Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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Veza Canetti zwischen Leben und Werk
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Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

Netzwerk-Biografie

Für Stefan, Salome, Medea

Impressum

© 2020 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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ISBN 978-3-7065-6074-0

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,

Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner nach einem Entwurf von Stefan Häuselmann

Umschlagbild: Modulat 2001 der Schweizer Künstlerin Andrina Jörg

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

Einleitung

A. Familienkosmos in Wien

A1. Familienkosmos am Kanal: Radetzkyplatz – Praterstern

A2. Wichtige Figuren des Familienkosmos

A2.1 Die Mutter Rahel Calderon

A2.1.1 Der Vater Hermann Taubner

A2.1.2 Der Stiefvater Menachem Alkaley

A2.1.3 Zwei Halbbrüder

A2.1.4 Der Paranoiker

A2.2 Die Grosseltern mütterlicherseits

A2.3 Die Geschwister der Mutter Rahel Calderon

A2.3.1 Die Onkel Jacques J. und Moritz J. Calderon

A2.3.2 Die Schwestern Calderon

A3. Freundschaften aus Kindheit und Jugend

A3.1 Gerti Spitz

A3.2 Alice Asriel

A4. Quellenlage zu Kindheit und Jugend

ZWISCHEN: Der linke Unterarm – ein Tabu?

B. Von der Universität zur Berufstätigkeit

B1. Englisch an der Universität Wien

B2. Universitätsbibliothek

B3. Übersetzerin

B4. Englischlehrerin

B5. Fremdsprachenkorrespondentin

B6. Lektorin

B7. Mitarbeiterin der Arbeiter-Zeitung

C. Frühe Freunde: die Asriels und die Waldingers

C1. Die Asriels und Fredl Waldinger

C2. Die Felonen: junge Intellektuelle im Hause Asriel

C2.1 Sport versus Selbstmord

C2.2 Hans Asriel

C2.3 Ernst Waldinger

C3. Die Asriels und die Mahler-Kreise

C4. Die Frauen der Felonen und die Psychologie

C5. Die Asriels – mehr als ein Treffpunkt

ZWISCHEN: Von Wera Figner zu Kaspar Hauser: „Sie ist nun zur Künstlerin geworden.“

D. Salon Camilla Spitz

D1. Der Salon Spitz: Veza – ein Bild

D2. Die Gäste des Salons Spitz

D2.1 Grete Wiesenthal, Hugo von Hofmannsthal

D2.2 Richard Billinger und seine Freunde Csokor, Zuckmayer

D2.2.1 Franz Theodor Csokor: rote oder gelbe Strasse

D2.2.2 Carl Zuckmayer, Alice Herdan-Zuckmayer

D2.3 Die Schwarzwaldschule – ein Kontrapunkt zum Salon Spitz

D2.4 Die von Karl Kraus Verbannten im Salon Spitz

D2.4.1 Imre Békessy und die Tageszeitung Die Stunde: das Letztpublikationsorgan

D2.4.2 Anton Kuh – Die Affenoper

D2.4.3 Felix Salten – Der Sieger

E. Salons – Künstlerzirkel

E1. Bohèmenhafter Künstlersalon Trude Schmidl-Waehner

E2. Officina Vindobonensis

E3. Salon der Alma Mahler

F. Angelpunkt Vorlesung Karl Kraus

ZWISCHEN: Pseudonym – oder die Gefangene der eigenen Identität

Z1. Das Pseudonym Veza Magd

Z2. Die Pseudonyme mit dem Namen Murner

Z3. Von Veronika Knecht zu George Brand

Z4. Schnittstelle Pseudonym/Ghostwriting

G. Sozialistischer Freundes- und/oder Arbeitskreis in Wien

G1. Verschollener Kaspar-Hauser-Roman

G1.1. Zeit und Blickwinkel: der Fokus Grünewald

G1.2. Nachträgliche Konstruktionen für die Entstehung der Blendung

G1.3. Die eine Hand des Gelehrten und der Widerstand gegen Kleopatra

G1.4 Die Verkleidung der Dame mit Namen Brand von Alexandria

G1.5. Dostojewski und die persönliche Verstrickung

G1.6 Vom Woyzeck-Vergleich zu den akustischen Masken

G1.7 Der Dichter als Fälscher

G1.8 Entstehung der Komödie der Eitelkeit

 

