansphal seine Finger in mich gestoßen hatte. Ihm traute ich es durchaus zu, die Würde seiner Untertanen zu missbrauchen.

Veith musste überleben! Wieso war er überhaupt verletzt?

‚Wir haben sie besiegt, wie immer!‘, hatte Helge gesagt. Es gab somit irgendwelche Kämpfe und Streitigkeiten von denen ich – natürlich – nicht wusste.

Nichts wusste ich! Gab es Gott? Gab es den Himmel? Die Hölle? War der Ikenwald wirklich das Fegefeuer? Und wohin verschwand die Seele derjenigen, die zu Staub zerfielen? Fanden sie ihre Ruhe?

Ich rieb mir verzweifelt über das Gesicht. Was tun? Vitus zu warnen, hatte momentan nicht mehr höchste Priorität, zumal ich nicht wusste, wo ich ihn hätte finden können. Langsam rappelte ich mich hoch und befahl meinem Kleid zu trocknen. Es funktionierte fast sofort. Anschließend beschloss ich, zur Hütte zu gehen und nach meinem Mann zu sehen. Nach meinem Mann … Ich schluckte schwer. Eine Buhle war ich! Nichts weiter. Die Hure eines Räubers! Und wenn er nun starb, würde ich wahrscheinlich die Hure seines Nachfolgers, wenn der mich nicht in Staub verwandeln würde.

Helge hatte die Hütte verlassen. Auch von Luis war nichts zu sehen. Ich atmete tief durch und trat vor den Spiegel. Den Spiegel, der mich erst gestern auf der Pferdekoppel in diesem herrlichen Kleid gezeigt hatte.

Nun entwirrte ich sorgfältig mein langes Haar und flocht es zu einem Zopf, den ich wie eine Krone um meinen Kopf legte und feststeckte. Das sah hübsch aus. Wilm hätte es gefallen.

Den schlafenden Veith zu betrachten, fiel mir schwer. Unter den vielen Narben und Malen war schwierig zu sagen, wie es ihm ging. Welchen Farbton seine Haut hatte, konnte ich nicht erkennen. Zumindest atmete er ruhig. Prüfend legte ich meine Handfläche auf seine Brust und das Herz schlug kräftig dagegen. Zu meiner Überraschung legte Veith seine Hand über meine. Lange, schmale Finger mit schmutzigen Nagelrändern.

„Du hast den Moment versäumt“, krächzte er, das Auge geschlossen. Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante. Zum einen wollte ich ihn nicht berühren, zum anderen nicht an seine Wunde stoßen. Ich verstand, was er sagen wollte. Ich hätte ihn einfach verbluten lassen können.

„Ebenso wie du“, murmelte ich. „Du hattest gestern die beste Gelegenheit, mich zu verstoßen … und zu vernichten.“

Er antwortete nicht und so fuhr ich fort: „Ohne dich wäre ich Freiwild im Ikenwald.“

Veith grunzte. „Keine zwei Tage würde ich dir geben. Selbst mit Tarnung muss ich dich jeden zweiten Tag aus irgendeiner Katastrophe retten.“

Die Stimmung schlug abrupt um. Wütend entzog ich ihm meine Hand. „Ich habe wirklich den Moment versäumt, dich loszuwerden!“

Heftig knallte die Hüttentür hinter mir ins Schloss. Draußen musste ich erst einmal durchatmen. Ich fuhr mir über das Gesicht und spürte Nässe unter den Fingerkuppen. Tränen. Die Anspannung der letzten Tage und Wochen brach sich Bahn. Nach Entführung, Gefangenschaft und Flucht fühlte ich mich ausgebrannt.

Ich wollte nur noch zu Theresia. Sie drücken, fest in die Arme ziehen, wissen, dass es ihr gutging, besser als mir.

