Invasive Arten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Invasive Arten
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

UTB 3383

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills

facultas.wuv · Wien

Wilhelm Fink · München

A. Francke Verlag · Tübingen und Basel

Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien

Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn

Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart

Mohr Siebeck · Tübingen

Orell Füssli Verlag · Zürich

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Prof. Dr. Wolfgang Nentwig ist Professor für Ökologie am Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern.

1. Auflage 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

UTB-ISBN978-3-8252-3383-9

ISBN 978-3-846-33383-9 (E-Book)

Satz: Verlag die Werkstatt, Göttingen

Umschlagfoto: Walter Ettmüller, CH-Bülach

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2010 by Haupt Berne

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.

www.haupt.ch

UTB-Bestellnummer 3383-9

Hinweis zur Zitierfähigkeit

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl hinter dem im EPUB zusammengeschriebenen Wort.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Warum invasive Arten? Entstehung und Anpassung von Arten

Einheimische Arten, Biodiversität und Koevolution Natürliche Ausbreitung Nicht-einheimische Arten Warum immer mehr nicht-einheimische Arten? Warum werden Arten invasiv? Artenzahlen einheimischer und nicht-einheimischer Arten Neue Wissenschaft

Invasive Arten im Profil 1 - Absichtliche Freisetzung

Haustiere Nutz- und Zierpflanzen Jagdwild, Besatzfische, Krebse Heimtiere und Befreiungsaktionen

2 - Unbeabsichtigte Verschleppung

Blinde Passagiere im Container Verunreinigungen Straßen-, Schienen- und Luftfahrzeuge Schiffe und Schifffahrtswege Krankheiten und Schädlinge in Pflanzenmaterial Mit dem tierischen Wirt Gefangenschaftsflüchtlinge

3 - Beeinträchtigung der einheimischen Biodiversität

Verarmung statt Bereicherung Verdrängung durch Konkurrenz Fressfeinde Krankheitserreger und Parasiten Hybridisierung Umstrukturierung eines Ökosystems

4 - Wirtschaftlicher Schaden

Landwirtschaft Tierische Produktion Waldwirtschaft Infrastruktur Gesellschaftliche Aspekte

5 - Schädigung der menschlichen Gesundheit

Verletzungen und Allergien Krankheitserreger Parasiten

6 - Kontrolle und Bekämpfung

Grundsatz: Saubere Produkte Vorsorgeprinzip Handelsbeschränkungen Bekämpfungsmaßnahmen Ausrottung ist möglich Forschung ist wichtig

7 - Gesetzliche Grundlagen

Internationale Konventionen Europäische Union Nationale Regelungen Verursacherprinzip

Information und Öffentlichkeit

Die öffentliche Meinung Informationssysteme und schwarze Listen

Anhang

Glossar Internetadressen Danksagung Literatur

Register

Warum invasive Arten?

Entstehung und Anpassung von Arten

Die Entstehung von Arten, gleich ob es sich um Mikroorganismen, Pilze, Pflanzen oder Tiere handelt, ist eine Geschichte der Anpassung an die belebte und unbelebte Umwelt. Dies ist aufgrund von zwei wichtigen Eigenschaften aller Arten möglich: Bei der sexuellen Fortpflanzung führt die Rekombination des Genoms schnell zu genetischen Unterschieden zwischen den Eltern und ihren Nachkommen, aber auch zwischen den Nachkommen. Zweitens produzieren alle Arten mehr Nachkommen, als im Lebensraum der entsprechenden Art Platz haben. Die genetischen Veränderungen sind ungerichtet, denn sie können sowohl vorteilhaft als auch nicht vorteilhaft sein. Bei den meisten Veränderungen wird ohnehin weder Vor- noch Nachteil erkennbar sein, das heißt, sie sind (vorerst) neutral. Schließlich sei auch noch erwähnt, dass die Umwelt einer Art nie konstant ist, sondern ständiger Veränderung unterliegt.