G2. Publikationsorte und ihre Personenkreise

G2.1 Netzwerk Arbeiter-Zeitung

G2.1.1 Ernst Fischer und die Arbeiter-Zeitung

G2.1.2 Die Arbeiter-Zeitung und Käthe Leichter, Otto Leichter

G2.1.3 Die Arbeiter-Zeitung und Dr. König

G2.1.4 Die Arbeiter-Zeitung und Alfred Grünewald

ZWISCHEN: von der sozialistischen Buchhandlung zu den Nürnberger Protokollen

G.2.2 Publikationen in Zeitungen ausserhalb Österreichs

G2.2.1 Berlin am Morgen

G2.2.2 Deutsche Freiheit

G2.2.3 Der Republikaner

G2.3 Der Malik-Verlag und seine Personenkreise

G2.3.1 Dichterin im Malik-Verlag

G2.3.2 Lektorin und Übersetzerin im Malik-Verlag

G.2.3.3 Ludwig Hardt

G3. Erste Lesung: Volkshochschule Leopoldstadt 12. Februar 1933

G3.1 Dichter werben Dichter

G.3.2 Schmelztiegel Volkshochschule Zweigstelle Leopoldstadt

G3.3 Volkshochschule – Wiener Kreis – Austromarxismus

G4. Kommunistische Freunde: von den Asriels zum Treffpunkt Ober St. Veit

G4.1 Theodor Waldinger

G4.2 Fritz Jensen/Jerusalem, Ruth Domino/Tassoni

G4.3 Walter Hollitscher, Eduard März

G5. Letztpublikationen im Jahre 1937

ZWISCHEN: Der rote Faden oder der Dichter als Hund seiner Zeit

Z1. Der Dichter als Hund seiner Zeit

Z2. Die Theaterstücke: Der Oger, Der Tiger

Z3. Der verschollene Roman Die Geniesser – der Dichter als Hund seiner Zeit

H. Die letzten zehn Jahre in Wien – Familie, Freunde

H1. Familienkosmos Ferdinandstrasse bis Herbst 1935

H1.1 Elias Canetti: vom langjährigen besten Freund zum Ehemann

H1.1.1 Die volle Wahrheit über unsere Beziehung

H1.1.2 Die Tafeln am türkischen Tempel

H1.1.3 Mein intimster literarischer Freund

H1.1.4 Spielraum und Freiheit – eine Dichterin dazu

H1.2 Mutter und/oder Madonna

H1.3 Koproduktion, Ghostwriting, Übersetzen, Literaturagentin

H2. Familienkosmos Grinzing Himmelstrasse bis Herbst 1938

H2.1 Die Sorge um den Lebensunterhalt – ich koste gar nichts

H2.2 Die Helfer in der Not: Morris Calderon und Georges Canetti

H2.3 Ich nehme für Canetti jedem Menschen Geld weg

H2.4 Intermezzo Gersbergalpe: von der Tabula rasa zum Bankbuch

H2.5 Die Familie Canetti/Arditti – der Wandel

H2.5.1 Von der Burton Road Manchester zum Café Prückel

H2.5.2 Mathilde Canetti in Paris

H2.5.3 Der Schwager Georges, ein ewiger Wert

H3. Die Freundeskreise Ferdinandstrasse-Himmelstrasse

H3.1 Heimito von Doderer – dicke Damen vs. Mary K.

H3.2 Hugo von Hofmannsthal – Idol der expressiven Schwärmer

H3.3 Hermann Broch

H3.3.1 Hermann Broch – ein Interdiskurs

H3.3.2 Hermann Broch – ein alter Bekannter

H3.3.3 Hermann Broch – Der Dichter als Hund seiner Zeit

H3.3.4 Hermann Broch – das gefragte Urteil Veza Canettis

H3.4 Die Kreise um Hermann Broch

H3.4.1 Von Ea von Allesch zu Alice Schmutzer

H3.4.2 Dr. Sonne, ein rechter Zionist?

H3.5 Soma Morgenstern – Literaturagentin oder Pesje

H3.6 Veza-Canetti-und-Anna-Mahler-Kreis

H3.6.1 Die Wurzeln der Kreise um Veza Canetti und Anna Mahler

H3.6.2 Die beste Freundin – eine Lichtgestalt

H3.6.3 Das Kreiszentrum – Kultur und/oder Politik?