Mit all meiner Kraft konzentrierte ich mich auf Vitus. Wünschte mir, an seiner Seite zu sein, um mit ihm durch den Nebel gehen zu können. Stellte mir sein Gesicht vor, versuchte, seine Energie zu erspüren. Nichts geschah. Stattdessen hörte ich den Schrei eines Mannes aus der Hütte.

Instinktiv eilte ich an Veiths Bettstatt. Er hatte das Bewusstsein verloren und war schweißüberströmt. Trotz meines Ärgers über ihn tupfte ich sanft den Schweiß ab und legte wieder meine Hände auf seinen Brustkorb. Diesmal pochte das Herz schwach und unregelmäßig. War es mir möglich, meine Energie an ihn zu senden, wie er mir die überflüssige Kraft auf der Burg des Fürsten abgesaugt hatte? Erneut schloss ich die Augen und stellte mir vor, meine Lebenskraft sei eine leuchtende, große Kugel, die ich in zwei kleinere Kugeln spaltete und durch meinen Körper in die Hände wandern ließ. Dort verwandelte sich die Leuchtkugel in einen Schwarm Glühwürmchen, die von meinen Handflächen in seinen Körper strömten. Veiths Herzschlag normalisierte sich.

Ich musste weg von diesem Krankenlager. Erschöpft stolperte ich zu Helges Verschlag und klopfte heftig, bat ihn, sich um Veith zu kümmern und verschwand im Wald.

Die Elfe

Diesmal war ich vorsichtig, als ich meine nackten Zehen in die Timella tauchte. Ansphals Häscher sollten mich kein zweites Mal aufgreifen. Doch am Fluss herrschte selige Stille. In den Ästen der Bäume zwitscherten ein paar Kohlmeisen und das Plätschern des Wassers wirkte besänftigend auf meine gereizten Nerven. Ich spürte, wie die Spannung aus meinen Schläfen wich und ließ mich zurück ins Gras fallen wie schon einmal vor wenigen Stunden.

Immer noch Frühling. Die Luft war warm, der Nebel hatte nicht so viel Macht über den Ikenwald, wie im Herbst und im späten Winter, wenn seine Schwaden fast überall nach den Seelen der Verdammten zu greifen drohten. Doch seit ich ihn durchquert hatte, fürchtete ich ihn nicht mehr so sehr, weil ich wusste, dass der Brodem nicht allmächtig war.

Ein Geräusch in den Sträuchern auf der anderen Flussseite ließ mich träge die Augen aufschlagen. Es war kein Reiter und kein Räuber, das spürte ich. Vielleicht ein Fuchs oder ein Kaninchen.

Doch als meine Augen die Büsche durchforsteten, starrte mir ein anderes menschliches Augenpaar entgegen. Riesig und wasserblau. Die Elfe!

Ich hatte die engelsgleich schöne Frau mit dem hellen Haar fast vergessen über die aufregenden Erlebnisse der letzten Monate hinweg. Sie musste es sein, nach der Ansphal seit Jahrhunderten suchte.

Zurückhaltend wedelte ich ihr mit einem Farn zu. Sie zuckte zusammen wie ein scheues Reh. Offensichtlich war sie neugierig genug, mich beobachten zu wollen, hatte aber gehofft, ihrerseits ungesehen zu bleiben. Wenn ich zu ihr ginge, auch wenn ich mich ihr langsam näherte, würde sie zweifelsfrei davonstürmen.

Meine Finger strichen gedankenverloren durch das Moos am Ufer, aber ich ließ meinen Blick nicht von ihr.

‚Wäre ich nur auf der anderen Seite des Ufers,‘ dachte ich, und plötzlich war ich es. Auf der anderen Seite, mitten im Gebüsch, nur eine Handbreit von der Frau entfernt. Ein leises Fiepen entrang sich ihrer Kehle. Sie stolperte rückwärts und drohte in die Dornenhecke zu stürzen. Im letzten Moment bekam ich ihr Handgelenk zu fassen und bewahrte sie vor dem Sturz.