Die geringfügig verschiedenen Nachkommen eines Elternpaares haben in einer heterogenen Umwelt unterschiedliche Überlebenschancen. Wenn ein sich verändernder Lebensraum etwas trockener wird, weil ein Fluss seinen Lauf verändert oder der Niederschlag abnimmt, ist es denkbar, dass, um ein Beispiel zu nennen, bei einzelnen Käferindividuen eine bisher unbedeutende Veränderung in der äußeren Schutzschicht den Verdunstungsschutz erhöht. Sie haben daher eine bessere Überlebenschance, erreichen eher das Fortpflanzungsalter und werden über ihre Nachkommen diese Mutation weitergeben. Alle Individuen der gleichen Art ohne diese Mutation werden mehr Mühe haben, sich zu behaupten, vor allem aber wird ihre durchschnittliche Nachkommenzahl geringer sein. Innerhalb weniger Generationen werden daher alle Individuen dieser Käferart über den verbesserten Verdunstungsschutz verfügen.

 

Direkt vorteilhafte Mutationen haben also einen großen Selektionswert, das heißt, sie helfen dem betroffenen Individuum, sich in seiner dynamischen Umwelt zu behaupten. Ähnlich eindeutig verhält es sich mit nachteiligen Mutationen. Sie führen mehr oder weniger direkt zum Tod des Individuums. Von solch nachteiligen Mutationen abgesehen werden jedoch alle anderen Mutationen in der Population behalten und führen zu einer Erhöhung der Variabilität des betroffenen Merkmales. Je größer eine Population und je länger sie bereits in einem bestimmten Lebensraum vorkommt, desto unterschiedlicher werden die Ausprägungen vieler Merkmale sein. Da auch neutrale Merkmale in einer sich ändernden Umwelt von großem Selektionsvorteil sein können, sind sie eine Versicherung für die Zukunft.

Wir können also davon ausgehen, dass in einem beliebigen Lebensraum die dort vorkommenden Arten eine beträchtliche Anpassungszeit hinter sich haben und so gut wie möglich an ihren Lebensraum angepasst sind. Diese Anpassungszeit wird in Mitteleuropa meist auf die Wiederbesiedlung nach dem Rückgang der letzten Vergletscherung vor etwa 12 000 Jahren bezogen. Dies entspricht bei den meisten einjährigen Pflanzen und Insekten genauso vielen Generationen. Da die meisten heute hier vorkommenden Arten aber viel älter sind und die Eiszeiten in verschiedenen Rückzugsgebieten überdauern konnten, kann man deutlich längere Anpassungszeiten annehmen.

Einheimische Arten, Biodiversität und Koevolution

Die in einem Lebensraum entstandenen Arten bezeichnen wir als die dort einheimischen Arten, deren mannigfaltige Ausprägung auch mit dem Begriff Biodiversität umschrieben wird. Neben den vielen Arten eines Lebensraumes schließt die Diversität eines Lebensraumes auch die genetische Vielfalt der Arten ein. Somit ist in die Biodiversität eines Lebensraumes auch sein evolutives Alter bzw. das der in ihm lebenden Arten einbezogen.

Aufgrund der zur Verfügung stehenden Zeit konnten sich die in einem Lebensraum gemeinsam vorkommenden Arten so weit an ihre Umwelt anpassen, wie es erforderlich war, um dort zu überleben. Da neben der unbelebten Umwelt auch alle anderen Arten in diesen Lebensraum gehören, erfolgt auch eine Anpassung der verschiedenen Arten aneinander. Diese kann sehr unterschiedlich sein: Beutetiere können lernen, Räuber zu meiden, die ihrerseits immer besser im Aufspüren ihrer Beute werden. Pflanzenfressende Insekten passen sich immer stärker an ihre Futterpflanzen an, die ihrerseits immer wirksamere Verteidigungssubstanzen synthetisieren, um einige Arten unter ihren Fressfeinden loszuwerden.