H3.6.4 Die Kreisperipherie

H3.7 Sozialistische Freunde über den Februar 1934 hinaus

H3.8 Der Zeitungsverleger Jean Hoepffner

J. Flucht und erste Exiljahre in London

J1. Das Netz in die Sicherheit – (wilde) Spekulationen

J2. Exil bis 1945: alte und neue Netzwerke

J2.1 Selbstanalyse der Lebensbedingungen und Netzwerke

J2.2 Die Netzwerke zu den Wohnorten während des Krieges

J2.2.1 King Henry’s Road

J2.2.2 Amersham

ZWISCHEN: Dichterin im Exil – Hoffnung auf Erfolg

Z1. Als Dichterin in England Fuss fassen vs. alte Kontakte in Wien aktivieren

Z2. Der Seher und seine exemplarische Publikationsgeschichte

Z3. Der Seher, das spanische Korpus und die Dichtergattin

Z4. Das Verschwinden aus den Literatenkreisen

Z5. Vom spanischen Korpus über Die Flucht vor der Erde zu Der letzte Wille

K. Die Netzwerke im Exil nach dem Zweiten Weltkrieg

K1. Entwicklung der Freundeskreise aus Wien in London

K2. Familienkosmos im Exil

K2.1 Die neue alte Rolle als Ehefrau von Elias Canetti

K2.1.1 Scheidung oder nicht

K2.1.2 Sekretärin und Literaturagentin für Elias Canetti

K2.2 Georges Canetti

K2.3 Die Verwandten in England

K2.3.1 Der Bruder Morris Calderon

K2.3.2 Alice Asriel und ihre Verwandten in England

K2.3.3 Veza Cansino-Calderon – Manchester/New York

K2.4 Die Verwandten in Österreich, in Sofia und in Amerika

K3. Aktivierung der alten Wiener Netzwerke/Freundschaften

K3.1 Sozialistische Freunde aus Wien

K3.2 Die Künstler- und Dichterfreunde aus Wien

K4. Veza Canettis Literaturdrehscheibe in London

K4.1 Übersetzerin

K4.2. Lektorin, Editorin

K4.3 Texterin für illustrierte Kindergeschichten

K4.4 Literaturagentin

K4.5 Aktivierung der alten beruflichen Netzwerke

K5. Neue Freundschaften – ein Netzwerk?

ZWISCHEN: Misserfolg des Eigenen – Erfolg mit Ghostwriting

Z1. Misserfolg mit dem Eigenen

 

Z1.1 Erfolglos: die Rolle von Ingeborg Bachmann

Z1.2 Erfolglos: die Rolle von Rudolf Hartung

Z1.3 Erfolglos: Agentur Kalmer und weitere

Z2. Erfolg mit Ghostwriting

Z3. Zusammenarbeit und Zusammenbruch versus Co-Autorschaft

L. Der Tod: kein Netzwerk

Kurzbiografie

Danksagung

Bibliografie

Personenregister

Einleitung

Aus den Recherchen im Elias-Canetti-Nachlass und in verschiedenen Archiven Wiens, aber auch Deutschlands zum Thema Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus hat sich eine so grosse Fülle von biografischem Material, Veza Canetti betreffend, ergeben, dass sich das Schreiben einer Biografie geradezu aufgedrängt hat.

Bereits die Korrespondenz Veza Canettis sowie verschiedenes Material aus dem Nachlass von Elias Canetti – der auch den Nachlass von Veza Canetti beinhaltet – offenbart, dass die Autorin schon vor ihrer Zeit mit Elias Canetti mit der Künstler- und Dichterszene Wiens eng verknüpft war. Diese Nähe kann aber auch intertextuell nachgewiesen werden, wie unter anderem Veza Canettis gesellschaftskritische Aufarbeitung von Franz Csokors Theaterstück Die rote Strasse im Roman Die Gelbe Strasse zeigt. Veza Canetti hat sich intertextuell zudem mit Texten von Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch sowie Karl Kraus auseinandergesetzt.

Genau diese Art von vorhandenem Material, deren Kern immer auf ein In-Beziehung-Treten Veza Canettis zu anderen Künstlern und ihrem Werk hinweist, hat mich dazu bewogen, eine Netzwerk-Biografie zu schreiben. Überdies hat Veza Canetti mit dem Theaterstück Der Tiger und dem Lustspiel Der Palankin selbst Künstler- und Dichternetzwerke in den Städten Wien und London dargestellt.1