„Beruhige dich“, beschwor ich sie. „Ich will dir nichts Böses.“

Gehetzten Blickes sah sie sich um und riss an ihrem Handgelenk, das ich noch immer hielt. Aber solange sie noch flüchten wollte, ließ ich sie nicht los und ich war stärker als sie. Doch da war meine Hand unversehens leer. Von der Frau keine Spur mehr.

Aha! Sie war nicht so unbedarft, wie sie aussah. Die Frau wusste, wie sie sich von einem Ort zum anderen transportierte. Was nun? Mein Instinkt rührte sich. Ich rieb die Handflächen aneinander, als müsse noch ein wenig Feenstaub an ihnen sein und der zarte Duft von Rosen stieg mir in die Nase. ‚Zu ihr‘, dachte ich, ‚ich will zu ihr!‘

Die mich umgebende Luft wurde kühl, das Sonnenlicht verschwand bis auf einen zarten Schimmer, der auf die Steinwände fiel, die mich umgaben. Über mir drückten Felsen und die Arme ausstreckend konnte ich auch nur Steinwände berühren. Ich befand mich in einer der Höhlen, mitten in einem mannshohen Gang. Von der Frau keine Spur. Etwas in mir drängte mich, tiefer in das Gewölbe zu steigen, wo Lichtschimmer zu erahnen waren. Hier und da glänzte Erz in den verschiedenen Gesteinsschichten, doch bisher schien noch niemand den Versuch unternommen zu haben, sie abzubauen.

Nach etwa zweihundert Fuß öffnete sich der Gang zu einem größeren Gewölbe, dessen Anblick mir den Atem raubte. In den Felsen war eine Feuerstelle eingehauen, einem Kamin ähnlich, in dem ein lustiges Feuerchen knisterte, das nirgendwohin abziehen konnte.

Und doch war der Raum klar und nicht von Rauch kontaminiert. Zauberei! Auf dem Boden vor der Feuerstätte lag ein Bärenfell wie dasjenige im Gemach des Fürsten von Ansphal, aber ohne den erschreckenden Kopf mit dem gefletschten Raubtiergebiss. Zur Linken befand sich ein mit Fellen bedecktes Bett, das über eine Leiter bestiegen wurde, ebenso wie jenes, in dem ich in der Burg genächtigt hatte. Nur der Himmel war mit rotem Samt und nicht mit blauem bezogen. Auf der rechten Seite gab es einen massiven Tisch aus dunklem Eichenholz, eine schwere Bank und einen einzigen Stuhl, dessen hochgezogene Lehne mit Stoff bezogen war. Inmitten dieser Pracht stand die Waldelfe und starrte mich entsetzt an.

„Wie konnte Sie mich finden? Wie konnte Sie hier eindringen?“, krächzte sie mit einer hohen Stimme, die sich anhörte, als habe sie sich gerade von einer schweren Halsentzündung erholt.

„Fürchtet Euch nicht“, beschwor ich die Dame und musste ein Schmunzeln unterdrücken, als mir bewusstwurde, dass ich die Worte des Verkündigungsengels benutzt hatte, die er zu Maria sprach, als er ihr die frohe Botschaft verkündete. Meine Botschaft war mehr unglücklicher Natur.

Aufgrund des Fehlens von jeglichem Sonnenlicht, hatte ich die verstrichene Zeit nicht einschätzen können und stand in finsterer Nacht, als ich Agatha verließ. Noch immer umwehte mich ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit, endlich jemanden gefunden zu haben, der mich verstehen konnte. Agatha, Fürstin von Ansphal, war wie ich eine Mutter gewesen und auch wenn uns vierhundert Menschenjahre trennten, waren wir doch beide Frauen. Eine rare Spezies in dieser Welt.

 

Obwohl ich tief in wohligen Gedanken versunken war, befiel mich plötzlich ein Unbehagen. Durch die Kronen der Eichen und Buchen fiel fahles Mondlicht, das mir half, mich gut orientieren zu können. Der Weg würde noch zweimal abknicken, bis ich zur Siedlung der Räuber kommen würde. Vor mir befanden sich drei gut hüfthohe, dornige Sauerdornbüsche, die meine Aufmerksamkeit erregten. Irgendetwas, oder irgendjemand lauerte dahinter.