Manche Arten gehen noch weiter gehende Beziehungen ein. Unter den Blütenbesuchern kann es zu engen Abhängigkeiten zwischen hoch spezialisierten Blütenpflanzen und ihren Bestäubern kommen. Manche Arten unter den Blattläusen, Zikaden oder Schmetterlingsraupen können nur in enger Beziehung zu bestimmten Ameisenarten überleben. Viele Parasiten haben sich auf eine oder wenige Wirtsarten spezialisiert und unternehmen gewaltige Anstrengungen, um genau diese zu finden. Extreme Abhängigkeitsverhältnisse liegen zum Beispiel bei manchen Bäumen oder Orchideen vor, bei denen eine Pilzart durch die Fotosyntheseprodukte der Pflanze versorgt wird, die ihrerseits vom Pilz Phosphor- und Stickstoffverbindungen bezieht. Kein Partner kann mehr ohne den anderen existieren.

Solche Abhängigkeiten zwischen Arten deuten auf eine lange gemeinsame Entstehungsgeschichte hin, die wir auch als Koevolution bezeichnen. Koevolution weist meist auf artenreiche Lebensräume hin, die sich über längere Zeiträume entwickeln konnten.

Natürliche Ausbreitung

Der Lebensraum von Arten kann unterschiedlich groß sein. Wir kennen Arten, die weit verbreitet beispielsweise über einen ganzen Kontinent vorkommen. Daneben gibt es aber auch viele kleinräumig anzutreffende Arten, die nur in einem Flusssystem, auf einer Insel oder auf einem Höhenzug vorkommen. Diese Arten wiesen in ihrer Vergangenheit eine unterschiedliche Ausbreitungs- und Besiedlungsgeschichte auf. Einzelne Arten haben sich kaum aus ihrem evolutionären Entstehungsgebiet entfernt, während andere sich stark ausbreiteten.

Prinzipiell ist die Ausbreitungsmöglichkeit jeder Art begrenzt. Meeresküsten sind für die meisten Arten des Festlandes Ausbreitungsgrenzen. Gleichermaßen wird die Ausbreitung von Meeresorganismen durch die Lage der Kontinente eingeschränkt. Fließgewässer oder Seen begrenzen das Vorkommen der in ihnen lebenden Arten. Große Gebirgszüge wie die Alpen stellen für viele Arten eine unüberwindbare Barriere dar, Ähnliches gilt für die ausgedehnten Trockenzonen der Sahara in Nordafrika. Zu kalte, nasse oder warme Jahreszeiten können genauso einschränkend wirken wie das Fehlen der Wirtspflanze von Herbivoren oder spezialisierten Blütenbesuchern. Solche Grenzen bezeichnen wir als biogeografische Barrieren, da sie die natürlichen Areale von Arten definieren.

Die Ausbreitung, zu denen Arten im Rahmen dieser Einschränkungen fähig sind, bezeichnen wir als natürliche Ausbreitung. Für unterschiedliche Arten kann sie sehr verschieden sein. Manche nur lokal vorkommenden Arten haben offenbar kein nennenswertes natürliches Ausbreitungsvermögen, d. h., sie breiten sich nicht aus. Andere sehr mobile und oft anspruchslose Arten hingegen konnten ihren Lebensraum über ganz Europa und auch darüber hinaus ausdehnen. Sieht man von besonders mobilen bzw. völlig immobilen Arten ab, ist die durchschnittliche natürliche Ausbreitungsgeschwindigkeit von Arten eher gering. Sie beträgt oftmals weniger als hundert Meter pro Generation, sodass die nacheiszeitliche Wiederbesiedlung Mitteleuropas viele Jahrtausende dauerte und für manche Arten bis heute noch nicht abgeschlossen ist.

Das Ausbreitungsvermögen einer Art ist keine Konstante, da es sich beispielweise mit der Qualität des Lebensraumes ändert. In erdgeschichtlichen Zeiträumen und vor allem bei der nacheiszeitlichen Wiederbesiedlung Europas vergrößerte sich für die meisten Arten mit den klimatischen Bedingungen ihr möglicher Lebensraum und damit auch ihre Ausbreitungsdynamik. Die Verfügbarkeit neuer eisfreier Gebiete nach dem Rückzug der Gletscher führte also bei vielen Arten zu einer Arealausdehnung, die somit als natürlicher Prozess anzusehen ist. Auch die neuzeitliche, fortschreitende Klimaerwärmung führt zur Veränderung der möglichen Siedlungsgebiete zahlreicher Arten. Diese finden nun neue geeignete Gebiete vor, sodass sich ihre Areale verschieben. Manche Arten verschwinden aber auch aus ungeeigneten Randgebieten, d.h., ihr Areal schrumpft. Beides sind natürliche Prozesse, auch wenn die aktuelle Klimaerwärmung überwiegend anthropogene Ursachen hat.