Die vorliegende Arbeit fügt sich in eine Reihe von Forschungsarbeiten ein, die zur Dichterin seit ihrer Wiederentdeckung – knapp dreissig Jahre nach ihrem Tod – anfangs der 90er Jahre erstellt wurden. Eva M. Meidl hat im Band Veza Canettis Sozialkritik der revolutionären Nachkriegszeit schon 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass Veza Canetti als Produkt des Roten Wien bezeichnet werden kann. Angelika Schedel verknüpft in ihrer Dissertation von 2002, Sozialismus und Psychoanalyse, bereits ein erstes Mal Leben und Werk der Autorin, ihr gelingt damit ein Quantensprung bezüglich Material und Einordnung. Das Dossier 24 aus dem Verlag Droschl mit dem Titel Veza Canetti versammelt 2005 Aufsätze verschiedener Forscherinnen zur Schriftstellerin, sie wird darin als eine Autorin der Moderne bezeichnet und zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressionismus positioniert. Julian Preece geht 2007 in The Rediscovered Writings of Veza Canetti schon von einer literary partnership von Elias und Veza Canetti aus. Meine eigene Dissertation aus dem Jahr 2017, Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, zeigt die verschiedenen Ebenen der Beziehung Veza Canettis zum Roten Wien – vom Empiriokritizismus eines Otto Neurath zu den Sozialwissenschaften Käthe Leichters, zur Individualpsychologie von Alice Rühle-Gerstel und weiter zur austromarxistischen Literaturtheorie Ernst Fischers.

Die Grundstruktur der vorliegenden Netzwerk-Biografie zu Veza Canetti bilden Konvergenzpunkte als soziale Räume oder Felder, deren Akteure sich als Positionen und Disposition dialektisch lesen lassen. Es handelt sich um Räume oder Grossstrukturen, in denen sich die Autorin bewegt hat. Es sind in erster Linie deren zwei, die Vorkriegsräume (vor dem Zweiten Weltkrieg) und die Exilräume, die unterschiedlicher nicht sein können.2

Die beiden Grossräume werden in je kleinere Räume oder Felder nach Massgabe der Quellen unterteilt und in der kontroversen Dialektik der Akteure gelesen, das heisst, die Räume werden aufgrund ihrer Kontroversität diskursiv herausgearbeitet. Differierende Lesarten der Quellen und Polyfokalität sind Programm des Vorgehens. Temporale Vor- und Rückgriffe werden gezielt eingebaut.

Dabei dienen zeittypische Erzählmuster als Folie sowie künstlerische Handlung als Reaktion auf historisch und milieubedingte Mechanismen.3 Im Zentrum steht dabei die Frage, was die Lebenswirklichkeit und die inszenierte Wirklichkeit unterscheidet.4 Schon aufgrund der Komplexität der Quellenlage ist dies keine einfache Frage. Beispielsweise äussert sich Elias Canetti zu verschiedenen bedeutenden Stationen im Leben von Veza Canetti zum Teil ganz divergent. Der grösste Unterschied ergibt sich zwischen den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis, aber auch die Aufzeichnungen, Notizbücher weisen je nach Lebensalter des Autors, in dem sie geschrieben wurden, grosse Differenzen auf. Als diskursives Korrektiv von Lebenswirklichkeit und inszenierter Wirklichkeit bei Elias Canetti dienen die Briefe von und an Veza Canetti aus verschiedenen Archiven sowie das erzählerische Werk Veza Canettis selbst. Mit einer gezielten Montagetechnik von Zitaten – einem Vorgehen, wie Veza Canetti es selbst in ihrem literarischen Werk anwendet – soll das Netzwerk der Autorin im Sinne einer Netzwerk-Biografie sichtbar werden.

Da die Werkgrenzen von Veza Canetti mit den vielen fliessenden Übergängen zu Ghost-Writing noch nicht klar definiert werden können – ein Forschungsdesiderat –, hat sich eine Ironisierung der Forderung „Eine kritische Biographie aber muss zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ genauer unterscheiden, als es den Hermeneutikern notwendig erscheinen mag“5 geradezu aufgedrängt. Die schillernde Ambiguität dieses Zwischen wird in der vorliegenden Netzwerk-Biografie als Ort definiert, an dem das gesamte offizielle und nichtoffizielle Werk von Veza Canetti zu entdecken ist – ein Tabu.

A. Familienkosmos in Wien

Nicht nur entwicklungspsychologisch vertretbar, sondern auch konkret nachweisbar haben viele der Netzwerke von Veza Canetti ihren Ursprung in der Grossfamilie mütterlicherseits, den Kalderon oder Calderon, einfachheitshalber in der vorliegenden Arbeit als Familienkosmos bezeichnet.

Viele Paradigmen der Kindheit Veza Canettis lassen sich nur indirekt über den Familienkosmos erschliessen, da es sehr wenig direkte Zeugnisse/Quellen zur Kindheit der Autorin gibt.