Ich ballte die Hände zu Fäusten bis sich meine Nägel in die Handflächen gruben. Ein Überfall? Ich verspürte keine Angst. Ich würde mich einfach entmaterialisieren, sobald jemand mich angriff.

Mittlerweile fühlte ich mich nicht mehr schutzlos und nur ein Angreifer wie Vitus würde mich aufhalten können. Leise schlich ich mich auf die Dornen zu.

Im Mondschein erkannte ich eine zusammengekauerte kleine Person auf dem Waldboden. Ein blasses, tränenüberströmtes Gesicht blickte zu mir auf.

„Luis?“, flüsterte ich und ließ zwischen meinen Händen eine Flamme entstehen. Das schwache Licht bestätigte meinen Verdacht. Luis hockte dort vor mir und wimmerte tonlos. Vorsichtig schob ich mich an den Sträuchern vorbei und ließ mich neben dem kleinen Jungen auf den Boden gleiten.

Verschämt rieb er sich die Augen an den schmutzigen Ärmeln seines Kittels trocken. Noch immer schüttelten lautlose Schluchzer seinen mageren Körper.

Vorsichtig strich ich ihm über sein struppiges Haar.

„Was hast du denn?“

„Ich habe Angst“, wisperte er.

„Angst?“

„Vor Irmer. Wenn er Herr der Jagd wird, wird er mich quälen …“

Kalte Schauer liefen mir über den Rücken.

„Was redest du denn da? Warum sollte Irmer …“

Ein schrecklicher Gedanke sauste durch meinen Kopf.

„Ist Veith etwa … ist Veith etwa tot?“

Nachdem ich ihn am Mittag verlassen hatte, war ich sicher gewesen, dass er stabil gewesen war und hatte meinen Gedanken verboten, um den Verletzten zu kreisen. Doch Luis schüttelte den Kopf und zu meiner eigenen Überraschung verspürte ich Erleichterung.

„Nein, noch nicht. Aber er hat so viel geblutet. Das kann doch keiner überleben, oder? Und so lange er schwach ist …“

„Glaubst du, einer der Räuber könnte die Chance nutzen und ihn töten?“

Der Junge nickte. Impulsiv zog ich das Waisenkind in eine feste Umarmung. Ich wollte ihn fragen, ob es eine Rolle spielte, ob Veith oder irgendein anderer der Anführer der Wilden Jagd war, aber Luis war ein kleines Kind, auch wenn er bereits dreißig Jahre oder länger im Ikenwald existierte. Vielleicht lag seine Existenz nicht nur in seiner Schläue und der Eigenschaft, in der Menge zu verschwinden. Vielleicht hielt Veith auch seine schützende Hand über das Kind, wie er es bei mir tat. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich glauben sollte. Veith war kalt, rücksichtlos und gefährlich und doch war Irmer unbestreitbar das größere von zwei Übeln.

„Na komm.“

Ich rappelte mich auf und zog den Jungen hoch, meine Finger noch immer in seinem verfilzten Haar vergraben. Seine Nähe tat mir gut.

„Sehen wir nach unserem Patienten. Wir werden ihn schon daran hindern, seine Pflichten zu vernachlässigen.“

Luis schniefte und murmelte ein getröstetes „Ja“ in meinen Rock. Plötzlich zog er mich an meiner Hand nach unten. „Petto“, flüsterte er so leise, das ich das Wort eher ahnte als hörte. „Er hat Veiths Rücken freigehalten.“ Einen Moment schwieg er. „Ich habe gesehen, wie Irmer Petto gestoßen hat, und dann … war er weg.“

Ich spürte, wie alle Farbe aus meinem Gewicht wich. Wenn Irmer Petto gezielt ein Messer in den Körper gestoßen hatte, war er sofort zu Staub zerfallen. „Hat Irmer auch Veith …?“

Luis schüttelte den Kopf. „Da waren viele von Simons Männern. Es war ein furchtbares Gedrängel. Ich saß oben im Baum …“

Fest drückte ich den Jungen an mich. Was sollten wir schon tun? Aber ich würde es nicht vergessen. Irmer hatte Petto hinterrücks ermordet. Und vielleicht hatte er es auch auf Veith abgesehen.