Die Arteninventare eines Lebensraumes und das Areal einer Art unterliegen also einer gewissen Dynamik. Hieraus kann gefolgert werden, dass Einwanderung per se natürlich ist, sofern diese Arten ihr neues Gebiet mit eigener Kraft erreichen, aus europäischer Sicht also bereits in Europa oder den angrenzenden Gebieten vorkommen.

Nicht-einheimische Arten

Im Gegensatz zur natürlichen Ausbreitung von Arten zeichnet sich die Ausbreitung von nicht-einheimischen Arten durch drei Merkmale aus: Sie erfolgt (1) erst durch den Menschen, (2) über biogeografische Grenzen hinweg und (3) innerhalb sehr kurzer Zeiträume. In dem Gebiet, in das diese Arten neu eingeführt werden, sind sie nicht-einheimisch. Dieser Prozess ist Gegenstand dieses Buches.

Als die Menschen im Laufe ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte die Erde eroberten und immer neue Gebiete besiedelten, haben sie absichtlich oder unabsichtlich Pflanzen und Tiere mitgenommen, wodurch diese außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebietes gelangten und dort Fuß fassen konnten. Ursprünglich bezog sich diese Verbreitung von Nutzpflanzen und Nutztieren auf die Nahrungssicherung des Menschen. Passiv wurden jedoch auch Schädlinge der Nutzpflanzen oder Parasiten und Krankheitserreger der Haustiere und des Menschen selbst verbreitet, Vorratsschädlinge und ein breites Spektrum von Arten, die in den Besitztümern der Menschen unerkannt mittransportiert wurden. Im Laufe der menschlichen Ausbreitungsgeschichte erhöhte sich die Zahl dieser Arten immer mehr.

Bei der Eroberung der Welt waren die Menschen, von der Neuzeit abgesehen, auf ihre eigene Kraft angewiesen, d. h., sie gingen zu Fuß. Australien und Amerika konnten nur in einer sehr speziellen eiszeitlich bedingten Phase eines niedrigen Meeresspiegels vor 60 000 bzw. vor 15 000 Jahren erreicht werden. Viele entfernte Inseln konnten gelegentlich mit Booten erreicht werden. Solche Fahrten waren aber gefährlich, und regelmäßige Verbindungen konnten meist nicht aufrechterhalten werden.

Diese Situation änderte sich in Europa mit hochseetauglichen Schiffen und guten Navigationskenntnissen, die ab dem 15. Jahrhundert verfügbar waren. Die frühere Entdeckung Nordamerikas durch die Wikinger (Leif Eriksson um 1000) hatte zu keiner dauerhaften Besiedlung geführt, und Kolumbus entdeckte daher Amerika 1492 zum zweiten Mal, 1498 fuhr Vasco da Gama um die afrikanische Küste bis Indien, wenige Jahre später umrundete Magellan die Erde (1519–1522). In den folgenden Jahrhunderten der Kolonialzeit kam es mit einem immer dichter werdenden Netz von Schiffsbewegungen zwischen allen Teilen der Erde zu immer intensiveren Handelsbeziehungen. Die Phase der Kolonialisierung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) durch die Globalisierung und den Beginn des zivilen Massenflugverkehrs abgelöst (Abb. 1).

Auch wenn erst in unseren modernen Zeiten Arten innerhalb von 24 Stunden weltweit transportiert werden können und sie somit globale Distanzen lebend überdauern, ist es wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass die heutige Dynamik auf Kolumbus zurückzuführen ist, also rund 500 Jahre alt ist. Seit der Entdeckung der Neuen Welt 1492 nahm der weltweite Personen- und Warenverkehr langsam, aber stetig zu, genauso wie die Zahl der nicht-einheimischen Arten, die weltweit transportiert und ausgesetzt wurden. Daher wird dieses Datum, gelegentlich auch auf 1500 gerundet, global als Beginn des Erscheinens von nicht-einheimischen Arten gewertet.