Veza Canetti wird am 21. November 1897 als Venetiana Taubner (Veza Taubner) in Wien geboren. Die kurz zuvor gegründete Familie würde heute als Patchworkfamilie bezeichnet werden. Mutter und Vater bringen je einen Sohn im Teenageralter in die Ehe mit ein. Die Mutter, Rahel Calderon, war in erster Ehe mit Heinrich M. Calderon, einem türkischen Grosshändler, verheiratet gewesen, die Ehe wurde möglicherweise 1892 geschieden, wie ein schlecht lesbarer Eintrag in die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien zeigt. Ihr Sohn aus dieser Ehe ist der dreizehnjährige Morris H. Calderon6. Der Sohn von Hermann Taubner mit dem Namen Wilhelm ist zwölf Jahre alt.7 Die neugegründete Familie, deren Wurzeln in die verschiedenen Teile, ja Ränder der Donaumonarchie reichen – für die Stadt Wien um die Jahrhundertwende nichts Ungewöhnliches –, wohnt vorerst in der Unteren Viaduktstrasse 23, im III. Bezirk. Schon bald aber wird auf die andere Seite des Kanals, an die Czerningasse 14, gezügelt, dann wieder über den Kanal an die Radetzkystrasse 3, in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes.8 Hier, in grosser Nähe zu den Grosseltern mütterlicherseits, die an der gleichen Strasse in Nummer 13 wohnen, bleibt die Familie bis 1900. Danach geht es auf die gegenüberliegende Seite des Donau-Kanals, in die Tempelgasse 6,9 wenige Schritte vom späteren Wohnsitz Ferdinandstrasse 29 entfernt. Bis zum Alter von drei Jahren hat das Kleinkind Veza Taubner also bereits drei Mal die Wohnung und drei Mal die Kanalseite gewechselt.

Am 1. Dezember 1904 stirbt Veza Taubners Vater in Belgrad im Alter von 57 Jahren; über die genauen Umstände seines Todes und ob er in Belgrad in seinem Beruf als Reisender tätig gewesen war, ist nichts bekannt. Im darauffolgenden Jahr 1905 wechselt Veza Taubners Mutter noch einmal die Kanalseite und wohnt nun wiederum in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Matthäusgasse 5.

Erst im Jahr 1911 wird Rahel Calderon ein letztes Mal die Kanalseite wechseln und in die Leopoldstadt, Ferdinandstrasse 29, 5. Stock ziehen. Aus der Matthäusgasse 5 wird sich ein Menachem Alkaley ebenfalls in die Ferdinandstrasse 29 abmelden.10 Dieser Sachverhalt entspricht exakt den Beschreibungen der Ich-Erzählerin in der Kurzgeschichte Geld-Geld-Geld von Veza Canetti. Erhält da das erzählende Kind doch einen Stiefvater, der gleichzeitig den Untermieter in der Wohnung der Mutter ersetzt. Erst Wochen später zieht die Familie in eine grössere, bessere Wohnung, das wäre in Veza Taubners realer Welt dann die Wohnung in der Ferdinandstrasse 29.

Elias Canetti wird in den Aufzeichnungen von 1971 schreiben: „Vezas Kindheit wird nie geschrieben werden, und nur ihre wäre es wert gewesen.“11

Eine der ganz wenigen direkten Äusserungen Veza Canettis zu ihrer Kindheit stammt aus dem Jahre 1947, sie schreibt diesbezüglich im Londoner Exil: „Warum ich heulte (bei der Hochzeit der Prinzessin Elisabeth, Anm. va)? Weil ich auch einmal eine Prinzessin war. Das war zur Zeit der Monarchie und ich sass jeden Sommer in einer Villa in Ischl und der Kaiser fuhr immer vorbei, und ich winkte und er winkte zurück und meine Mutter war überzeugt es galt mir. Das war jeden Vormittag und ich war sieben Jahre alt.“ (BaG 298) Natürlich kann das als märchenhafte Schwärmerei eines kleinen Mädchens abgetan werden, aber das Setting als Ganzes – Villa in Bad Ischl und die exakte Angabe des Alters mit sieben Jahren – weist darauf hin, dass Veza in sehr gepflegten Verhältnissen aufgewachsen sein muss. Die exakte Altersangabe könnte ein Hinweis darauf sein, dass dies nachher vielleicht nicht mehr immer der Fall war. Denn nur wenige Woche nachdem Veza sieben Jahre alt geworden war, starb ihr Vater.