Der Verletzte war nicht allein. An seinem Bett saß Helge auf einem der beiden Holzstühle, die an den Kopfseiten des Esstisches standen. Er war eingeschlafen und sein Kopf in den Nacken gefallen. Bei jedem Schlucken bewegte sich der große Adamsapfel an seiner Kehle auf und ab und immer wieder zuckte er im Traum zusammen und seine Lider mit den spärlichen, grauen Wimpern flatterten. Zweifellos hatte ihn ein Alp im Griff.

Routiniert ließ ich mit einer Handbewegung die fast geschmolzene Kerze in der Wandhalterung wieder auf Handbreite anwachsen und vergrößerte ihre Flamme, um mich im Raum besser umschauen zu können. Luis schnappte hörbar nach Luft.

Ich hatte das Kind komplett vergessen und die nachlässige Demonstration meiner Kunst hatte ihn erschreckt. Veith zeigte seinen Männern niemals öffentlich sein Können, das hatte er nur vor Ansphal getan. Beruhigend lächelte ich dem Jungen zu, als sei nichts Besonderes geschehen und legte meinen Zeigefinger an die Lippen, um ihm Schweigen zu bedeuten. Dann ließ ich mich an Veiths Bettseite auf den Knien nieder. Unter meinen Fingern fühlte sich seine Stirn kalt und klamm an. Angesichts seines aschgrauen Gesichts, von dem sich die Narben nur blass abhoben, beruhigte mich das Fehlen des Fiebers nicht. Nur ganz schwach trat Atem zwischen seinen leicht geöffneten Lippen hervor.

„Luis? Würdest du mir Wasser vom Brunnen holen?“

Der Junge nickte eifrig und lief los. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen, was Veith leicht zusammenzucken ließ, da schob ich die Decke von seinem Oberkörper und legte meine Handflächen auf seine Haut. All meine Konzentration legte ich in meine Gedanken und flüsterte: „Was an dir versehrt, was an dir versengt an Knochen oder Fleisch ist, das soll unser guter Gott heilbringend wieder zusammensetzen. Haut an Haut, Blut an Blut, Sehne an Sehne.“

Eine berauschende Wärme strahlte durch meinen Körper, strömte durch meine Finger in seine Brust. Fast glaubte ich einen Strom goldener Pollen zu sehen, die kraftspendend in die Wunde flogen. Alle Kraft schien mich zu verlassen und ich sackte an der Bettkannte zusammen.

Wahrscheinlich vergingen nur wenige Momente, als ich Luis rufen hörte. „Hier ist das Wasser! Was soll ich damit machen?“

Ich spürte, wie eine Hand, die mein Haar gestreichelt hatte, von meinem Haupt verschwand und hob jäh den Kopf zu Veiths Gesicht. Mir war immer noch ganz schwindelig und ich musste meine Finger in das Laken unter ihm krallen, um nicht wieder die Besinnung zu verlieren. In meiner Mattigkeit sah ich in ein ganz fremdes Gesicht. Zwei Augen blickten mich wach unter dichten, dunklen Wimpern an. Die gerade Nase und das kräftige, stoppelbärtige Kinn waren mir wohlbekannt, aber nicht die markanten, narbenlosen Wangen. Erschrocken schnappte ich nach Luft und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, bevor ich endgültig zur Seite kippte und mein Kopf auf dem Boden aufschlug.

„So haben wir nun wohl zwei Kranke zu pflegen“, hörte ich Helges meckerndes Lachen.