Es ist sinnvoll, solch einen Nullpunkt zu setzen, da man das vergleichsweise neuzeitliche Phänomen der Verschleppung von nicht-einheimischen Arten von den früheren historischen Prozessen trennen möchte. Wenn auch die Römer mit ihren Getreidelieferungen die häufigsten Ackerunkräuter aus dem europäischen Mittelmeerraum in Germanien etablierten, so ähnelt dieser Vorgang doch nur vordergründig dem modernen Transport von Kleesaatgut aus Kanada nach Europa, mit dem ebenfalls die entsprechenden Unkrautarten Kanadas in Europa etabliert wurden. Die zeitliche Grenzziehung bei 1500 zu setzen, könnte willkürlich genannt werden, ist jedoch recht geschickt gewählt. Bei der zeitlichen Analyse des Auftretens nicht-einheimischer Arten stellt man für Europa eine erste Welle neuer Arten zur Zeit des römischen Imperiums fest. Während der nachfolgenden Klimaänderung, die die germanische Völkerwanderung des 4. bis 6. Jahrhunderts und den Zusammenbruch der römischen Weltordnung auslöste (Nentwig 2005), sowie während der fast 1000 Jahre dauernden christlich-feudal geprägten gesellschaftlichen Stagnation im Mittelalter erhöhte sich die Zahl nicht-einheimischer Arten kaum. Mit der dann einsetzenden Renaissance änderte sich die Situation jedoch grundlegend und führte kontinuierlich bis zum heute noch anhaltenden Boom von nicht-einheimischen Arten.


Abb. 1: Zunahme der Anzahl nicht-einheimischer Pflanzen in Abhängigkeit von der Zahl der dauerhaften Siedler auf den Galapagosinseln. Nach Myers & Bazely (2003).

Dem zeitlichen Nullpunkt von 1492 haftet allerdings etwas Künstliches an, und er entspringt eindeutig unserem eurozentrischen Weltbild. Wenn dieser Nullpunkt auch in den weitaus meisten Fällen seine Berechtigung hat und unser Bedürfnis nach begrifflicher Klärung erfüllt, so ist aus ökologischer Sicht eine funktionale Definition eindeutig vorzuziehen. Diese bezieht sich auf die biogeografischen Grenzen zwischen den Kontinenten und das Kriterium der natürlichen Ausbreitung bzw. eigenständigen Erreichbarkeit eines neuen Lebensraumes.

 

Der historische Transport von Arten erfolgte in benachbarte Regionen. Selbst römische Ansiedlungen von Nutztieren und Nutzpflanzen erfolgten meist noch innerhalb von Europa. Im Wesentlichen war es erst ab 1492 möglich, Arten in zunehmend kurzer Zeit über biogeografische Grenzen hinweg zu verbreiten, also etwa von Übersee nach Europa. Somit konnten erst ab 1492 Arten in Lebensräumen erscheinen, in die sie auf natürliche Weise nie gekommen wären. Daher ist es ein prinzipieller Unterschied, ob ein Ackerunkraut von den Römern aus dem Mittelmeerraum nach Mitteleuropa verschleppt wurde oder ob es aus Kanada stammt.

Aus der großen Bedeutung von biogeografischen Grenzen geht hervor, dass es oft wenig sinnvoll ist, das Auftreten einer Art im Nachbarland als nicht-einheimisch zu interpretieren. Politische Grenzen sind für Arten unbedeutend, und es ist, etwa bei großräumigen Landnutzungsänderungen oder bei Klimaänderungen, jederzeit damit zu rechnen, dass einzelne Arten ihr Areal neu in ein Nachbarland ausweiten. Von nicht-einheimischen Arten zu reden, ist daher erst gerechtfertigt, wenn eine wichtige biogeografische Grenze überschritten wurde. Dies trifft zweifellos auf eine nordamerikanische Art zu, die nach Europa verschleppt wird, und in der Regel stimmt es auch für eine mediterrane Art, die in Skandinavien erscheint. Es macht jedoch keinen Sinn, von einer nicht-einheimischen Arte zu reden, wenn diese sich von Holland nach Norddeutschland ausbreitet. Die Bezeichnung einer Art als nicht-einheimisch erfordert daher eindeutig eine große geografische Distanz, die hier (zumindest aus europäischer Sicht) meist mit außerkontinental gleichgesetzt wird.

Zusammen mit dem Überschreiten von natürlicherweise sonst unüberwindbaren Barrieren spielt die für das Zurücklegen des Weges benötigte sehr kurze Zeit eine wichtige Rolle. Das plötzliche Auftauchen einer bisher unbekannten Art aus einer anderen biogeografischen Region lässt keine evolutive Anpassung von einheimischen und nicht-einheimischen Arten zu. Sofern sich die nicht-einheimische Art in der neuen Umwelt etabliert, kann sich ihre Anwesenheit daher dramatisch auf die einheimischen Arten auswirken. Diese hatten sich ihrerseits über lange Zeiträume optimal an ihre Umgebung angepasst. Für eine Anpassung an die neu auftauchende und offensichtlich erfolgreichere nicht-einheimische Art fehlt aber nun die erforderliche Zeit, sodass einheimische Arten seltener werden oder sogar lokal verschwinden können.

Bei nicht-einheimischen Pflanzen spricht man von Neophyten, bei Tieren von Neozoen und bei Pilzen von Neomyceten. Der Oberbegriff für alle gebietsfremden Organismen lautet Neobioten. Arten, die vor 1492 eingeschleppt wurden, werden als Archaeophyten, Archaeozoen, Archaeomyceten und Archaeobioten bezeichnet.

Warum immer mehr nicht-einheimische Arten?

Die weltweit in den letzten Jahrhunderten gestiegene Mobilität und der globalisierte Handel führen immer häufiger zum Auftreten von nicht-einheimischen Arten (Abb. 2). Ein überwiegender Teil dieser Neobioten kann sich am neuen Standort nicht etablieren, sodass sie wieder aussterben. Häufig ist es auch so, dass wenige Individuen für längere Zeit an einem Ort überdauern, es aber kein erkennbares Populationswachstum gibt. Ein kleiner Anteil der nicht-einheimischen Arten verhält sich aber entgegengesetzt: Diese Arten vermehren sich stark, vergrößern ihr Areal und zeigen schnell negative Auswirkungen auf ihre Umwelt. Diese sogenannten invasiven Arten wirken sich nachteilig auf die einheimische Biodiversität aus, verursachen wirtschaftliche Schäden und/oder schädigen den Menschen gesundheitlich.


Abb. 2: Zunahme der neu nachgewiesenen, etablierten Arten nicht-einheimischer Pflanzen, Vögel, Amphibien und Reptilien pro Jahr, angegeben für Perioden von je 20 Jahren in Europa. Verändert nach Hulme et al. (2009 b).

Es ist eigentlich nicht erstaunlich, dass die meisten nicht-einheimischen Arten am neuen Standort nicht überleben können oder nicht als invasive Art in Erscheinung treten, das heißt, zahlen- und einflussmäßig unauffällig bleiben. Der Unterschied zwischen ursprünglichem Lebensraum, meist in einem anderen Kontinent, und dem neuen Gebiet ist oft groß. Außerdem erfolgt zumindest die unbeabsichtigte Verschleppung ohne Auswahlverfahren, also ohne «Eignungstest» für den neuen Lebensraum. Es sind daher viele Arten betroffen, für die der neue Lebensraum ungeeignet ist. Die Tatsache, dass einige eingeschleppten Arten nicht sofort invasiv werden, ist nur auf den ersten Blick beruhigend. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass viele dieser Arten nach einer gewissen Verzögerungsphase invasiv werden können. Offensichtlich passen sie sich während einiger Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte an die neuen Lebensbedingungen an. Im Invasionsprozess lassen sich daher verschiedene Phasen unterscheiden (Abb. 3).


Abb. 3: Bei einem Invasionsprozess lassen sich vier Phasen mit verschiedener Wachstumsgeschwindigkeit unterscheiden.

Phase 1. Einfuhr einer nicht-einheimischen Art. In der Regel handelt es sich nur um wenige Individuen, sodass diese nur eine geringe Vermehrungsrate haben. Ihre Nachkommen haben noch keinen Einfluss auf einheimische Arten, und von ihnen geht noch keine Bedrohung aus.

Phase 2. Etablierung und Anpassung an den neuen Lebensraum. Nach wie vor ist die Individuenzahl gering, genügt aber, um eine langsam zunehmende Populationsdichte zu gewährleisten. Der Einfluss auf einheimische Arten ist ebenfalls gering, wirtschaftliche Schäden sind unbedeutend. Diese Eingewöhnungsphase der nicht-einheimischen Art ist je nach Situation verschieden und in ihrer Dauer schwierig abzuschätzen. Nach einer Analyse in Norddeutschland kann man von durchschnittlich 170 Jahren für Baumarten, 131 Jahren für Sträucher, 68 Jahren für ausdauernde Stauden und 32 Jahren für ein- oder zweijährige Arten ausgehen (Kowarik 2003). Auffällig ist die große Streuung solcher Daten–es gibt Baumarten, die über 400 Jahre unauffällig sind, während andere in 29 Jahren invasiv wurden. Für die Tropen gehen wir heute generell von viel kürzeren Zeiträumen als für die gemäßigten Breiten aus. Für Tiere sind Prognosen noch schwieriger. Viele Säugetiere weisen in Europa keine nennenswerte Eingewöhnungsphase und somit Zeitverzögerung auf, sondern vermehren sich von Anfang an maximal. Daneben gibt es Arten wie die Kanadagans (Branta canadensis), die in England 300 Jahre eher unauffällig war und dann erst invasiv wurde, während sie in Schweden diese Phase innerhalb von 40 Jahren erreichte. Diese Eingewöhnungsphase bzw. Zeitverzögerung ist also weniger ein brauchbares Prognoseinstrument als eine generelle Warnung: Daraus, dass eine nicht-einheimische Art Jahrzehnte oder Jahrhunderte unauffällig und selten blieb, kann man nichts ableiten. Die Situation kann sich morgen ändern, und in einem anderen Lebensraum oder für eine andere Art kann ohnehin alles ganz anders sein.

Phase 3. Invasion. In einem immer größeren Gebiet findet ein starkes Populationswachstum statt, das zur Ausbreitung in immer neue, noch nicht besiedelte Gebiete führt. Diese Phase wird als biologische Invasion bezeichnet. Der Einfluss auf einheimische Arten erhöht sich und kann ein großes Ausmaß annehmen. Es treten vermehrt wirtschaftliche Schäden auf.

Phase 4. Sättigung. Alle geeigneten Lebensräume im neu besiedelten Areal sind besetzt, es ist keine weitere Expansion mehr möglich. Der Einfluss auf einheimische Arten ist in der Regel groß, Ökosysteme können stark verändert und wirtschaftliche Schäden gravierend sein. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine eingeschleppte Art sich etabliert? Und wie viele der etablierten Arten breiten sich bis hin zu invasionsartigem Wachstum aus? Antworten auf diese scheinbar einfachen Fragen sind schwierig. Zum einen werden viele eingeschleppte Arten, die sich nicht etablieren, nie entdeckt. Die Zahl der etablierten Arten ist daher immer eine Mindestzahl. Zum anderen kann bei einer etablierten Art nicht abgeschätzt werden, ob sie sich noch in der Eingewöhnungsphase befindet und zukünftig invasiv wird, oder ob das nicht der Fall sein wird. Eine solche Zahl wird daher ebenfalls immer eine Mindestannahme darstellen.

Früher wurde aufgrund der Analyse von invasiven Pflanzen von einer allgemeinen zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit des Übergangs von Phase 1 zu Phase 2 und anschließend zu Phase 3 gesprochen («Zehnerregel », Williamson 1996). Demnach würde nur etwa 1 % aller eingeschleppten Arten invasiv. Pflanzen weisen in der Tat eine sehr große Zahl von Einschleppungen auf, von denen bisher erst vergleichsweise wenige zur Etablierung und Invasion führten. Bei den meisten Tieren sieht das aber deutlich anders aus. Heute wissen wir, dass die «Zehnerregel» eine zu geringe Quote ergibt und dass die Etablierungs- bzw. Ausbreitungswahrscheinlichkeit für einzelne Organismengruppen und verschiedene Lebensräume sehr unterschiedlich sein kann. In Tabelle 1 sind die Bandbreiten angegeben, die sich aufgrund von verschiedenen Analysen ergeben haben. Solche Daten zeigen, dass für die meisten Tiergruppen mit Etablierungs- und Ausbreitungswahrscheinlichkeiten in der Größenordnung von etwa 50 % zu rechnen ist.


Tab. 1: Übersicht über die durchschnittliche Etablierungs- und Ausbreitungswahrscheinlichkeit (%) von nicht-einheimischen Arten. Nach Jeschke & Strayer (2005).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der anhaltende Import von nicht-einheimischen Arten dazu führt, dass immer mehr Arten in die Etablierungsphase gelangen. Zusammen mit der Unsicherheit über die Dauer dieser Eingewöhnungsphase und der relativ hohen Wahrscheinlichkeit, dass diese Arten die Ausbreitungs- und Invasionsphase erreichen, kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der invasiven Arten auch in Zukunft weiter zunehmen wird. Dies würde auch der Fall sein, wenn ab sofort keine neuen Arten eingeschleppt würden, da sich noch viele Arten innerhalb dieses Prozesses befinden.

Verschärfend kommt hinzu, dass sich in den nächsten Jahrzehnten die Umweltbedingungen für viele nicht-einheimische Arten zu ihren Gunsten verändern werden. Viele dieser Arten stammen aus wärmeren Regionen, und die fortschreitende Klimaerwärmung dürfte ihre Etablierungs- und Ausbreitungschancen erhöhen. Die Lufttemperatur stieg in Europa in den letzten 20 Jahren um 1 °C, die Wassertemperatur im Rhein bei Basel nahm in den vergangenen 55 Jahren sogar um 3 °C zu (Baur & Schmidlin 2007). Mit fortschreitender Klimaerwärmung werden sich also noch mehr Neobioten etablieren können.

Warum werden Arten invasiv?

Bei einem Vergleich der ökologischen Situation einer invasiven Art im Invasionsgebiet mit der in ihrem Ursprungsgebiet fällt oft auf, dass diese Art sich in beiden Arealen unterschiedlich verhält. Oftmals ist sie in ihrem Ursprungsgebiet wenig auffällig, manchmal sogar selten, erreicht eine geringere Körpergröße oder Nachkommenzahl und weist keine auffällige Auswirkung auf ihre Umwelt auf. Im Invasionsgebiet kann die gleiche Art häufig und groß sein. Warum verhält sich die gleiche Art in beiden Gebieten so verschieden? In einer großen Zahl von wissenschaftlichen Studien wurde versucht, durch detaillierte Analysen bestimmte Merkmale herauszufiltern, durch die sich invasive Arten auszeichnen.

Insgesamt waren die Ergebnisse solcher Studien meist wenig hilfreich. Merkmale erfolgreicher Neophyten sind beispielsweise eine große Samenzahl, effiziente Ausbreitungsmechanismen, rasches Wachstum und starke Konkurrenzkraft. Für Tiere sind in ähnlicher Weise eine hohe Nachkommenzahl und gute Ausbreitungsmöglichkeiten wichtig. Generell etablieren sich eher anspruchslose Arten, die zudem eine bestimmte Affinität zum Menschen aufweisen, leichter und werden dann auch häufiger invasiv. Dies trifft beispielsweise auf Nutz- und Gartenpflanzen zu, auf Nutz-, Jagd- und Heimtiere sowie auf alle sonst mit dem Menschen verbundenen Arten. Bestimmte Wachstums- oder Lebensstrategien, die durchschnittliche Populationsdichte, Körpergröße oder Lebensdauer, die Ernährungsweise oder bestimmte Verhaltenskomponenten haben hingegen kaum Bezug zur möglichen Invasionsfähigkeit einer Art.